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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 18.02.1999, Seite 5

Gesundheitspolitik

Marktwirtschaft statt Prävention

Übergewicht ist eine Massenerkrankung in der entwickelten Industriegesellschaft. Schon früher hat es Versuche gegeben, dem Problem chirurgisch beizukommen. Sie waren aber sämtlich für die PatientInnen sehr riskant. Seit einigen Jahren erlebt nun eine Methode ihre Renaissance, die durch die Entwicklung der minimal-invasiven Chirurgie, bei der per Bauchspiegelung mittels Videokamera operiert und damit der sonst nötige große Bauchschnitt vermieden wird, etwas risikoärmer geworden ist: das sog. gastric banding. Dabei wird ein kleiner Teil des Magens mit einem Plastikband abgeschnürt, so daß beim Essen frühzeitig ein Völlegefühl auftritt und damit die Nahrungsaufnahme vermindert wird.
  Nun ist Übergewicht, das weiß auch der medizinische Laie, ja eigentlich keine Magenerkrankung. Das stört allerdings die Chirurgen, die diesen Eingriff propagieren, wenig. Sie verweisen auf das Ergebnis der Methode: Die PatientInnen nehmen rasch ab. Daß es dabei gelegentlich zu unschönen Nebenerscheinungen bis hin zu Todesfällen kommt, wird als Restrisiko abgebucht. Eine solche Behandlung nennt man in der Fachsprache gemeinhin symptomatisch, da sie die Erkrankung nicht ursächlich (kausal) angeht, sondern lediglich die Symptome beseitigt.
  Die Politik der neuen Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) mutet den Betrachter in weiten Teilen so an wie das Vorgehen der Chirurgen bei der Behandlung des Übergewichts: da die eigentlichen Ursachen der Misere des deutschen Gesundheitswesens nicht angepackt werden sollen, greift sie zu symptomatischen Maßnahmen.
  Budgetierung
  Die erste Maßnahme, zu der bereits Fischers Vorgänger Seehofer griff, und die jetzt im sog. Vorschaltgesetz erneut auftaucht, ist die Ausgabenbegrenzung, vornehm Budgetierung genannt. Diese führt nicht zu einem rationaleren Mitteleinsatz, sondern, wie z.B. eine im vergangenen Jahr erstellte Studie der Forschungsgemeinschaft Ethik der Gesundheitsversorgung an der Universität Bielefeld zeigt, zu einer Rationierung von Gesundheitsleistungen für diejenigen PatientInnen, die sich nicht zusätzlich absichern (können).
  Die Krise der Krankheitsbehandlungssysteme ist nicht, wie die bürgerlichen Ökonomen behaupten, in erster Linie ein Problem der Finanzierung oder gar der mangelnden Marktwirtschaft in diesem Sektor. Ursächlich ist vielmehr einerseits die falsche Schwerpunktsetzung auf die Diagnostik und Behandlung bereits bestehender Erkrankungen statt auf Gesundheitsförderung und Prävention und andererseits die auf Gewinnmaximierung ausgelegte privatwirtschaftliche Struktur des medizinisch-industriellen Komplexes. Das kann bei unvoreingenommener Betrachtung kaum bestritten werden. Hierfür nur zwei Beispiele:
  Eine in Schweden durchgeführte Aufklärungskampagne bei Kindern zur Zahngesundheit konnte die Karieshäufigkeit innerhalb weniger Jahre um 30 Prozent senken. (Um wieviel sie hätte gesenkt werden können, wenn gleichzeitig die Werbung für Süßigkeiten verboten worden wäre, kann man nur mutmaßen.)
  In dem Industrieland, in dem das Gesundheitswesen am weitestgehenden marktwirtschaftlich verfaßt ist, in den USA, machen die Ausgaben für diesen Sektor den mit Abstand größten Anteil am Bruttosozialprodukt von allen westlichen Industriestaaten aus - wobei die Unterversorgung der Menschen des unteren Drittels der Einkommenspyramide offen zugegeben wird.
  Die Gesundheitspolitik der Regierung muß vor allem an den folgenden beiden Grundfragen gemessen werden: Wie gedenkt sie eine rasche und durchgreifende Umsteuerung in Richtung auf einen Vorrang für Gesundheitsförderung und Prävention zu beginnen und wie hält sie es mit der unter Seehofer eingeleiteten schleichenden marktwirtschaftlichen Zurichtung des Systems?
  Vorschaltgesetz
  Nun hat die neue Regierung sowohl in ihrer Koalitionsvereinbarung als auch in der Vorankündigung der Gesundheitsreform 2000 im bereits verabschiedeten Vorschaltgesetz zwar vollmundig die Stärkung der Prävention und des Solidarprinzips verkündet, aber bisher ist davon nichts zu sehen. Die von Seehofer aus dem Leistungskatalog der Kassen gestrichene Krankheitsprävention wurde auch im Vorschaltgesetz nicht wieder eingeführt. Das einzig Positive, was sich über dieses Gesetz sagen läßt, ist, daß es gegenüber Seehofer keine wesentlichen Verschlechterungen gebracht hat. Allerdings ist es insgesamt nichts anderes als eine Fortschreibung der Seehoferschen Gesetze, garniert mit der Einlösung einiger Wahlversprechen wie Rücknahme von Zuzahlungen. Dafür allerdings wird den Versicherten im nächsten Jahr höchstwahrscheinlich die Rechnung präsentiert, denn die Finanzierung steht auf sehr wackligen Füßen.
  Die geplante Gesundheitsreform 2000 enthält als einen zentralen Punkt die monistische Krankenhausfinanzierung, die - so diskutierten es die Arbeitsgruppen Gesundheit der Koalitionsfraktionen in ihrer Klausurtagung vom 12. und 13.Januar - über einen Zeitraum von zehn Jahren schrittweise eingeführt werden soll.
  Dieses zunächst harmlos klingende Wort birgt einiges an Brisanz : Bisher war die Finanzierung der Krankenhäuser insofern gesplittet, als der Staat über Steuermittel die Kosten für bestimmte bauliche und technische Investitionen übernahm, während die Krankenkassen über die Pflegesätze bzw. Fallpauschalen die laufenden Kosten bezahlten. Darin liegt eine nicht zu unterschätzende Steuerungsmöglichkeit für Bundes- und Landesregierungen.
  Statt dessen soll demnächst die gesamte Finanzierung über die Krankenkassen abgewickelt werden. Damit gibt die Regierung wieder einen Teil ihrer Steuerungskompetenz an die Kassen ab, die ihrerseits seit Seehofers Reform immer stärker marktwirtschaftlich ausgerichtet wurden.
  Folgerichtig war auf der genannten Tagung auch die Änderung der Krankenhausbedarfsplanung durch Einbeziehung der Krankenkassen Thema. In welche Richtung es gehen könnte, wenn sich die harten Marktwirtschaftler durchsetzen, sagte ein hoher Funktionsträger im katholischen Krankenhaussektor (früher war er Manager in der fleischverarbeitenden Industrie) neulich bei einer Podiumsdiskussion mit dem Verfasser des vorliegenden Beitrags in dankenswerter Deutlichkeit: Man solle alle Beschränkungen abschaffen; das Gesundheitswesen sei letztlich ein Sektor, der die Ware Gesundheit produziere; im freien Spiel der Marktkräfte werde sich die Qualität schon herausmendeln, und wer sie nicht bezahlen könne, sei selber schuld.
  Selbst der Herr Möllemann von der FDP hat da moderatere Vorstellungen. Ihm schwebt eine allgemeine Grundsicherung über die gesetzlichen Kassen vor, alles weitere hätte jeder selbst zu bezahlen oder sich entsprechend privat zu versichern.
  Kausale Therapie
  Frau Gesundheitsministerin Fischer denkt in der Zwischenzeit immer mal wieder laut nach. Dabei wurde klar, was sie unter der Stärkung der Patientenrechte und des Patientenschutzes versteht, die ebenfalls für die Reform im nächsten Jahr in Aussicht gestellt wurden. In einem Interview äußerte sie, man müsse den Verbraucherschutz im Gesundheitssektor stärken.
  Nur einige Tage später war dann von ihr zu hören, die Stellung der Hausärzte solle gestärkt werden - auch ein Vorhaben der geplanten Reform - und sie denke über eine Art Gate-keeper-Modell nach. Das ist ein Verfahren, bei dem sich die Patienten verpflichten, zunächst einen Hausarzt aufzusuchen, der dann entscheidet, ob eine Überweisung zum Facharzt notwendig ist. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, wird wahrscheinlich nur Frau Fischer selbst wissen.
  Die Budgetierung schließlich wird, wenn den Ankündigungen der Regierung Taten folgen, eher noch verschärft, indem statt der bisherigen sektoralen Budgets ein Globalbudget vorgegeben wird. Einzelheiten wurden bislang noch nicht zwischen den Fraktionen besprochen.
  Bei allen diesen Plänen beteuert die Regierung, sie werde ihre Reform erst nach intensiver Diskussion mit den Beteiligten endgültig formulieren. Dabei handelt es sich nach gängigem Muster um die üblichen Verdächtigen, nämlich die Vertreter der Ärzte, der Krankenkassen, der Pharma- und Geräteindustrie, also der Gruppen und Institutionen, die an dem bisherigen System einer diagnostik- und therapiezentrierten Medizin gut verdienen und daher an einer grundsätzlichen Änderung der Gesundheitspolitik keinerlei Interesse haben - es sei denn, im Sinne weiter zunehmender marktwirtschaftlicher Orientierung.
  Und in diese Richtung wird es denn auch gehen. Wirkliche Gesundheitspolitik hieße nämlich, wie oben bereits angedeutet, die gesamte Politik unter gesundheitspolitischem Blickwinkel zu betrachten und zu gestalten, sei es die Ansiedlungspolitik, die Verkehrs-, die Energie- oder die Landwirtschaftspolitik. Auf diese Weise würde eine wirkliche Gesundheitsförderung betrieben, statt mit immensem Aufwand und zweifelhaftem Erfolg die gesundheitlichen Folgen des derzeitigen Gesellschaftszustands notdürftig reparieren zu wollen.
  Das wäre kausale Therapie für unser Gesundheitswesen, aber darüber wird nicht verhandelt. So steht zu befürchten, daß Frau Fischer, sollte sie einmal dem allgemeinen Schlankheitswahn erliegen und abnehmen wollen, ihre Zuflucht zum gastric banding wird nehmen müssen.
  Klaus Engert
 


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