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Was wollen Sie mit einer Fazenda in Brasilien, obwohl Sie in Paris wohnen und auf der ganzen Welt arbeiten?
Um Bäume zu pflanzen. Die Fazenda befindet sich in Aimorés, wo ich geboren wurde. Das liegt im Tal des Rio Doce, gewissermaßen an der Grenze zwischen Minas Gerais
und Espírito Santo. Sie umfaßt 700 Hektar. Ihr gesamter Nutzen ist dem Naturerbe des Landes gewidmet. Mit anderen Worten, sie ist bei der IBAMA (1) als privates Schutzgebiet
registriert, was ihre Nutzungsmöglichkeiten stark einschränkt. Es ist das erste Schutzgebiet an einem Ort, wo es keine schützenswerte Natur mehr gibt. Heute gibt es dort nur
einen Rest von Wald, der aus 200.000 über das Weideland verstreuten Bäumen besteht. Wir werden 1,3 Millionen Bäume pflanzen, um den ursprünglichen Wald
wiederherzustellen.
Werden Sie den Fazendabetrieb aufgeben?
Wir haben uns für die reine Wiederbewaldung entschieden und dafür, die Weiden ausschließlich mit typischen Setzlingen der Mata Atlantica (2) zu bepflanzen. Wir haben dazu
eigens ein Institut gegründet, das, solange die Wiederbewaldung läuft, eine Schule zur Umwelterziehung in Aimorés betreiben wird. Die Fazenda wird gleichzeitig
Naturschutzgebiet, Laboratorium für die Wiederbewaldung und Zentrum für Umwelterziehung sein.
Werden Sie auch Leute ausbilden, die bei Wiederbewaldungsarbeiten eingesetzt werden können?
Auch, aber nicht nur. Es gibt in Minas Gerais landwirtschaftliche Schulen, die sich ausschließlich um Viehzucht und Landwirtschaft kümmern. Wer von diesen Schulen abgeht, kann
sich in unserem Zentrum in Aimorés auf Renaturierung spezialisieren. Wir bieten unter anderem Schnellkurse an, in denen Traktorfahrer im rücksichtsvollen Umgang mit dem
Boden unterwiesen werden. Die sorglose Art, das Land zu pflügen, ist nämlich neben der Entwaldung einer der Gründe dafür, daß der Boden von den
Hängen herabrutscht. Unsere Schule könnte zudem den kommunalen Umweltbeauftragten eine Vorstellung davon vermitteln, was bereits an Maßnahmen zum Schutz von
Wassergewinnungsgebieten, Böschungen und Ufern bekannt ist.
Und dies alles ist Sache eines Fotografen?
Es besteht eine umfassende Beziehung zwischen den großen Menschheitsproblemen, die ich fotografiert habe und den ökologischen Katastrophen. Elend und Verwüstung sind
gewöhnlich Zwillinge. Wo das Elend die Tragödie ist, pflegt die Verwüstung das Bühnenbild abzugeben. Ich habe über hundert Länder bereist, in denen mir
dies aufgefallen ist. So habe ich z. B. die Bauern von Chiapas fotografiert. In Mexiko hat es während der letzten 35 Jahre eine riesige Landflucht gegeben. Lebten vorher 92% der
Bevölkerung auf dem Land, so leben heute über 72% in den Städten. Wer auf dem Land zurückblieb, befand sich inmitten einer Wüste. Das Holz war geschlagen
worden, um es in den Vereinigten Staaten zu verkaufen. Als ich den Hunger in der Sahel-Zone fotografierte, sah ich, wie sich die Wüste in Nordafrika ausbreitete. 1978 gab es im Tschad
noch Wald. Nun hat sich der Sand rund 200 km nach Süden ausgebreitet. Man hat das Edelholz nach Europa exportiert und den Rest als Feuerholz zum Kochen verbrannt. Es gibt eine
erschreckende Beziehung zwischen Armut und Entwaldung. Von daher ist das Projekt von Aimorés für mich kein Abweichen von meiner beruflichen Laufbahn. Im Gegenteil, hier
schließt sich ein Kreis in meiner Arbeit.
Aber schadet Ihre Abwesenheit von Brasilien nicht dieser Idee?
Ich lebe seit 1969 in Europa. In Paris wohne ich seit 26 Jahren. Aber in Vitória, im Bundesstaat Espírito Santo, habe ich ein Haus. Die Zeit, die Lélia und ich aufgrund von
Problemen mit den Militärregierungen weit entfernt von Brasilien verbringen mußten, öffnete uns die Augen für die Veränderungen, die die Bewohner von
Aimorés scheinbar nicht wahrnahmen.
Welche Veränderungen?
Als wir 1980 zurückkehrten, waren wir schockiert. Die Landschaft ähnelte nicht mehr jener, die wir in Erinnerung hatten. Sie schien sich in eine Wüste verwandelt zu haben.
In meiner Kindheit führte der Weg zur Fazenda durch ein Stück der Mata Atlantica. Gewöhnlich konnte ich dort Affen sehen. Ich begegnete sogar dem Brüllaffen, dem
größten Primaten Amerikas, der fast ausgerottet ist. Es gibt noch etwa 120 Exemplare, isoliert in einem Schutzgebiet in Caratinga (einer anderen Gegend von Minas Gerais). Eines
meiner ehrgeizigen Ziele besteht darin, den Brüllaffen wieder nach Aimorés zu bringen.
Hier war einmal die Heimat des Peroba-Baums in Brasilien. In Aimorés gab es während der 50er Jahre drei große Sägewerke, die ausschließlich Peroba-Holz
verarbeiteten, um es in Parkettboden für Rio de Janeiro und São Paulo zu verwandeln. Mit dem gewöhnlichen Holz wurden Lokomotivkessel befeuert, aus deren Schloten
flogen Funken, die Waldbrände entlang der Eisenbahnstrecken verursachten. So verschwand der Wald und der Boden verschwand mit ihm. Als die Fazenda meines Vaters 200 Hektar
groß war, produzierte sie Bohnen, Mais, Maniok und vielerlei mehr. Am Ende, mit 700 Hektar, diente sie ausschließlich der Viehzucht. Das Vieh brauchte immer größere
Flächen, und man zerstörte den Wald, um weiteres Weideland zu gewinnen.
Handelt es sich hier um ein Problem von Aimorés oder der Fazenda allein?
Aus meiner Sicht betrifft dieses Problem nicht ausschließlich Aimorés. Es besteht in ganz Brasilien. In Aimorés ist etwas wie in so vielen hügeligen Gegenden im
Inneren Brasiliens passiert: die fruchtbare Erde wurde vom Regen in die Flüsse gewaschen. Die Flüsse verlandeten. Dreißig Kilometer unterhalb von Aimorés war der
Rio Doce zwischen Colatina und Linhares in Espírito Santo schiffbar, als der Bundesstaat noch bewaldet war. Ich selbst habe in der Region Flußdampfer gesehen, wie sie auf dem
Amazonas verkehrten, die hundert, zweihundert Passagiere befördern konnten. Nun kann man den Fluß zu Fuß durchqueren. Der durchschnittliche Wasserstand ist auf 60 cm
gefallen. Vor Monaten bin ich mit dem Hubschrauber von Vitória nach Aimorés geflogen. Es ist schrecklich. Von oben sieht man eine verödete Landschaft. In der Regenzeit ist es
eine grüne Graswüste. Aber in der Trockenzeit sieht man die nackte Erde.
Aber Brasilien ist doch grün, nicht wahr?
Nicht mehr so sehr. Das Land hat sicher eine üppige Pflanzendecke, aber diese beschränkt sich auf Amazonien, und selbst Amazonien läuft Gefahr zu verschwinden. Vor
nicht allzu langer Zeit machte ich Aufnahmen im äußersten Norden des Landes. Orte im Bundesstaat Roraima, die ich im Jahre 1986 nur als mit Regenwald bedeckt kannte, hatten
sich in offene Landschaften verwandelt. Brasilien wird entwaldet und bekommt nichts dafür. Selbst Amazonien, eine der schönsten Regionen des Planeten, wird niedergebrannt, um
für Rinder Platz zu schaffen. Mir scheint, daß das ganze Land sich berufen fühlt, unproduktive Viehzucht zu betreiben. In kaum mehr als zwanzig Jahren ist seine Rinderherde
von 90 auf 160 Millionen Stück angewachsen. Brasilien importiert darüber hinaus Fleisch, weil das eigene von schlechter Qualität ist. Offen gesagt, ich ziehe den Wald
vor.
Was werden Ihre Fotos auf der Ausstellung im Jahr 2000 zeigen?
Es werden 550 Fotografien zu 37 zeitgenössischen Themen sein. Im Vordergrund stehen Volksbewegungen und die Entwurzelung der Menschheit. Lélia organisiert die Ausstellung
in Kapiteln. Eines über die Vernichtung der indigenen Völker, die Landflucht und den Kampf um Land in Lateinamerika, ein weiteres beginnt im Amazonas-Regenwald und endet in
den Megastädten wie São Paulo und Mexiko-Stadt. Ein drittes zeigt die großen Städte des Orients: Kairo, Bombay, Bangkok, Shanghai, Jakarta, Istanbul und Ho-Chi-
Minh-Stadt, die aufgrund der Landflucht aus allen Nähten platzen. Im Durchschnitt hatten sie vor 25 Jahren rund 5 Millionen Einwohner. Heute haben sie 15 Millionen. Danach folgt das
afrikanische Kapitel mit dem Hunger, den Massakern und der Umweltvernichtung. Es umfaßt Tanzania, Mosambik, Zambia, Rwanda, Burundi, Kongo, Kenya, Angola und den
Sudan.
Schließlich gibt es ein großes internationales Kapitel, das Kriegsflüchtlinge und Wanderungsbewegungen umfaßt. Die Zahl der Menschen, die in diesem Jahrzehnt ihre
Länder verlassen haben, ist erschreckend hoch: rund 10 Millionen Auswanderer pro Jahr. 1985 lebten 30 Millionen Menschen in der Fremde. Heute sind es rund 130 Millionen. Ein Teil
dieses Kapitels handelt ausschließlich von Kindern von Flüchtlingen und Auswanderer, die Opfer von Katastrophen geworden sind. Es sind Bilder aus aller Welt, eine Vorschau auf
die erwachsene Generation des kommenden Jahrhunderts.
Ist das nicht zuviel für eine einzige Ausstellung?
Sie wird in der Tat sehr groß sein. Sie soll gleichzeitig in São Paulo, Rio de Janeiro, Washington, Paris, Rom, Hamburg und Barcelona eröffnet werden. Die Ausstellung ist so
konzipiert, daß nach der Eröffnung einzelne Kapitel in kleinere Städte reisen, also in Wanderausstellungen gezeigt werden können. Ferner soll es im Rahmen der
Ausstellung Konferenzen und Diskussionsveranstaltungen über die aufgeworfenen Fragen geben. Wenn möglich, sollen diese der Teilnahme von Indios, Landlosen, Obdachlosen und
allen Gruppen offenstehen, die darüber diskutieren wollen.
Was erwarten Sie sich davon?
Ich erhoffe mir eine große Debatte. Ich will vom großen Drama des Umbruchs der Menschheitsfamilie an der Jahrtausendwende erzählen. Meine Arbeit als Fotograf
während der 90er Jahre hat mir gezeigt, daß die Globalisierung Realität ist. Aber man redet nur von Globalisierung der Finanzen, der Geschäfte, der Information und der
Währung. Von der Globalisierung des Menschen redet man nicht. Und es ist die Globalisierung von 95% der Weltbevölkerung, die unter den Auswirkungen jener anderen
Globalisierung leidet. 1975, als ich mich mit Flüchtlingslagern in Afrika zu beschäftigen begann, bargen diese 30.000 bis 40.000 Menschen. Das größte, in
Äthiopien, erreichte 92.000 Flüchtlinge. Gegenwärtig finden sich im Kongo Lager mit 500.000 bis 600.000 Menschen.
Wohin kann eine solche Diskussion führen?
Zuzugestehen, daß die Menschen das Recht haben, zu wählen, in welchem Teil der Welt sie leben wollen. Dies steht übrigens in der Charta der UNO geschrieben. Davon
handelt die Ausstellung. Ich werde meine Globalisierungsgeschichte vorstellen.
Anmerkungen
1. IBAMA: Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renovÿveis, die brasilianische Umweltbehörde.
2. Mata Atlantica war der ursprüngliche dichte Wald entlang der brasilianischen Küste. Nach der Kolonisierung durch die Portugiesen im 16. Jahrhundert wurde er durch
Holzausbeutung, u.a. für die Befeuerung der Zuckersiedereien, durch Brandrodung und Besiedlung fast vollkommen zerstört.