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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 18.02.1999, Seite 9

Globalisierung des Widerstands

Von den neuen Klassenkämpfen zur neuen sozialen Gewerkschaftsbewegung

Das etwas andere Buch zur Diskussion um Globalisierung und Neoliberalismus kommt aus den USA. Geschrieben hat es Kim Moody, führender Aktivist der US-amerikanischen Arbeiter- und Protestbewegung und Herausgeber der in Detroit erscheinenden Zeitschrift Labor Notes, die Nachrichten und Artikel aus und um die US-amerikanische und internationale Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung veröffentlicht.
  Auch Moody untersucht die ungleichzeitigen, aber kombinierten Veränderungen in den weltweiten Produktionsverhältnissen der sog. "flexiblen Produktion", der Lean Production, deren Ursachen und Verlaufsformen und beschreibt und analysiert die neuen Managementmethoden, das "management by stress".
  Wie manchen anderen geht es ihm speziell darum, die Opfer der Globalisierung in den Blick zu nehmen. Was ihn jedoch von diesen unterscheidet und sein Buch heraushebt, ist sein Fokus auf die Reaktionsweisen und Strategien der internationalen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, auf jene, die sich in steigendem Maße gegen die scheinbaren Imperative der Globalisierung wehren. In Zeiten und Ländern wie dem unseren, in denen sich selbst radikale Linke von der Arbeiterklasse verabschiedet haben, ist dies schon eine begrüßenswerte Provokation an sich.
  Ausgangspunkt Moodys ist seine Beobachtung, daß es seit Mitte der 90er Jahre in nennenswertem Ausmaße und weltweit zu einer bemerkenswerten Rückkehr von offenen Klassenkämpfen gekommen ist. Von 1994 bis 1997 registriert er explizit politische Massenstreiks in Nigeria, Indonesien, Taiwan, Frankreich, Südkorea, Italien, Belgien, Kanada, Südafrika, Brasilien, Argentinien, Paraguay, Panama, Bolivien, Griechenland, Spanien, Venezuela, Haiti, Kolumbien, Ecuador und manchen anderen Ländern. Und er stellt sich die Frage, wie diese Streikwelle zu erklären ist, welche Möglichkeiten in ihr stecken und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
  Seine vergleichende Studie der sich weltweit ausdehnenden Arbeiter- und Gewerkschaftskämpfe gegen den sich weltweit durchsetzenden Neoliberalismus nimmt deswegen besonders die hochentwickelten Industrieländer des Nordens und die sog. "Schwellenländer" des Südens und der Dritten Welt unter die Lupe, in erster Linie die Entwicklungen in den NAFTA-Staaten USA, Kanada und Mexiko, in Europa, speziell Frankreich, sowie in Südkorea und Nigeria.
  Daß die internationale Arbeiterklasse der letzten 20 Jahre kaum rebellierte und damit den Anschein erweckte, als "Klasse für sich" nicht mehr zu existieren, hängt, so auch Moodys Analyse, mit den spezifischen Bedingungen neoliberaler Globalisierung zusammen. Die globalen Umbrüche in den Produktionsbeziehungen infolge der Offensive des Kapitals haben alte Klassenmilieus und Klassenmentalitäten erfolgreich zerstört, die Zusammensetzung der "Klasse an sich" durch Fragmentierung der Arbeitsverhältnisse und durch massive Integration von Frauen und ImmigrantInnen stark verändert und Klassenindividuen entlang geschlechtlicher und ethnografischer Grenzen gegeneinander gestellt.
  Gewerkschaftliche und politische Repräsentationsformen wurden grundlegend geschwächt und partieller Widerstand gebrochen. Die Keule der Arbeitslosigkeit führte zu Angst, Unsicherheit, Passivität und Flucht in falsche Innerlichkeit (Drogen usw.) und die Verlockungen der Lean Production - mehr demokratische Partizipationsmöglichkeiten im Betrieb - zu entsprechenden Illusionen.
  All dies führte zur anfänglichen Defensivität der internationalen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die wiederum theoretisch als neue geschichtliche Epoche der Postindustrialität und Postmodernität verarbeitet wurde und entsprechend zum historischen Bruch von Intellektuellen und sozialer Bewegung führte.
  Die Durchsetzung des neuen Akkumulationsregimes erwies sich allerdings widersprüchlicher als gedacht, und die immanenten Grenzen sieht Moody seit einigen Jahren gekommen, denn die Offensive neoklassischer Ökonomen und neoliberaler Politiker hat die ökonomische Krise bestenfalls einseitig gelöst.
  Wenn auch die Profite extrem in die Höhe schossen und sich der Reichtum auffallend vermehrte, für die Bevölkerungsmehrheiten gilt dies nicht. Die Beschäftigungskrise ist schlimmer denn je, Verarmung und Verelendung nahmen relativ und absolut zu, Marginalisierung und Diskriminierung sind zu Synonymen des Aufstiegs eines informellen, vermeintlich selbständigen Sektors geworden. Neorassismen und zunehmender Sexismus haben neben den, bedingt durch die und unabhängig von den vertieften Klassenspaltungen die gesellschaftlichen Antagonismen verschärft.
  Die Jahre der "neuen Unübersichtlichkeit" sind nun jedoch vorbei und es bewahrheitet sich die alte Erkenntnis, daß die Einkommen der einen (inkl. Zeit, Gesundheit und Sicherheit) die Kosten der anderen sind, daß neoliberale Globalisierung kein sog. Win-to-win-Spiel ist, bei dem alle gewinnen. Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, der hat schon verloren, sagen nicht mehr nur vereinzelte Spinner, sondern wird zum Erfahrungsschatz breiter Bevölkerungsteile. Die Offensive des Kapitals stößt hier auf seine immanenten Grenzen.
  Das neue Akkumulationsregime breitet sich nämlich, so Moody, sehr ungleich über den Erdball aus. Die ökonomische Geografie der Welt hat sich zwar ohne Zweifel verändert, der Markt herrscht nun überall in der Welt. Doch die Welt ist weniger globalisiert, als vielmehr regionalisiert worden, wie er herausarbeitet. Die Integration der Ökonomie findet vor allem innerhalb der Triadenregionen NAFTA, Europa und Japan statt.
  Die transnationalen Konzerne, die vermeintlichen "global players", organisieren sich ihre Produktionsketten zwar grenzüberschreitend, aber eben regional begrenzt. Es kommt einerseits zur zunehmenden Industrialisierung auch der in Unterentwicklung gehaltenen Länder entlang dieser Produktionsketten, aber der Reichtum fließt andererseits herrschafts- und eigentumsbedingt noch immer in die "Heimat"länder der Konzerne, in die imperialistischen Zentren.
  Die alte Spaltung in reichen Norden und armen Süden bleibt, wenn auch modifiziert, in Kraft. Ganze Regionen werden vom Weltmarkt abgekoppelt und innerhalb der Regionen verschärft sich die Konkurrenz der (Lohn-)Arbeitenden untereinander.
  Gerade diese ungleiche Entwicklung setzt jedoch einer totalen Globalisierung Grenzen. Ebenso wie die Tatsache, daß die in den transnationalen Produktionsketten arbeitenden Menschen unter neuartigen und vor allem gemeinsamen Beschäftigungs- und Produktionsbedingungen zusammengefaßt werden. Das eröffnet Möglichkeiten gemeinsamer Kämpfe und Erfahrungen über die nationalen und Konzerngrenzen hinaus. Die seit vielen Jahren zu beobachtende Desillusionierung bezüglich der Versprechungen der Lean Production tut hier ihr übriges.
  Mittlerweile ist auch den letzten deutlich geworden, daß bei aller Unterschiedlichkeit in den einzelnen Formen nicht Kreativität, sondern Konformität der Imperativ der neuen betrieblichen Verhältnisse ist. Immer mehr verschlechtern sich Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität gerade auch am Arbeitsplatz. Immer mehr gleichen sich auch Gewerkschaftsstrukturen, da sie sich zumeist auf das sozialpartnerschaftliche Spiel eingelassen haben, den Unternehmensstrukturen an und werden auf diesem Wege tendenziell in dieselben integriert.
  Gewerkschaftsmitglieder haben selbst in ihren eigenen Organisationen immer weniger mitzureden. Doch auch hier: Gerade die "flexible Produktion" kann die neuen Bedürfnisse kaum befriedigen und erweist sich potentiell als ausgesprochen instabil und anfällig gegen Druck und Kampf von unten.
  Die entscheidende Grenze neoliberaler Globalisierung sieht Moody allerdings in der durch die neuen Produktionsmethoden strukturell nicht zu lösenden Akkumulationskrise des Kapitals, die durch zusätzlichen Produktionsausstoß eher noch verschärft wird. Und so schwelt die ökonomische Krise weiter und breitet sich aus.
  Dies gibt den objektiven Hintergrund für die Rückkehr der Klassenkämpfe ab und erklärt im wesentlichen auch ihre Form.
  Von linken Organisationen und Parteien verabschiedet, von sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsführungen zunehmend enttäuscht und allein gelassen, von Intellektuellen lange Zeit ignoriert, entwickeln sich die Bewegungen weitgehend spontan, ohne klare programmatische Ziele, vermeintlich unpolitisch, doch mit breiter Unterstützung durch die jeweiligen Bevölkerungen und teilweise ausgesprochen radikalen Kampfformen. Im Zentrum der auffallend oft von Beschäftigten des öffentlichen Sektors getragenen Auseinandersetzungen steht allerdings, und dies macht ihren politischen Sprengstoff aus, die Gegnerschaft gegen neoliberale Verschärfungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.
  Daß wir es hier mit einer originären Bewegung zu tun haben, sieht man daran, daß sich in ihr historisch neue Organisationsformen herausbilden. Dies in aller Ausführlichkeit herausgearbeitet zu haben, ist das herausragende Verdienst Kim Moodys. Er beschreibt, wie gerade die scheinbar umfassende Auflösung alter Klassenverhältnisse neuen Inhalten und Formen den nötigen Raum bietet.
  Gerade das, was Postmodernisten jeglicher Couleur als die Ursache für den endgültigen Niedergang von Arbeiterklasse und Sozialismus erscheint, ist ihm Bedingung für einen radikalen Neuanfang. Ausgehend von den südlichen Schwellenländern Brasilien und Südafrika entwickelt sich seit Ende der 70er Jahre über Südkorea und Kanada bis in industrielle Zentren des Weltkapitalismus wie den USA oder Frankreich jenes Organisationsphänomen, das Moody "new unionism" oder "social movement unionism" nennt und das man vielleicht am besten mit "neuer sozialer Gewerkschaftsbewegung" übersetzen kann.
  Es handelt sich dabei um Bewegungen, die alte Partikularismen überwinden, die Kernbelegschaften genauso aktivieren, wie sie Arbeitslose und Marginalisierte, Familienangehörige und ImmigrantInnen personell und programmatisch integrieren. Es sind sich zumeist lokal und regional organisierende Bewegungen, die von der aktiven Teilnahme der Basis mehr leben, als von Führungsgruppen gewerkschaftlicher oder politischer Art. Sie sprengen tendenziell die alte Spaltung in gewerkschaftlichen Flügel auf der einen und politischen auf der anderen, in Ökonomie und Politik. Sie unterscheiden nicht mehr zwischen Arbeitsplatz und kommunalem Lebensumfeld, zwischen Betrieb und Wohngebiet und gewinnen somit eine starke soziale Verankerung. Von der organisatorischen Form her den sog. neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre ähnlich, sind sie doch, sozial und politisch betrachtet, klare Bewegungen der Arbeiterklasse im weitesten Sinne.
  Mit ihrer Organisationsform sind sie potentiell in der Lage, die drei wesentlichen Strukturprobleme der neuen Arbeiterklasse aktiv anzugehen. Zum einen werden die Spaltungslinien innerhalb der neuzusammengesetzten Klasse, vor allem die Spaltung zwischen den Geschlechtern und den Ethnien, aufgeweicht und partiell aufgehoben. Zum anderen sind sie mit ihrer weniger bürokratischen und stärker informellen Struktur schneller und substantieller in der Lage, Grenzen zwischen den Nationen zu überwinden. Schließlich gehen sie das Problem der bürokratisierten Gewerkschaftsapparate und Stellvertreterparteien direkt an und aktivieren neue Formen von Basisdemokratie.
  Wenn Moody auch einem erfrischenden Optimismus des Willens frönt, Illusionen macht er sich keine. Die von ihm beobachteten und im Detail diskutierten Ansätze zu einer solchen neuen sozialen Gewerkschaftsbewegung sind nicht mehr und nicht weniger - Ansätze. Ansätze übrigens, die zunehmend auch in Deutschland wahrgenommen und eingefordert werden, wie bspw. die von Gisbert Schlemmer u.a. jüngst herausgegebene VSA-Publikation Kapitalismus ohne Gewerkschaften? Eine Jahrhundertbilanz zeigt.
  Moody spricht explizit von neuen Möglichkeiten, nicht von Notwendigkeiten. Ob sie sich durchsetzen werden, ist äußerst ungewiß und wird nicht unwesentlich davon abhängen, inwieweit sich eine erneuerte Linke auf sie einläßt, sie unterstützt und propagiert. Aber dies markiert eben den Unterschied zwischen Postmodernisten und Sozialisten beiderlei Geschlechts: Nimmt man herrschende Trends als Ausreden für die Bauchnabelschau oder sucht man nach den in ihnen enthaltenen neuen Möglichkeiten zur konsequenten Selbstpositionierung, zum politischen Kampf.
  "Die Massenstreiks der Jahre 1994-97 hatten keinen revolutionären Charakter, und zwar nicht nur, weil sie von den betroffenen ArbeiterInnen nicht als solche angesehen wurden, obwohl dies wichtig ist. Unter anderem liegt es daran, daß die Ereignisse weit davon entfernt waren, eine endgültige Lösung zu verlangen. Nach wie vor sind einerseits Kompromiß, andererseits Unnachgiebigkeit seitens des Staates und der betreffenden Arbeitgeber mögliche Optionen, ebenso wie bei den ArbeiterInnen", so Moody.
  Hier haben wir die materielle Basis für die - von Moody noch nicht erfaßte - gegenwärtige Renaissance der internationalen Sozialdemokratie. Die neoliberalen Kräfte gönnen sich zur Zeit eine durchaus schöpferische Pause, um neue (natürlich immanente) Wege aus der anhaltenden und von ihnen selbst verschärften Strukturkrise zu suchen.
  Daß selbst Regierungslinke der verschiedensten Couleur gezwungen und gewillt sind, nach ihrer Melodie zu tanzen, zeigt, daß sich in den letzten Jahren nichts grundlegendes geändert hat. Daß nun aber Sozialdemokraten, Grün- Alternative und Ex-Kommunisten für die Regierungsgeschäfte verantwortlich zeichnen und - ob sie wollen oder nicht - neue Erwartungen und Bedürfnisse wecken, das haben sie der Rückkehr der internationalen Klassenkämpfe zu verdanken - ob ihnen das bewußt ist oder nicht.
  Die neuen Machtverhältnisse sind Verhältnisse des Übergangs. Wenn es dabei Hoffnungen auf einen emanzipativen Übergang gibt, wenn es die Perspektive eines anderen sozioökonomischen Modells jenseits des Neoliberalismus geben soll, dann kann sie nur von unten wachsen, aus den gegenwärtigen Klassenkämpfen einer Klasse, deren potentielle Macht noch immer zentraler Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Veränderung ist.
  Die intensivierten Kämpfe beflügeln den Geist, so Moody, und ihre Organisationsformen sind "Schulen" zum Verständnis der Gesellschaft und zur "Vorbereitung auf die Macht". Und wenn es auch keine Garantie für die Rückkehr sozialistischer Ideen und Organisationen gibt, die herrschenden Alternativvorschläge, "die derzeit von Progressiven und Sozialdemokraten aller Richtungen geäußert werden, Stakeholder- Kapitalismus, Zivilgesellschaft, Dritter Sektor als Gegenmacht etc., bieten nicht viel Trost für die meisten Menschen in der Welt. Diese Mehrheit verlangt nach mehr Substanz, als der Kapitalismus seit einiger Zeit weltweit zu geben imstande oder willens ist."
  Daß dies kein falscher Optimismus ist, zeigt sich daran, daß der ökonomische und politische Widerstand der neuen "neuen sozialen Bewegungen" auch nach Fertigstellung des Buches 1997 und nach Regierungsübernahme der neuen "linken" Regierungen deutlich anhält. Wer dies verstehen möchte, sei auf Moodys Buch verwiesen: Ein wichtiges Werk nicht nur zum Thema Globalisierung, sondern auch zur Selbstverständigung von Linken, SozialistInnen und GewerkschafterInnen überall auf der Welt.
  Christoph Jünke
 
  *Kim Moody, "Workers in a Lean World. Unions in the International Economy", London (Verso) 1997, 340 S.
 


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