Artikel |
Übergewicht ist eine Massenerkrankung in der
entwickelten Industriegesellschaft. Schon früher hat es Versuche gegeben, dem
Problem chirurgisch beizukommen. Sie waren aber sämtlich für die
PatientInnen sehr riskant. Seit einigen Jahren erlebt nun eine Methode ihre
Renaissance, die durch die Entwicklung der minimal-invasiven Chirurgie, bei der per
Bauchspiegelung mittels Videokamera operiert und damit der sonst nötige
große Bauchschnitt vermieden wird, etwas risikoärmer geworden ist: das
sog. gastric banding. Dabei wird ein kleiner Teil des Magens mit einem Plastikband
abgeschnürt, so daß beim Essen frühzeitig ein
Völlegefühl auftritt und damit die Nahrungsaufnahme vermindert
wird.
Nun ist Übergewicht, das weiß auch der medizinische Laie, ja eigentlich
keine Magenerkrankung. Das stört allerdings die Chirurgen, die diesen Eingriff
propagieren, wenig. Sie verweisen auf das Ergebnis der Methode: Die PatientInnen
nehmen rasch ab. Daß es dabei gelegentlich zu unschönen
Nebenerscheinungen bis hin zu Todesfällen kommt, wird als Restrisiko
abgebucht. Eine solche Behandlung nennt man in der Fachsprache gemeinhin
symptomatisch, da sie die Erkrankung nicht ursächlich (kausal) angeht, sondern
lediglich die Symptome beseitigt.
Die Politik der neuen Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) mutet den
Betrachter in weiten Teilen so an wie das Vorgehen der Chirurgen bei der Behandlung
des Übergewichts: da die eigentlichen Ursachen der Misere des deutschen
Gesundheitswesens nicht angepackt werden sollen, greift sie zu symptomatischen
Maßnahmen.
Budgetierung
Die erste Maßnahme, zu der bereits Fischers Vorgänger Seehofer griff, und
die jetzt im sog. Vorschaltgesetz erneut auftaucht, ist die Ausgabenbegrenzung,
vornehm Budgetierung genannt. Diese führt nicht zu einem rationaleren
Mitteleinsatz, sondern, wie z.B. eine im vergangenen Jahr erstellte Studie der
Forschungsgemeinschaft Ethik der Gesundheitsversorgung an der Universität
Bielefeld zeigt, zu einer Rationierung von Gesundheitsleistungen für diejenigen
PatientInnen, die sich nicht zusätzlich absichern (können).
Die Krise der Krankheitsbehandlungssysteme ist nicht, wie die bürgerlichen
Ökonomen behaupten, in erster Linie ein Problem der Finanzierung oder gar der
mangelnden Marktwirtschaft in diesem Sektor. Ursächlich ist vielmehr einerseits
die falsche Schwerpunktsetzung auf die Diagnostik und Behandlung bereits
bestehender Erkrankungen statt auf Gesundheitsförderung und Prävention
und andererseits die auf Gewinnmaximierung ausgelegte privatwirtschaftliche Struktur
des medizinisch-industriellen Komplexes. Das kann bei unvoreingenommener
Betrachtung kaum bestritten werden. Hierfür nur zwei Beispiele:
Eine in Schweden durchgeführte Aufklärungskampagne bei Kindern zur
Zahngesundheit konnte die Karieshäufigkeit innerhalb weniger Jahre um 30
Prozent senken. (Um wieviel sie hätte gesenkt werden können, wenn
gleichzeitig die Werbung für Süßigkeiten verboten worden
wäre, kann man nur mutmaßen.)
In dem Industrieland, in dem das Gesundheitswesen am weitestgehenden
marktwirtschaftlich verfaßt ist, in den USA, machen die Ausgaben für
diesen Sektor den mit Abstand größten Anteil am Bruttosozialprodukt von
allen westlichen Industriestaaten aus - wobei die Unterversorgung der Menschen des
unteren Drittels der Einkommenspyramide offen zugegeben wird.
Die Gesundheitspolitik der Regierung muß vor allem an den folgenden beiden
Grundfragen gemessen werden: Wie gedenkt sie eine rasche und durchgreifende
Umsteuerung in Richtung auf einen Vorrang für Gesundheitsförderung
und Prävention zu beginnen und wie hält sie es mit der unter Seehofer
eingeleiteten schleichenden marktwirtschaftlichen Zurichtung des Systems?
Vorschaltgesetz
Nun hat die neue Regierung sowohl in ihrer Koalitionsvereinbarung als auch in der
Vorankündigung der Gesundheitsreform 2000 im bereits verabschiedeten
Vorschaltgesetz zwar vollmundig die Stärkung der Prävention und des
Solidarprinzips verkündet, aber bisher ist davon nichts zu sehen. Die von
Seehofer aus dem Leistungskatalog der Kassen gestrichene Krankheitsprävention
wurde auch im Vorschaltgesetz nicht wieder eingeführt. Das einzig Positive, was
sich über dieses Gesetz sagen läßt, ist, daß es gegenüber
Seehofer keine wesentlichen Verschlechterungen gebracht hat. Allerdings ist es
insgesamt nichts anderes als eine Fortschreibung der Seehoferschen Gesetze, garniert
mit der Einlösung einiger Wahlversprechen wie Rücknahme von
Zuzahlungen. Dafür allerdings wird den Versicherten im nächsten Jahr
höchstwahrscheinlich die Rechnung präsentiert, denn die Finanzierung
steht auf sehr wackligen Füßen.
Die geplante Gesundheitsreform 2000 enthält als einen zentralen Punkt die
monistische Krankenhausfinanzierung, die - so diskutierten es die Arbeitsgruppen
Gesundheit der Koalitionsfraktionen in ihrer Klausurtagung vom 12. und 13.Januar -
über einen Zeitraum von zehn Jahren schrittweise eingeführt werden
soll.
Dieses zunächst harmlos klingende Wort birgt einiges an Brisanz : Bisher war
die Finanzierung der Krankenhäuser insofern gesplittet, als der Staat über
Steuermittel die Kosten für bestimmte bauliche und technische Investitionen
übernahm, während die Krankenkassen über die Pflegesätze
bzw. Fallpauschalen die laufenden Kosten bezahlten. Darin liegt eine nicht zu
unterschätzende Steuerungsmöglichkeit für Bundes- und
Landesregierungen.
Statt dessen soll demnächst die gesamte Finanzierung über die
Krankenkassen abgewickelt werden. Damit gibt die Regierung wieder einen Teil ihrer
Steuerungskompetenz an die Kassen ab, die ihrerseits seit Seehofers Reform immer
stärker marktwirtschaftlich ausgerichtet wurden.
Folgerichtig war auf der genannten Tagung auch die Änderung der
Krankenhausbedarfsplanung durch Einbeziehung der Krankenkassen Thema. In welche
Richtung es gehen könnte, wenn sich die harten Marktwirtschaftler durchsetzen,
sagte ein hoher Funktionsträger im katholischen Krankenhaussektor
(früher war er Manager in der fleischverarbeitenden Industrie) neulich bei einer
Podiumsdiskussion mit dem Verfasser des vorliegenden Beitrags in dankenswerter
Deutlichkeit: Man solle alle Beschränkungen abschaffen; das Gesundheitswesen
sei letztlich ein Sektor, der die Ware Gesundheit produziere; im freien Spiel der
Marktkräfte werde sich die Qualität schon herausmendeln, und wer sie
nicht bezahlen könne, sei selber schuld.
Selbst der Herr Möllemann von der FDP hat da moderatere Vorstellungen. Ihm
schwebt eine allgemeine Grundsicherung über die gesetzlichen Kassen vor, alles
weitere hätte jeder selbst zu bezahlen oder sich entsprechend privat zu
versichern.
Kausale Therapie
Frau Gesundheitsministerin Fischer denkt in der Zwischenzeit immer mal wieder laut
nach. Dabei wurde klar, was sie unter der Stärkung der Patientenrechte und des
Patientenschutzes versteht, die ebenfalls für die Reform im nächsten Jahr
in Aussicht gestellt wurden. In einem Interview äußerte sie, man
müsse den Verbraucherschutz im Gesundheitssektor stärken.
Nur einige Tage später war dann von ihr zu hören, die Stellung der
Hausärzte solle gestärkt werden - auch ein Vorhaben der geplanten
Reform - und sie denke über eine Art Gate-keeper-Modell nach. Das ist ein
Verfahren, bei dem sich die Patienten verpflichten, zunächst einen Hausarzt
aufzusuchen, der dann entscheidet, ob eine Überweisung zum Facharzt
notwendig ist. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, wird wahrscheinlich nur Frau
Fischer selbst wissen.
Die Budgetierung schließlich wird, wenn den Ankündigungen der
Regierung Taten folgen, eher noch verschärft, indem statt der bisherigen
sektoralen Budgets ein Globalbudget vorgegeben wird. Einzelheiten wurden bislang
noch nicht zwischen den Fraktionen besprochen.
Bei allen diesen Plänen beteuert die Regierung, sie werde ihre Reform erst nach
intensiver Diskussion mit den Beteiligten endgültig formulieren. Dabei handelt
es sich nach gängigem Muster um die üblichen Verdächtigen,
nämlich die Vertreter der Ärzte, der Krankenkassen, der Pharma- und
Geräteindustrie, also der Gruppen und Institutionen, die an dem bisherigen
System einer diagnostik- und therapiezentrierten Medizin gut verdienen und daher an
einer grundsätzlichen Änderung der Gesundheitspolitik keinerlei Interesse
haben - es sei denn, im Sinne weiter zunehmender marktwirtschaftlicher
Orientierung.
Und in diese Richtung wird es denn auch gehen. Wirkliche Gesundheitspolitik
hieße nämlich, wie oben bereits angedeutet, die gesamte Politik unter
gesundheitspolitischem Blickwinkel zu betrachten und zu gestalten, sei es die
Ansiedlungspolitik, die Verkehrs-, die Energie- oder die Landwirtschaftspolitik. Auf
diese Weise würde eine wirkliche Gesundheitsförderung betrieben, statt
mit immensem Aufwand und zweifelhaftem Erfolg die gesundheitlichen Folgen des
derzeitigen Gesellschaftszustands notdürftig reparieren zu wollen.
Das wäre kausale Therapie für unser Gesundheitswesen, aber
darüber wird nicht verhandelt. So steht zu befürchten, daß Frau
Fischer, sollte sie einmal dem allgemeinen Schlankheitswahn erliegen und abnehmen
wollen, ihre Zuflucht zum gastric banding wird nehmen müssen.
Klaus Engert