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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 03 vom 04.02.1999, Seite 7

"Wir werden unsere Zukunft selbst gestalten"

Perspektiven afrikanischer Intellektueller

Obwohl sie häufig engagierter und politischer als in vielen Ländern des sog. entwickelten Westens ist, wird die Diskussion afrikanischer Intellektueller über die Zukunft ihrer Länder und ihres Kontinents hierzulande selten wahrgenommen. Die nachfolgenden Artikel von Karl Rössel und Birgit Morgenrath erschienen zuerst als Hörfunkbeitrag im SWR am 11.Dezember 1998. In dieser Sendung kamen in Originalton und deutscher Übersetzung fünf afrikanische Kulturschaffende zu Wort: der Schriftsteller Chinweizu und der Nobelpreisträger Wole Soyinka aus Nigeria, die Schri ftstellerin Ama Ata Aidoo aus Ghana, der Filmemacher Jean-Marie Teno aus Kamerun und der Schriftsteller Chenjerai Hove aus Zimbabwe.

Der Schriftsteller Chinweizu kommt aus Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas. Nigeria war englische Kolonie, verkauft heute sein Erdöl an die reichen Industrieländer und gehört zu den höchst verschuldeten Ländern des Kontinents. Der von den Industrieländern beherrschte Internationale Währungsfonds hat dem Land ein Wirtschaftsprogramm verordnet, das durch mehr Exporte und rigides Sparen die Krise beheben soll. Chinweizu: "500 Jahre Kolonialismus und der Sklavenhandel haben Afrika um zwei- bis dreitausend Jahre zurückgeworfen. Bis heute müssen sich die Afrikaner der wirtschaftlichen Ordnung unterwerfen, die die Europäer geschaffen haben. Und sie fürchten, daß sich Europa jetzt gegen alle anderen abschottet."
  Die Schriftstellerin Ama Ata Aidoo wurde in der ehemaligen englischen Kolonie Ghana geboren. Die "Goldküste" wurde 1957 als erstes afrikanisches Land unabhängig. Ama Ata Aidoo war mehrere Jahre lang Erziehungsministe rin ihres Landes. Ghana lebt vom Kakao- und Goldexport und ist hoch verschuldet. Der Internationale Währungsfonds hat dem Land wie Nigeria ein Strukturanpassungsprogramm verordnet.
  Ama Ata Aidoo: "Wir Afrikaner wurden kolonisiert. Wir hatten keine Wahl. Afrikaner sind eroberte Menschen. Nach der sog. politischen Unabhängigkeit haben wir nicht genug Anstrengungen unternommen, uns aus dem Würgegriff der westlichen Welt und Europas zu befreien. Obwohl man uns okkupiert hatte, begann uns der importierte Lebensstil zu gefallen. Er war zu verlockend, um ihn wieder aufzugeben. Und so haben wir die Abhängigkeit von unseren kolonialen Herrschern aufrechterhalten - was nicht so schlimm gewesen wäre, wenn es nicht fundamentale Auswirkungen auf die ökonomischen Beziehungen gehabt hätte. Konkret heißt das: Wir in Afrika produzieren Rohstoffe, zum Beispiel Kakao und Gold, aber die Käufer in den Industrienationen entscheiden über die Preise. Das sind gefährliche Abhängigkeitsverhältnisse."
  Der Filmemacher Jean-Marie Teno kommt aus Kamerun, dessen Industrie zu 70 Prozent in der Hand ausländischer Unternehmen ist. Ebenso wie Nigeria und Ghana hat der Internationale Währungsfonds dem Land ein striktes Strukturanpassungsprogramm aufgebürdet.
  Jean-Marie Teno: "Es gibt ja Leute oder auch Staaten, die behaupten, sie gäben viel Geld aus, um Kamerun und anderen afrikanischen Ländern zu helfen. Aber diese angebliche ‚Hilfe‘ kommt oft sehr gezielt bestimmten Wirtschaftssektoren zugute, die vollständig in der Hand ausländischer Geschäftsleute sind. Das bedeutet, daß dieses Geld aus Afrika auf direktem Weg nach Europa zurückfließt. Und dann sollen wir auch noch Schulden und Zinsen für diese Gelder zahlen, die nur eingesetzt wurden, um den ausländischen Unternehmen die Ausbeutung unseres Landes zu ermöglichen. Das ist wirklich lächerlich. Das ist nichts anderes als der Versuch, einen ganzen Kontinent über Generationen auszuhungern. Es hat mal jemand gesagt: wir sollten eine große Mauer zwischen Europa und Afrika bauen und dann ausprobieren, wie wir alleine zurechtkommen."
  Der Schriftsteller Chenjerai Hove beklagt die Zustände in seinem Heimatland Zimbabwe. Sinkende Exporte ab Mitte der 80er Jahre und eine selbstverschuldete Inflation trieben das Land in die Verschuldungsfalle. Und wieder heißt das Allheilmittel des Internationalen Währungsfonds: Strukturanpassung.
  Chenjerai Hove: "Die wirtschaftliche Lage in meinem Land wird immer schwieriger, weil sich die Wirtschaft dem Diktat der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds unterwerfen muß. Als Folge davon werden die Armen immer ärmer. Jetzt hat es auch bei uns erste Food-Riots gegeben, Hungeraufstände, weil der Preis des Brotes drastisch gestiegen ist. Und zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit Zimbabwes im Jahre 1980 wurde die Armee gegen die Aufständischen eingesetzt. Acht Menschen wurden getötet."
  In Afrika hat sich in den letzten Jahren die wirtschaftliche und soziale Lage weiter zugespitzt. Zwei Ökonomen und Mitarbeiter der Afrika-Abteilung der Weltbank, M‘Hamed Chérif und Ismail Seregeldin, schreiben in ihrer Analyse Afrika im Jahre 2000 Anfang der 90er Jahre denn auch, daß es den Ländern Schwarzafrikas schlecht gehe. Selbst in Bereichen, in denen seit der Unabhängigkeit spürbare Fortschritte erzielt wurden, wie im Gesundheitswesen und in der Ausbildung, sei wieder ein Abwärtstrend zu verzeichnen. So betrage die durchschnittliche Lebenserwartung in fünf afrikanischen Ländern weniger als 43 Jahre, und mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung Afrikas hungere. Menschen in Afrika müssen mit weniger als 80 Prozent des von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen täglichen Kalorienbedarfs leben.
  Seit 1961 ist das Wirtschaftswachstum der afrikanischen Länder nicht viel höher gewesen als die Wachstumsrate der Bevölkerung. "Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug 1990 weniger als dreihundert Dollar im Jahr, was ungefähr einem Drittel eines knapp existenzsichernden Monatslohns in Frankreich entspricht."1 Das Bruttoinlandsprodukt ganz Afrikas dagegen entspricht demjenigen Belgiens. "Die bescheidene Wirtschaftsentwicklung der letzten dreißig Jahre wurde von einer zunehmenden Verschuldung begleitet, die seit 1970 um das Neunzehnfache angestiegen ist … Eine direkte Folge der verschlechterten Wettbewerbsfähigkeit der afrikanischen Wirtschaft ist die Tatsache, daß seit 1973 das Exportvolumen stagniert oder sogar abnimmt."1
  Nach dieser Analyse sei der Rückgang bei Produktion und Ausfuhr von Rohstoffen besonders markant. Es müsse möglichst schnell etwas unternommen werden, um die zunehmende Verarmung der Bevölkerung zu bremsen.
 
  Nur wer seine Geschichte kennt, kann seine Zukunft gestalten
  Armut, Unterernährung, kaum Teilnahme am internationalen Wirtschaftsgeschehen - hinter diesen trockenen Fakten verbergen sich die dramatischen Lebensumstände von 450 Millionen Menschen. Die Ursachen, so erklären afrikanische Intellektuelle immer wieder, liegen in der historischen Benachteiligung. "Nur wer seine Geschichte kennt, kann seine Zukunft gestalten", heißt ein afrikanisches Sprichwort, und die Geschichte Afrikas bestand aus Jahrhunderten der europäischen Kolonialisierung und millionenfachem Sklavenhandel.
  Tatsächlich scheint der Weg Afrikas zur Selbstbestimmung länger und schmerzhafter als anderswo. Wenn sich heute Europäer über die Bürgerkriege etwa in der Republik Kongo, im Sudan oder in Rwanda entsetzen - blenden sie aus, daß diese Auseinandersetzungen auch mit den willkürlichen Grenzziehungen durch die europäischen Kolonialmächte aus dem letzten Jahrhundert zu tun haben. Oder mit ethnischen Konflikten, deren Grundlage die Kolonisatoren geschaffen haben, indem sie zum Beispiel bestimmte Volksgruppen für die Verwaltungsarbeit oder Polizei und Armee bevorzugt einsetzten und andere gezielt vernachlässigten.
  Bis in die jüngste Vergangenheit kämpften Afrikaner auch noch für ihre politische Befreiung - die in Namibia erst 1990 gelang und in der Westsahara bis heute nicht erreicht ist. Aber auch in den Ländern, die sich, wie es der kenyanische Schriftsteller Ngugi wa Thiong‘o ironisch ausdrückt, das Recht erkämpften, "eine eigene Nationalflagge zu hissen und ihre eigene Nationalhymne zu singen", kann von einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unabhängigkeit bislang kaum die Rede sein.
  Ngugi wa Thiong‘o hat die Entfremdung und Deformierung der nachkolonialen Gesellschaft in Kenya selbst erlebt. Als einer der ersten Autoren, die gesellschaftskritische Theaterstücke und Romane in ihrer Landessprache publizierten und die Einflüsse der Kolonialsprache Englisch scharf kritisierten, wurde er in Kenya erst ins Gefängnis geworfen und später ins Exil getrieben.
  In seinen "Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen" unterteilt der 50jährige Ngugi wa Thiong‘o die jüngere Geschichte Afrikas, also die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in drei Etappen, in die Zeitalter des antikolonialen Kampfes, der Unabhängigkeit und des Neokolonialismus: "Zuerst waren da die 50er Jahre, das Jahrzehnt, in dem sich die antikolonialen Kämpfe der Menschen Afrikas zur Erlangung der vollständigen Unabhängigkeit auf dem Höhepunkt befanden … Es war ein Jahrzehnt der Hoffnung, wobei die Menschen sich auf ein strahlendes Morgen in einem neuen Afrika freuten, das endlich vom Kolonialismus befreit sein würde … Ende der 60er Jahre stellten nur noch wenige auf der Landkarte verbliebene Schmutzflecken die alten Kolonien dar."2
  Die Unabhängigkeit allein, so Ngugi wa Thiong‘o weiter, brachte für die Mehrheit der Menschen in den neuen Staaten Afrikas allerdings keine grundlegenden Veränderungen, weil die neuen afrikanischen Eliten sich kaum von den alten Herrschern unterschieden. Diese Korrumpierbarkeit der neuen Klasse hatte schon Ende der 50er Jahre ein afrikanischer Theoretiker beschrieben, auf den sich Ngugi wa Thiong‘o, wie viele andere afrikanische Denker, immer wieder bezieht: Frantz Fanon.
 
  Der Weiße will die Welt
  In seinem Buch Les Damnées de la Terre, in deutscher Übersetzung Die Verdammten dieser Erde, faßte Fanon den Charakter dieses sich entwickelnden Phänomens prophetisch zusammen. Danach war die Klasse, die nach der Unabhängigkeit die Macht übernahm, eine unterentwickelte Mittelklasse, die nicht daran interessiert war, die nationale Wirtschaft auf eine neue Grundlage zu stellen, sondern daran, zum Vermittler zwischen den Interessen des Westens und den Menschen zu werden sowie zum ansehnlich bezahlten Vertreter der Geschäftsinteressen der westlichen Bourgeoisie.
  Im Original heißt es: "Vor der Unabhängigkeit verkörperte der Führer allgemein die Bestrebungen des Volkes: Unabhängigkeit, politische Freiheiten, nationale Würde. Nach erreichter Unabhängigkeit aber wird der Führer, weit davon entfernt, die Bedürfnisse des Volkes konkret zu verkörpern … seine eigentliche Funktion offenbaren: der Generaldirektor einer Gesellschaft profitgieriger Nutznießer zu sein, wie die nationale Bourgeoisie sie darstellt."3
  Dabei handelt es sich um eine häufig in den kolonialen "Mutterländern" ausgebildeten Bourgeoisie, zu der auch Fanon selbst gehört hatte. 1924 auf Martinique geboren, hatte er in Frankreich Medizin studiert, bevor er Anfang der 50er Jahre als Arzt der französischen Kolonialmacht nach Algerien ging. Wenig später aber, während des Algerienkriegs, in dem die Franzosen ein Sechstel der algerischen Bevölkerung niedermetzelten, wechselte Fanon die Seiten. Er schloß sich der Befreiungsfront FLN an, die 1962 die Unabhängigkeit des Landes erkämpfte.
  Schon Anfang der 50er Jahre war Fanons erstes Buch erschienen. Den Essay mit dem Titel Schwarze Haut, weiße Masken bezeichnete er selbst als eine "klinische Studie". Darin analysierte Fanon die psychologischen Spuren und Verletzungen, die die alltägliche Diskriminierung bei den Menschen dunkler Hautfarbe hinterläßt. Nach Fanon habe die weiße Zivilisation, die europäische Kultur dem Schwarzen eine "existenzielle Verkrümmung" aufgezwungen. Die erste Reaktion des Schwarzen bestehe darin, nein zu sagen zu denen, die ihn definieren wollen. Gegenüber den Weißen hätten Schwarze eine Vergangenheit, die es aufzuwerten, eine Revanche, die es zu nehmen gilt. Das Unglück und die Unmenschlichkeit des Weißen bestehen darin, daß er getötet habe und noch heute diese Entmenschlichung rationell organisiere. "Der Weiße will die Welt; er will sie für sich allein. Er entdeckt sich als der prädestinierte Herr dieser Welt." Laut Fanon aber gibt es keine weiße Welt, keine weiße Ethik und auch keine weiße Intelligenz. Die wirkliche Beseitigung der Entfremdung des Schwarzen bedeutet für Fanon eine jähe Bewußtwerdung der ökonomischen und sozialen Wirklichkeit.
  Die Politisierung des Arztes und Psychologen Frantz Fanon fand ihren Ausdruck 1961 in seinem berühmten Buch Die Verdammten dieser Erde. Es machte ihn zu einem der wichtigsten Theoretiker Afrikas, dessen Werk, wie Ngugi wa Thiong‘o schreibt, "zu einer Art Bibel unter den afrikanischen Studenten aus West- und Ostafrika" wurde. Fanon plädierte für einen radikalen Bruch mit den ehemaligen europäischen Kolonialherren, weil nur so eine selbstbestimmte gesellschaftliche Entwicklung in Afrika möglich sei:
  "Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht. Ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ‚geistigen Abenteuers‘ fast die gesamte Menschheit erstickt. Mit Energie, Zynismus und Gewalt hat Europa die Führung der Welt übernommen. Nur beim Menschen hat es sich knausrig gezeigt, nur beim Menschen schäbig, raubgierig, mörderisch. Dieses Europa, das niemals aufgehört hat, vom Menschen zu reden, niemals aufgehört hat, zu verkünden, es sei nur um den Menschen besorgt: Wir wissen heute, mit welchen Leiden die Menschheit jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt hat. Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind. Die Menschheit erwartet etwas anderes als diese fratzenhafte und obszöne Nachahmung."