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Der Schriftsteller Chinweizu kommt aus Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas.
Nigeria war englische Kolonie, verkauft heute sein Erdöl an die reichen Industrieländer und gehört zu den
höchst verschuldeten Ländern des Kontinents. Der von den Industrieländern beherrschte Internationale
Währungsfonds hat dem Land ein Wirtschaftsprogramm verordnet, das durch mehr Exporte und rigides Sparen die
Krise beheben soll. Chinweizu: "500 Jahre Kolonialismus und der Sklavenhandel haben Afrika um zwei- bis dreitausend
Jahre zurückgeworfen. Bis heute müssen sich die Afrikaner der wirtschaftlichen Ordnung unterwerfen, die die
Europäer geschaffen haben. Und sie fürchten, daß sich Europa jetzt gegen alle anderen
abschottet."
Die Schriftstellerin Ama Ata Aidoo wurde in der ehemaligen englischen Kolonie Ghana geboren. Die
"Goldküste" wurde 1957 als erstes afrikanisches Land unabhängig. Ama Ata Aidoo war mehrere Jahre
lang Erziehungsministe rin ihres Landes. Ghana lebt vom Kakao- und Goldexport und ist hoch verschuldet. Der Internationale
Währungsfonds hat dem Land wie Nigeria ein Strukturanpassungsprogramm verordnet.
Ama Ata Aidoo: "Wir Afrikaner wurden kolonisiert. Wir hatten keine Wahl. Afrikaner sind eroberte Menschen. Nach der
sog. politischen Unabhängigkeit haben wir nicht genug Anstrengungen unternommen, uns aus dem Würgegriff
der westlichen Welt und Europas zu befreien. Obwohl man uns okkupiert hatte, begann uns der importierte Lebensstil zu
gefallen. Er war zu verlockend, um ihn wieder aufzugeben. Und so haben wir die Abhängigkeit von unseren kolonialen
Herrschern aufrechterhalten - was nicht so schlimm gewesen wäre, wenn es nicht fundamentale Auswirkungen auf die
ökonomischen Beziehungen gehabt hätte. Konkret heißt das: Wir in Afrika produzieren Rohstoffe, zum
Beispiel Kakao und Gold, aber die Käufer in den Industrienationen entscheiden über die Preise. Das sind
gefährliche Abhängigkeitsverhältnisse."
Der Filmemacher Jean-Marie Teno kommt aus Kamerun, dessen Industrie zu 70 Prozent in der Hand ausländischer
Unternehmen ist. Ebenso wie Nigeria und Ghana hat der Internationale Währungsfonds dem Land ein striktes
Strukturanpassungsprogramm aufgebürdet.
Jean-Marie Teno: "Es gibt ja Leute oder auch Staaten, die behaupten, sie gäben viel Geld aus, um Kamerun und
anderen afrikanischen Ländern zu helfen. Aber diese angebliche ‚Hilfe kommt oft sehr gezielt bestimmten
Wirtschaftssektoren zugute, die vollständig in der Hand ausländischer Geschäftsleute sind. Das bedeutet,
daß dieses Geld aus Afrika auf direktem Weg nach Europa zurückfließt. Und dann sollen wir auch noch
Schulden und Zinsen für diese Gelder zahlen, die nur eingesetzt wurden, um den ausländischen Unternehmen die
Ausbeutung unseres Landes zu ermöglichen. Das ist wirklich lächerlich. Das ist nichts anderes als der Versuch,
einen ganzen Kontinent über Generationen auszuhungern. Es hat mal jemand gesagt: wir sollten eine große Mauer
zwischen Europa und Afrika bauen und dann ausprobieren, wie wir alleine zurechtkommen."
Der Schriftsteller Chenjerai Hove beklagt die Zustände in seinem Heimatland Zimbabwe. Sinkende Exporte ab Mitte der
80er Jahre und eine selbstverschuldete Inflation trieben das Land in die Verschuldungsfalle. Und wieder heißt das
Allheilmittel des Internationalen Währungsfonds: Strukturanpassung.
Chenjerai Hove: "Die wirtschaftliche Lage in meinem Land wird immer schwieriger, weil sich die Wirtschaft dem Diktat
der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds unterwerfen muß. Als Folge davon werden die Armen
immer ärmer. Jetzt hat es auch bei uns erste Food-Riots gegeben, Hungeraufstände, weil der Preis des Brotes
drastisch gestiegen ist. Und zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit Zimbabwes im Jahre 1980 wurde die Armee gegen
die Aufständischen eingesetzt. Acht Menschen wurden getötet."
In Afrika hat sich in den letzten Jahren die wirtschaftliche und soziale Lage weiter zugespitzt. Zwei Ökonomen und
Mitarbeiter der Afrika-Abteilung der Weltbank, MHamed Chérif und Ismail Seregeldin, schreiben in ihrer Analyse
Afrika im Jahre 2000 Anfang der 90er Jahre denn auch, daß es den Ländern Schwarzafrikas schlecht gehe. Selbst in
Bereichen, in denen seit der Unabhängigkeit spürbare Fortschritte erzielt wurden, wie im Gesundheitswesen und in
der Ausbildung, sei wieder ein Abwärtstrend zu verzeichnen. So betrage die durchschnittliche Lebenserwartung in
fünf afrikanischen Ländern weniger als 43 Jahre, und mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung Afrikas
hungere. Menschen in Afrika müssen mit weniger als 80 Prozent des von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen
täglichen Kalorienbedarfs leben.
Seit 1961 ist das Wirtschaftswachstum der afrikanischen Länder nicht viel höher gewesen als die Wachstumsrate
der Bevölkerung. "Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug 1990 weniger als dreihundert Dollar im Jahr,
was ungefähr einem Drittel eines knapp existenzsichernden Monatslohns in Frankreich entspricht."1 Das
Bruttoinlandsprodukt ganz Afrikas dagegen entspricht demjenigen Belgiens. "Die bescheidene Wirtschaftsentwicklung
der letzten dreißig Jahre wurde von einer zunehmenden Verschuldung begleitet, die seit 1970 um das Neunzehnfache
angestiegen ist … Eine direkte Folge der verschlechterten Wettbewerbsfähigkeit der afrikanischen Wirtschaft ist die
Tatsache, daß seit 1973 das Exportvolumen stagniert oder sogar abnimmt."1
Nach dieser Analyse sei der Rückgang bei Produktion und Ausfuhr von Rohstoffen besonders markant. Es müsse
möglichst schnell etwas unternommen werden, um die zunehmende Verarmung der Bevölkerung zu
bremsen.
Nur wer seine Geschichte kennt, kann seine Zukunft gestalten
Armut, Unterernährung, kaum Teilnahme am internationalen Wirtschaftsgeschehen - hinter diesen trockenen Fakten
verbergen sich die dramatischen Lebensumstände von 450 Millionen Menschen. Die Ursachen, so erklären
afrikanische Intellektuelle immer wieder, liegen in der historischen Benachteiligung. "Nur wer seine Geschichte kennt,
kann seine Zukunft gestalten", heißt ein afrikanisches Sprichwort, und die Geschichte Afrikas bestand aus
Jahrhunderten der europäischen Kolonialisierung und millionenfachem Sklavenhandel.
Tatsächlich scheint der Weg Afrikas zur Selbstbestimmung länger und schmerzhafter als anderswo. Wenn sich
heute Europäer über die Bürgerkriege etwa in der Republik Kongo, im Sudan oder in Rwanda entsetzen -
blenden sie aus, daß diese Auseinandersetzungen auch mit den willkürlichen Grenzziehungen durch die
europäischen Kolonialmächte aus dem letzten Jahrhundert zu tun haben. Oder mit ethnischen Konflikten, deren
Grundlage die Kolonisatoren geschaffen haben, indem sie zum Beispiel bestimmte Volksgruppen für die
Verwaltungsarbeit oder Polizei und Armee bevorzugt einsetzten und andere gezielt vernachlässigten.
Bis in die jüngste Vergangenheit kämpften Afrikaner auch noch für ihre politische Befreiung - die in
Namibia erst 1990 gelang und in der Westsahara bis heute nicht erreicht ist. Aber auch in den Ländern, die sich, wie es
der kenyanische Schriftsteller Ngugi wa Thiongo ironisch ausdrückt, das Recht erkämpften, "eine
eigene Nationalflagge zu hissen und ihre eigene Nationalhymne zu singen", kann von einer politischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Unabhängigkeit bislang kaum die Rede sein.
Ngugi wa Thiongo hat die Entfremdung und Deformierung der nachkolonialen Gesellschaft in Kenya selbst erlebt. Als
einer der ersten Autoren, die gesellschaftskritische Theaterstücke und Romane in ihrer Landessprache publizierten und
die Einflüsse der Kolonialsprache Englisch scharf kritisierten, wurde er in Kenya erst ins Gefängnis geworfen und
später ins Exil getrieben.
In seinen "Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen" unterteilt der 50jährige Ngugi wa
Thiongo die jüngere Geschichte Afrikas, also die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in drei Etappen, in die
Zeitalter des antikolonialen Kampfes, der Unabhängigkeit und des Neokolonialismus: "Zuerst waren da die 50er
Jahre, das Jahrzehnt, in dem sich die antikolonialen Kämpfe der Menschen Afrikas zur Erlangung der
vollständigen Unabhängigkeit auf dem Höhepunkt befanden … Es war ein Jahrzehnt der Hoffnung, wobei
die Menschen sich auf ein strahlendes Morgen in einem neuen Afrika freuten, das endlich vom Kolonialismus befreit sein
würde … Ende der 60er Jahre stellten nur noch wenige auf der Landkarte verbliebene Schmutzflecken die alten Kolonien
dar."2
Die Unabhängigkeit allein, so Ngugi wa Thiongo weiter, brachte für die Mehrheit der Menschen in den
neuen Staaten Afrikas allerdings keine grundlegenden Veränderungen, weil die neuen afrikanischen Eliten sich kaum von
den alten Herrschern unterschieden. Diese Korrumpierbarkeit der neuen Klasse hatte schon Ende der 50er Jahre ein
afrikanischer Theoretiker beschrieben, auf den sich Ngugi wa Thiongo, wie viele andere afrikanische Denker, immer
wieder bezieht: Frantz Fanon.
Der Weiße will die Welt
In seinem Buch Les Damnées de la Terre, in deutscher Übersetzung Die Verdammten dieser Erde, faßte Fanon den
Charakter dieses sich entwickelnden Phänomens prophetisch zusammen. Danach war die Klasse, die nach der
Unabhängigkeit die Macht übernahm, eine unterentwickelte Mittelklasse, die nicht daran interessiert war, die
nationale Wirtschaft auf eine neue Grundlage zu stellen, sondern daran, zum Vermittler zwischen den Interessen des Westens
und den Menschen zu werden sowie zum ansehnlich bezahlten Vertreter der Geschäftsinteressen der westlichen
Bourgeoisie.
Im Original heißt es: "Vor der Unabhängigkeit verkörperte der Führer allgemein die
Bestrebungen des Volkes: Unabhängigkeit, politische Freiheiten, nationale Würde. Nach erreichter
Unabhängigkeit aber wird der Führer, weit davon entfernt, die Bedürfnisse des Volkes konkret zu
verkörpern … seine eigentliche Funktion offenbaren: der Generaldirektor einer Gesellschaft profitgieriger
Nutznießer zu sein, wie die nationale Bourgeoisie sie darstellt."3
Dabei handelt es sich um eine häufig in den kolonialen "Mutterländern" ausgebildeten Bourgeoisie, zu
der auch Fanon selbst gehört hatte. 1924 auf Martinique geboren, hatte er in Frankreich Medizin studiert, bevor er
Anfang der 50er Jahre als Arzt der französischen Kolonialmacht nach Algerien ging. Wenig später aber,
während des Algerienkriegs, in dem die Franzosen ein Sechstel der algerischen Bevölkerung niedermetzelten,
wechselte Fanon die Seiten. Er schloß sich der Befreiungsfront FLN an, die 1962 die Unabhängigkeit des Landes
erkämpfte.
Schon Anfang der 50er Jahre war Fanons erstes Buch erschienen. Den Essay mit dem Titel Schwarze Haut, weiße
Masken bezeichnete er selbst als eine "klinische Studie". Darin analysierte Fanon die psychologischen Spuren und
Verletzungen, die die alltägliche Diskriminierung bei den Menschen dunkler Hautfarbe hinterläßt. Nach
Fanon habe die weiße Zivilisation, die europäische Kultur dem Schwarzen eine "existenzielle
Verkrümmung" aufgezwungen. Die erste Reaktion des Schwarzen bestehe darin, nein zu sagen zu denen, die ihn
definieren wollen. Gegenüber den Weißen hätten Schwarze eine Vergangenheit, die es aufzuwerten, eine
Revanche, die es zu nehmen gilt. Das Unglück und die Unmenschlichkeit des Weißen bestehen darin, daß er
getötet habe und noch heute diese Entmenschlichung rationell organisiere. "Der Weiße will die Welt; er will
sie für sich allein. Er entdeckt sich als der prädestinierte Herr dieser Welt." Laut Fanon aber gibt es keine
weiße Welt, keine weiße Ethik und auch keine weiße Intelligenz. Die wirkliche Beseitigung der Entfremdung
des Schwarzen bedeutet für Fanon eine jähe Bewußtwerdung der ökonomischen und sozialen
Wirklichkeit.
Die Politisierung des Arztes und Psychologen Frantz Fanon fand ihren Ausdruck 1961 in seinem berühmten Buch Die
Verdammten dieser Erde. Es machte ihn zu einem der wichtigsten Theoretiker Afrikas, dessen Werk, wie Ngugi wa
Thiongo schreibt, "zu einer Art Bibel unter den afrikanischen Studenten aus West- und Ostafrika" wurde.
Fanon plädierte für einen radikalen Bruch mit den ehemaligen europäischen Kolonialherren, weil nur so eine
selbstbestimmte gesellschaftliche Entwicklung in Afrika möglich sei:
"Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn
trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den
Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht. Ganze
Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ‚geistigen Abenteuers fast die gesamte Menschheit erstickt. Mit
Energie, Zynismus und Gewalt hat Europa die Führung der Welt übernommen. Nur beim Menschen hat es sich
knausrig gezeigt, nur beim Menschen schäbig, raubgierig, mörderisch. Dieses Europa, das niemals aufgehört
hat, vom Menschen zu reden, niemals aufgehört hat, zu verkünden, es sei nur um den Menschen besorgt: Wir
wissen heute, mit welchen Leiden die Menschheit jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt hat. Also, meine
Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die
von ihm inspiriert sind. Die Menschheit erwartet etwas anderes als diese fratzenhafte und obszöne
Nachahmung."