Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.06 vom 18.03.1999, Seite 10

Programmdebatte

Koalitionsfähig um jeden Preis?

Das 1993 beschlossene PDS-Programm soll durch ein neues abgelöst werden. Nach dem PDS-Parteitag vom Januar 1999 soll noch in diesem Jahr eine Programmkommission gebildet, im Herbst 1999 ein Thesenpapier zum Charakter des Programms veröffentlicht, im Sommer 2000 ein entsprechender Entwurf vorgelegt und das neue Programm dann im ersten Halbjahr 2001 verabschiedet werden.
  Mit diesem veritablen Dreijahresplan soll zwölf Jahre nach Gründung der PDS und ein gutes Jahr vor der nächsten Bundestagswahl der PDS ein neues Programm verpaßt werden. Gleichzeitig gaben führende Vertreter der PDS bereits jetzt die Losung aus: Die PDS müsse im Jahr 2002 auch auf Bundesebene koalitionsfähig sein.
  Die Parallele zum "Godesberger Programm" der SPD ist augenfällig. Dieses wurde Ende 1959, 13 Jahre nach dem ersten SPD-Parteitag im Nachkriegsdeutschland verabschiedet. Sein wesentlicher Inhalt waren das Ja zur "Marktwirtschaft", zur Nato und zur Bundeswehr. Vor allem sollte damit die SPD "regierungs-" oder "koalitionsfähig" gemacht werden. Das "Godesberger Programm" wurde eineinhalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl (vom September 1961) verabschiedet. Es brachte dann nicht den Wahlsieg; der "Bürgerblock" CDU/FDP ging als Sieger hervor. Das Godesberger Programm diente in erster Linie zur Ausgrenzung der Linken in der SPD, insbesondere des damaligen SPD-nahen Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). Fortan galt ein Unvereinbarkeitsbeschluß SPD-SDS. Ironie der Geschichte: Der von der SPD damit "abgesprengte" SDS wurde später zur Keimzelle der 1968er Revolte.
  In der bisherigen Debatte zum PDS-Programm sind drei Mankos erkennbar:
  Erstens wird mit angeblich "neuen" Aussagen, die jedoch bereits im 1993er PDS-Programm stehen, die "Notwendigkeit" der Programmdebatte begründet. Gleichzeitig werden solche Themen, die wirklich neu sind und die einer programmatischen Aufarbeitung harren, nicht benannt.
  Zweitens werden vage Aussagen über "Entwicklungspfade der PDS" in Nebelbänke genagelt, hinter denen sich dann leicht nach rechts abdriften läßt.
  Zum dritten werden zentrale Aussagen des noch gültigen PDS-Programms nicht erwähnt oder als bereits "erledigt" behandelt.
 
  Neue Erkenntnisse?
 
  André Brie und Dieter Klein argumentierten in einem Beitrag im Freitag, "die neue programmatische Debatte" sei u.a. deshalb erforderlich, weil es "tiefe Umbrüche in den Beschäftigungsverhältnissen, in der Beziehung zwischen Mensch und Natur" gebe, weil die "globalen Finanzmärkte die politischen Handlungsbedingungen... verändern" würden. Bernd Ihme spricht in einem Artikel gar von "Wandlungsprozessen... in den Wertevorstellungen der Menschen", die "für unser programmatisches Verständnis zu erschließen" wären. Und Lothar Bisky sagte in seinem Referat zum Parteitag im Januar 1999: "Im Angesicht der gravierenden Wandlungen, mit denen umzugehen ist, macht sich jeder Akteur in dieser Gesellschaft, der sich im Besitz der allgemeingültigen Antworten weiß, etwas vor."
  Verblüffend ist jedoch: Auf all die bisher behaupteten "neuen Erkenntnisse", Wandlungen, "Veränderungen" geht das bisherige PDS-Programm ein. Was, so fragt der des Programms kundige Partei-Arbeiter, ist in diesem Programm "nicht in aktueller, moderner und politikfähiger Weise bestimmt" (Brie/Klein)?
  Ist etwa der Satz: "Die transnationalen Konzerne werden immer mächtiger" nicht politikfähig? Ist die 1993er Feststellung: "Die ökologische Krise ... entspringt dem immer expansiveren Austausch zwischen Mensch und Natur, dem ausbeuterischen Charakter des kapitalistischen Produktions- und Konsummodells und der Zerstörung traditioneller Lebensformen in den unterentwickelt gehaltenen Ländern", nicht ausreichend "modern" formuliert? Sind die Feststellungen, wonach sich die "Sozialstruktur der Gesellschaft stark verändert", wonach "die Erwerbsarbeit nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche (erfaßt) und (sich) weiter differenziert", wonach es in diesem Zusammenhang "widerspruchsvolle Individualisierungsprozesse" geben würde", nicht zutreffend? Welche neuen "Wertevorstellungen" gar soll es heute im Vergleich zu 1993 - und im Vergleich zu dem im bisherigen PDS-Programm Gesagten - geben?
  Tatsächlich gibt es - von denjenigen, die eine neue Programmdebatte für erforderlich halten, unerwähnte - neue Entwicklungen, derer sich ein neues Programm annehmen muß. Die Weltmacht deutscher Konzerne (Daimler mit Chrysler oder Hoesch mit Rhône-Poulenc) und deutscher Banken (Deutsche Bank mit Morgan Grenfell und Bankers Trust) hat sprunghaft zugenommen.
  Gleichzeitig gibt es die Tendenz, daß demnächst Europa nach der Pfeife eines gewaltigen Rüstungskonzerns unter dem Zeichen von Daimler-Dasa tanzt. Die Krisenhaftigkeit des Spätkapitalismus (Asien-, Rußland-, Japan-Krise) und dessen Unfähigkeit, Erwerbslosigkeit und Hunger abzubauen, ist deutlicher denn je. Die Gefahr einer neuen Weltwirtschaftskrise ist ernst. Die Kontinuität der Politik einer "rot-grünen" Bundesregierung mit der vorausgegangenen ist größer als erwartet.
  Neu könnte auch sein, eine tiefere Analyse der DDR zu liefern, zu dokumentieren, warum bei dieser "alles, nur nicht der Sozialismus real war" (Rudi Dutschke) und weshalb die von Lothar Bisky getroffene Feststellung: "Der Antifaschist Walter Ulbricht war einer der wenigen Staatsmänner von Format, die die DDR hervorgebracht hat", unhaltbar ist.
  Teil einer solchen Auseinandersetzung wäre eine Debatte über Bries jüngste These, wonach der Staatssozialismus mit seinem Ziel, "alles unterzuordnen unter einen gestaltenden gesellschaftlichen Willen", "totalitärer" als der Nationalsozialismus gewesen sei - ein Vergleich, der auch in der gewählten Eingrenzung unhaltbar ist. (Der Nationalsozialismus hat seinen "Willen, alles unterzuordnen" eben auch durch die massenhafte physische Vernichtung, durch viel weitreichendere ideologische Indoktrination und weit rigorosere Verbote zur Beschaffung alternativer Information, durch sich bedingende Institutionen wie den "Lebensborn" und Vernichtungslager dokumentiert.)
  Neu könnte sein, im Rahmen der Globalisierungsdebatte am Beispiel der VR China zu dokumentieren, wie die Führung einer "Kommunistischen Partei" die Herausbildung eines Manchesterkapitalismus übelster Sorte mit diktatorischen Formen der Herrschaftsausübung (Massaker auf dem Tienanmen-Platz; Todesstrafen als Volksspektakel) verknüpft. Letzteres erforderte eine kritische Bilanz der Beziehungen zwischen PDS und der chinesischen KP, zu denen es nach einem PDS-Besuch in Peking 1997 noch geheißen hatte: "Die Kontakte zwischen der KP Chinas und der PDS sollen intensiviert werden."
  Neu könnte sein, eine umfassende Antwort auf den verschärften Rassismus und das gestärkte Patriarchat zu geben. Wie ist es mit den programmatischen Grundsätzen der PDS zu vereinen, wenn sich der Wahlkampfchef der PDS mit rechtsradikalen Burschenschaftlern trifft und hinterher die halbfaschistische Zeitschrift Junge Freiheit berichtet, beide Seiten seien "nicht im Bösen auseinandergegangen"? Wie läßt sich der feministische Anspruch der PDS damit vereinbaren, daß der Briefkopf des PDS-Pressedienstes seit 1997 lautet: "PDS - Die Sozialisten", wie damit, daß für Partei und Fraktions-Spitze verlautbart wird, die PDS sei für eine weiblich-männliche "Doppelspitze" "nicht reif"?
  All diese wirklich neuen Themen werden von denen, die bisher die neue Programmdebatte führen, nicht einmal angesprochen.
 
  Vage Aussagen über einen "neuen Entwicklungspfad"
 
  Viele von denen, die die aktuelle Programmdebatte in der PDS betreiben, schwadronieren von "offenen Fragen" und deuten einen Weg ins Ungefähre an, der alles zu bedeuten scheint. Frühere klare Aussagen zum sozialistischen Ziel des Weges, die im (noch geltenden) PDS-Programm enthalten sind, sind hier nicht (mehr) zu finden.
  So wird in dem erwähnten Beitrag von Brie und Klein als "Kernfrage für die Linke" formuliert: "Welche anderen Zugänge zur Lösung der gesellschaftlichen Großprobleme als der Versuch, ihnen durch weltmarkt- und konsumorientiertes Wachstum beizukommen, könnten entwickelt werden?"
  Natürlich sind Fragen ohne Antworten legitim. Doch das geltende PDS-Programm glaubte gerade bei der genannten Frage Antworten zu wissen - u.a. die, daß "die Herrschaft des Kapitals überwunden werden" müsse. Ist das heute falsch, weil nicht modern?
  In diesem Zusammenhang drechselten Brie/Klein auch: "Die Linke hat einen Entwicklungspfad herauszufinden, der in den Realitäten der Gegenwart verläuft und doch für soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu öffnen ist". Laut Konkretisierung dieser Aussage hat der erforderliche "ökologische Umbau ... die bestehenden Stärken der Industrie und moderne Technologien miteinander ... mit starker Ausprägung regionalwirtschaftlicher Kreisläufe zu verbinden."
  "Die Industrie" - hier kann nur die vorherrschende, große, kapitalistische gemeint sein - ist heute mehr denn je unökologisch, zerstörerisch, alle regionalen Strukturen niederreißend: 60 Prozent des Umsatzes der 100 größten Konzerne jedes einzelnen G7-Staats entfallen heute auf Öl und Ölverarbeitung, Auto, Rüstung, Reifen, Luftfahrt. Die Struktur dieser Industrie ist bereits auf der Gebrauchswertseite auf Zerstörung ausgerichtet - von den verheerenden Wirkungen der entscheidenden Profitlogik ganz zu schweigen. Diese Zerstörungen sind in unseren Städten, in der Dritten Welt, in Osteuropa zu beobachten.
  Oder nehmen wir erneut China: Dort werden derzeit von der internationalen Autoindustrie und der KP Chinas das bestehende, umfassende Schienennetz zerstört, eine bestehende Universität für Eisenbahnwesen geschlossen, eine Million(!) Bahnarbeiter bis 2003 entlassen. Gleichzeitig werden Straßenbau und die Autoproduktion - ein "Volksauto", wie 1938ff., inbegriffen! - massiv gefördert.
  Unter solchen "Rahmenbedingungen" heißt ein "in den Realitäten der Gegenwart" verlaufender Entwicklungspfad", diese weltweiten Zerstörungen mitsamt der Bedrohung existentieller Bedingungen für menschliches Leben auf dem Planeten Erde hinzunehmen.
  Hier müßte der Charakter des neuen PDS-Programms als gegen die große kapitalistische Industrie gerichtet - und damit Chancen gewährend für eine selbstverwaltete Produktion, aber auch für andere Eigentumsformen, privates Kleineigentum inbegriffen - präzisiert werden.
 
  Spekulation auf Unkenntnis
 
  Das 1993er Programm weist viele wichtige und auch heute überzeugende Aussagen aus, die in der beginnenden PDS-Programmdebatte ausgeblendet werden. Hier seien drei davon angeführt:
  Erstens: Das 1993er Programm fordert umfassende Abrüstung und die "Auflösung von Nato und WEU". Brie/Klein in ihrem Debattenbeitrag, aber auch Lothar Bisky in der Parteitagsrede, verlieren dazu kein Wort. Dabei prägt diese Position bisher Praxis und Programm der PDS positiv. Und fürwahr neu gegenüber 1993 ist, daß die Bundeswehr auf dem Balkan kurz vor dem Eintritt in den Bodenkrieg steht, was 1993 noch für alle (!) Parteien undenkbar schien. Neu ist, daß die Grünen und die SPD diesen Kurs uneingeschränkt mittragen.
  Ein neues PDS-Programm muß sich dazu verhalten. Dieter Klein tat dies auf seine Art und hat im Parteivorstand im Rahmen der Debatte zum PDS-Europawahlprogramm eine europäische Friedensstreitmacht gefordert, die kaum vom WEU-Projekt unterscheidbar ist. Der Vorstand hat erst nach zweideutigen Voten einen solchen Passus wieder zurückgezogen.
  Damit ist für mich - gerade auch vor dem Hintergrund der deutschen und SPD-Geschichte - klar: Für die PDS gilt, was zuvor für die SPD vor 1914 und vor 1959 und was für die Grüne bis vor kurzem galt: Der "Rubikon" zur Charakterisierung der PDS wird die Frage sein: Verweigert sie sich weiterhin dem imperialistischen Krieg? Dies wird auch entscheidend in der Programmdebatte werden. Daß die Propagandisten für ein neues Programm die Frage "Krieg/Frieden" erst gar nicht anschneiden, spricht für diese These.
  Zweitens forderte das bisher gültige PDS-Programm, die "Dominanz des privatkapitalistischen Eigentums" zu "überwinden". Brie/Klein schreiben lediglich von einer "Überwindung der Profitdominanz". Lothar Bisky formulierte Anfang 1999 auf dem Parteitag: "Die Macht jener anonymen Besitzergruppen, die die Welt nach der Logik des Shareholder- Value-Konzepts dirigieren, muß zurückgeführt werden."
  Ich meine: Die Eigentumsform bei den großen Konzernen und Banken und die Notwendigkeit ihrer realen Vergesellschaftung sind entscheidend. Auf andere Weise läßt sich die "Profitdominanz" - und damit der zerstörerische Gang der kapitalistischen Dinge - nicht "überwinden" und auch nicht "zurückführen". Das Gegenteil ist der Fall: Deren Macht wird immer übermächtiger, die Ohnmacht der Menschen immer bedrückender.
  Auch hier muß ein neues PDS-Programm Flagge zeigen. Die Scheidelinie ist und bleibt der bisher im PDS-Programm verankerte Antikapitalismus, also eine gegen die große kapitalistische Industrie und gegen die Banken gerichtetete Politik.
  Schließlich - und drittens - findet sich im PDS-Programm der Satz: Wir lassen "uns davon leiten, daß Veränderungen in der Gesellschaft nur bewirkt werden können, wenn Betroffene ihre Angelegenheiten selbst in die Hände nehmen ... Die PDS hält den außerparlamentarischen Kampf um gesellschaftliche Veränderungen für entscheidend ... Die PDS will zum Dialog und zur Zusammenarbeit der Linken ... weltweit beitragen und sich dafür einsetzen, daß breite linke Bewegungen entstehen."
  Mit solchen Formulierungen definiert sich die PDS als eine Partei, die sich als Instrument für das sozialistische Ziel sieht - und nicht als Selbstzweck. Das klingt heute vielfach ganz anders - so äußerte sich Lothar Bisky im Januar 1999 auf dem Parteitag wie folgt: "Die Partei ist das Alpha und Omega der politischen Arbeit jedes einzelnen ... Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, diese Partei zu bewahren."
  Von anderen Bewegungen und Parteien, gar von der entscheidenden Kraft der außerparlamentarischen Aktion war da keine Rede mehr.
  Man vergleiche Sätze wie den vom "Alpha und Omega" mit denen, die Karl Marx und Friedrich Engels über "die Partei" gebrauchten - bei der sie jeden Parteipatriotismus ablehnten und mit der deutschen Mentalität der Vereinsmeierei in Verbindung brachten. Für Marx und Engels war eine Parteistruktur allein Mittel zum Zweck.
  Wir sollten heute festhalten: "Alpha und Omega" jeder politischen Arbeit hat für uns allein DER MENSCH zu sein. Alles andere ist Parteienfetischismus, der gerade im Stalinismus fatale Folgen hatte.
  Vor dem Hintergrund der rot-grünen Regierung in Bonn und der PDS-Tolerierungs- und Koalitionsmodelle in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern muß ein neues PDS-Programm vor allem das Primat der außerparlamentarischen Aktion und die Notwendigkeit unseres Engagements für die sozialistische Sache und für die Menschen zum Ausdruck bringen.
  Winfried Wolf
 


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