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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.05 vom 04.03.1999, Seite 16

Elend ist die Tragödie, Verwüstung das Bühnenbild

Interview mit Sebastião Salgado

Sebastião Salgado (54), weltbekannter Fotojournalist, arbeitet derzeit zusammen mit seiner Frau Lélia an einem neuen Ausstellungsprojekt für das Jahr 2000. 550 Fotos aus aller Welt dokumentieren die großen Menschheitsdramen an der Jahrtausendwende: Hunger, Elend und Umweltvernichtung, Krieg, Flucht, Vertreibung und Auswanderung. Nach seinen aussagestarken und auch in Deutschland bekannten Dokumentationen "Arbeiter - zur Archäologie des Industriezeitalters" und "Terra" über den Kampf der brasilianischen Armen um Land wird die neue Ausstellung sein bisher ehrgeizigstes Projekt in seiner 25jährigen Schaffenszeit sein. Sie wird die größte, überhaupt jemals von einem einzelnen Fotografen erstellte Bilddokumentation präsentieren. Doch Salgado wäre nicht Salgado, ginge es ihm lediglich um Sensationen und die Zurschaustellung von Katastrophen. Wie kaum ein anderer versteht er es, mit seinen Fotos Zeitgeschichte auszudrücken und anzusprechen. Das nachfolgende leicht gekürzte Interview mit Sebastião Salgado erschien zuerst im brasilianischen Magazin Veja am 20.1.1999

Was wollen Sie mit einer Fazenda in Brasilien, obwohl Sie in Paris wohnen und auf der ganzen Welt arbeiten?
 
  Um Bäume zu pflanzen. Die Fazenda befindet sich in Aimorés, wo ich geboren wurde. Das liegt im Tal des Rio Doce, gewissermaßen an der Grenze zwischen Minas Gerais und Espírito Santo. Sie umfaßt 700 Hektar. Ihr gesamter Nutzen ist dem Naturerbe des Landes gewidmet. Mit anderen Worten, sie ist bei der IBAMA (1) als privates Schutzgebiet registriert, was ihre Nutzungsmöglichkeiten stark einschränkt. Es ist das erste Schutzgebiet an einem Ort, wo es keine schützenswerte Natur mehr gibt. Heute gibt es dort nur einen Rest von Wald, der aus 200.000 über das Weideland verstreuten Bäumen besteht. Wir werden 1,3 Millionen Bäume pflanzen, um den ursprünglichen Wald wiederherzustellen.
 
  Werden Sie den Fazendabetrieb aufgeben?
 
  Wir haben uns für die reine Wiederbewaldung entschieden und dafür, die Weiden ausschließlich mit typischen Setzlingen der Mata Atlantica (2) zu bepflanzen. Wir haben dazu eigens ein Institut gegründet, das, solange die Wiederbewaldung läuft, eine Schule zur Umwelterziehung in Aimorés betreiben wird. Die Fazenda wird gleichzeitig Naturschutzgebiet, Laboratorium für die Wiederbewaldung und Zentrum für Umwelterziehung sein.
 
  Werden Sie auch Leute ausbilden, die bei Wiederbewaldungsarbeiten eingesetzt werden können?
 
  Auch, aber nicht nur. Es gibt in Minas Gerais landwirtschaftliche Schulen, die sich ausschließlich um Viehzucht und Landwirtschaft kümmern. Wer von diesen Schulen abgeht, kann sich in unserem Zentrum in Aimorés auf Renaturierung spezialisieren. Wir bieten unter anderem Schnellkurse an, in denen Traktorfahrer im rücksichtsvollen Umgang mit dem Boden unterwiesen werden. Die sorglose Art, das Land zu pflügen, ist nämlich neben der Entwaldung einer der Gründe dafür, daß der Boden von den Hängen herabrutscht. Unsere Schule könnte zudem den kommunalen Umweltbeauftragten eine Vorstellung davon vermitteln, was bereits an Maßnahmen zum Schutz von Wassergewinnungsgebieten, Böschungen und Ufern bekannt ist.
 
  Und dies alles ist Sache eines Fotografen?
 
  Es besteht eine umfassende Beziehung zwischen den großen Menschheitsproblemen, die ich fotografiert habe und den ökologischen Katastrophen. Elend und Verwüstung sind gewöhnlich Zwillinge. Wo das Elend die Tragödie ist, pflegt die Verwüstung das Bühnenbild abzugeben. Ich habe über hundert Länder bereist, in denen mir dies aufgefallen ist. So habe ich z. B. die Bauern von Chiapas fotografiert. In Mexiko hat es während der letzten 35 Jahre eine riesige Landflucht gegeben. Lebten vorher 92% der Bevölkerung auf dem Land, so leben heute über 72% in den Städten. Wer auf dem Land zurückblieb, befand sich inmitten einer Wüste. Das Holz war geschlagen worden, um es in den Vereinigten Staaten zu verkaufen. Als ich den Hunger in der Sahel-Zone fotografierte, sah ich, wie sich die Wüste in Nordafrika ausbreitete. 1978 gab es im Tschad noch Wald. Nun hat sich der Sand rund 200 km nach Süden ausgebreitet. Man hat das Edelholz nach Europa exportiert und den Rest als Feuerholz zum Kochen verbrannt. Es gibt eine erschreckende Beziehung zwischen Armut und Entwaldung. Von daher ist das Projekt von Aimorés für mich kein Abweichen von meiner beruflichen Laufbahn. Im Gegenteil, hier schließt sich ein Kreis in meiner Arbeit.
 
  Aber schadet Ihre Abwesenheit von Brasilien nicht dieser Idee?
 
  Ich lebe seit 1969 in Europa. In Paris wohne ich seit 26 Jahren. Aber in Vitória, im Bundesstaat Espírito Santo, habe ich ein Haus. Die Zeit, die Lélia und ich aufgrund von Problemen mit den Militärregierungen weit entfernt von Brasilien verbringen mußten, öffnete uns die Augen für die Veränderungen, die die Bewohner von Aimorés scheinbar nicht wahrnahmen.
 
  Welche Veränderungen?
 
  Als wir 1980 zurückkehrten, waren wir schockiert. Die Landschaft ähnelte nicht mehr jener, die wir in Erinnerung hatten. Sie schien sich in eine Wüste verwandelt zu haben. In meiner Kindheit führte der Weg zur Fazenda durch ein Stück der Mata Atlantica. Gewöhnlich konnte ich dort Affen sehen. Ich begegnete sogar dem Brüllaffen, dem größten Primaten Amerikas, der fast ausgerottet ist. Es gibt noch etwa 120 Exemplare, isoliert in einem Schutzgebiet in Caratinga (einer anderen Gegend von Minas Gerais). Eines meiner ehrgeizigen Ziele besteht darin, den Brüllaffen wieder nach Aimorés zu bringen.
  Hier war einmal die Heimat des Peroba-Baums in Brasilien. In Aimorés gab es während der 50er Jahre drei große Sägewerke, die ausschließlich Peroba-Holz verarbeiteten, um es in Parkettboden für Rio de Janeiro und São Paulo zu verwandeln. Mit dem gewöhnlichen Holz wurden Lokomotivkessel befeuert, aus deren Schloten flogen Funken, die Waldbrände entlang der Eisenbahnstrecken verursachten. So verschwand der Wald und der Boden verschwand mit ihm. Als die Fazenda meines Vaters 200 Hektar groß war, produzierte sie Bohnen, Mais, Maniok und vielerlei mehr. Am Ende, mit 700 Hektar, diente sie ausschließlich der Viehzucht. Das Vieh brauchte immer größere Flächen, und man zerstörte den Wald, um weiteres Weideland zu gewinnen.
 
  Handelt es sich hier um ein Problem von Aimorés oder der Fazenda allein?
 
  Aus meiner Sicht betrifft dieses Problem nicht ausschließlich Aimorés. Es besteht in ganz Brasilien. In Aimorés ist etwas wie in so vielen hügeligen Gegenden im Inneren Brasiliens passiert: die fruchtbare Erde wurde vom Regen in die Flüsse gewaschen. Die Flüsse verlandeten. Dreißig Kilometer unterhalb von Aimorés war der Rio Doce zwischen Colatina und Linhares in Espírito Santo schiffbar, als der Bundesstaat noch bewaldet war. Ich selbst habe in der Region Flußdampfer gesehen, wie sie auf dem Amazonas verkehrten, die hundert, zweihundert Passagiere befördern konnten. Nun kann man den Fluß zu Fuß durchqueren. Der durchschnittliche Wasserstand ist auf 60 cm gefallen. Vor Monaten bin ich mit dem Hubschrauber von Vitória nach Aimorés geflogen. Es ist schrecklich. Von oben sieht man eine verödete Landschaft. In der Regenzeit ist es eine grüne Graswüste. Aber in der Trockenzeit sieht man die nackte Erde.
 
  Aber Brasilien ist doch grün, nicht wahr?
 
  Nicht mehr so sehr. Das Land hat sicher eine üppige Pflanzendecke, aber diese beschränkt sich auf Amazonien, und selbst Amazonien läuft Gefahr zu verschwinden. Vor nicht allzu langer Zeit machte ich Aufnahmen im äußersten Norden des Landes. Orte im Bundesstaat Roraima, die ich im Jahre 1986 nur als mit Regenwald bedeckt kannte, hatten sich in offene Landschaften verwandelt. Brasilien wird entwaldet und bekommt nichts dafür. Selbst Amazonien, eine der schönsten Regionen des Planeten, wird niedergebrannt, um für Rinder Platz zu schaffen. Mir scheint, daß das ganze Land sich berufen fühlt, unproduktive Viehzucht zu betreiben. In kaum mehr als zwanzig Jahren ist seine Rinderherde von 90 auf 160 Millionen Stück angewachsen. Brasilien importiert darüber hinaus Fleisch, weil das eigene von schlechter Qualität ist. Offen gesagt, ich ziehe den Wald vor.
 
  Was werden Ihre Fotos auf der Ausstellung im Jahr 2000 zeigen?
 
  Es werden 550 Fotografien zu 37 zeitgenössischen Themen sein. Im Vordergrund stehen Volksbewegungen und die Entwurzelung der Menschheit. Lélia organisiert die Ausstellung in Kapiteln. Eines über die Vernichtung der indigenen Völker, die Landflucht und den Kampf um Land in Lateinamerika, ein weiteres beginnt im Amazonas-Regenwald und endet in den Megastädten wie São Paulo und Mexiko-Stadt. Ein drittes zeigt die großen Städte des Orients: Kairo, Bombay, Bangkok, Shanghai, Jakarta, Istanbul und Ho-Chi- Minh-Stadt, die aufgrund der Landflucht aus allen Nähten platzen. Im Durchschnitt hatten sie vor 25 Jahren rund 5 Millionen Einwohner. Heute haben sie 15 Millionen. Danach folgt das afrikanische Kapitel mit dem Hunger, den Massakern und der Umweltvernichtung. Es umfaßt Tanzania, Mosambik, Zambia, Rwanda, Burundi, Kongo, Kenya, Angola und den Sudan.
  Schließlich gibt es ein großes internationales Kapitel, das Kriegsflüchtlinge und Wanderungsbewegungen umfaßt. Die Zahl der Menschen, die in diesem Jahrzehnt ihre Länder verlassen haben, ist erschreckend hoch: rund 10 Millionen Auswanderer pro Jahr. 1985 lebten 30 Millionen Menschen in der Fremde. Heute sind es rund 130 Millionen. Ein Teil dieses Kapitels handelt ausschließlich von Kindern von Flüchtlingen und Auswanderer, die Opfer von Katastrophen geworden sind. Es sind Bilder aus aller Welt, eine Vorschau auf die erwachsene Generation des kommenden Jahrhunderts.
 
  Ist das nicht zuviel für eine einzige Ausstellung?
 
  Sie wird in der Tat sehr groß sein. Sie soll gleichzeitig in São Paulo, Rio de Janeiro, Washington, Paris, Rom, Hamburg und Barcelona eröffnet werden. Die Ausstellung ist so konzipiert, daß nach der Eröffnung einzelne Kapitel in kleinere Städte reisen, also in Wanderausstellungen gezeigt werden können. Ferner soll es im Rahmen der Ausstellung Konferenzen und Diskussionsveranstaltungen über die aufgeworfenen Fragen geben. Wenn möglich, sollen diese der Teilnahme von Indios, Landlosen, Obdachlosen und allen Gruppen offenstehen, die darüber diskutieren wollen.
 
  Was erwarten Sie sich davon?
 
  Ich erhoffe mir eine große Debatte. Ich will vom großen Drama des Umbruchs der Menschheitsfamilie an der Jahrtausendwende erzählen. Meine Arbeit als Fotograf während der 90er Jahre hat mir gezeigt, daß die Globalisierung Realität ist. Aber man redet nur von Globalisierung der Finanzen, der Geschäfte, der Information und der Währung. Von der Globalisierung des Menschen redet man nicht. Und es ist die Globalisierung von 95% der Weltbevölkerung, die unter den Auswirkungen jener anderen Globalisierung leidet. 1975, als ich mich mit Flüchtlingslagern in Afrika zu beschäftigen begann, bargen diese 30.000 bis 40.000 Menschen. Das größte, in Äthiopien, erreichte 92.000 Flüchtlinge. Gegenwärtig finden sich im Kongo Lager mit 500.000 bis 600.000 Menschen.
 
  Wohin kann eine solche Diskussion führen?
 
  Zuzugestehen, daß die Menschen das Recht haben, zu wählen, in welchem Teil der Welt sie leben wollen. Dies steht übrigens in der Charta der UNO geschrieben. Davon handelt die Ausstellung. Ich werde meine Globalisierungsgeschichte vorstellen.

Anmerkungen
1. IBAMA: Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renovÿveis, die brasilianische Umweltbehörde.
  2. Mata Atlantica war der ursprüngliche dichte Wald entlang der brasilianischen Küste. Nach der Kolonisierung durch die Portugiesen im 16. Jahrhundert wurde er durch Holzausbeutung, u.a. für die Befeuerung der Zuckersiedereien, durch Brandrodung und Besiedlung fast vollkommen zerstört.
 


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