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Das 1993 beschlossene PDS-Programm soll durch ein neues abgelöst werden. Nach dem PDS-Parteitag
vom Januar 1999 soll noch in diesem Jahr eine Programmkommission gebildet, im Herbst 1999 ein Thesenpapier zum Charakter des
Programms veröffentlicht, im Sommer 2000 ein entsprechender Entwurf vorgelegt und das neue Programm dann im ersten Halbjahr 2001
verabschiedet werden.
Mit diesem veritablen Dreijahresplan soll zwölf Jahre nach Gründung der PDS und ein gutes Jahr vor der nächsten
Bundestagswahl der PDS ein neues Programm verpaßt werden. Gleichzeitig gaben führende Vertreter der PDS bereits jetzt die
Losung aus: Die PDS müsse im Jahr 2002 auch auf Bundesebene koalitionsfähig sein.
Die Parallele zum "Godesberger Programm" der SPD ist augenfällig. Dieses wurde Ende 1959, 13 Jahre nach dem ersten
SPD-Parteitag im Nachkriegsdeutschland verabschiedet. Sein wesentlicher Inhalt waren das Ja zur "Marktwirtschaft", zur Nato und
zur Bundeswehr. Vor allem sollte damit die SPD "regierungs-" oder "koalitionsfähig" gemacht werden. Das
"Godesberger Programm" wurde eineinhalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl (vom September 1961) verabschiedet. Es
brachte dann nicht den Wahlsieg; der "Bürgerblock" CDU/FDP ging als Sieger hervor. Das Godesberger Programm diente in
erster Linie zur Ausgrenzung der Linken in der SPD, insbesondere des damaligen SPD-nahen Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS).
Fortan galt ein Unvereinbarkeitsbeschluß SPD-SDS. Ironie der Geschichte: Der von der SPD damit "abgesprengte" SDS
wurde später zur Keimzelle der 1968er Revolte.
In der bisherigen Debatte zum PDS-Programm sind drei Mankos erkennbar:
Erstens wird mit angeblich "neuen" Aussagen, die jedoch bereits im 1993er PDS-Programm stehen, die
"Notwendigkeit" der Programmdebatte begründet. Gleichzeitig werden solche Themen, die wirklich neu sind und die einer
programmatischen Aufarbeitung harren, nicht benannt.
Zweitens werden vage Aussagen über "Entwicklungspfade der PDS" in Nebelbänke genagelt, hinter denen sich dann
leicht nach rechts abdriften läßt.
Zum dritten werden zentrale Aussagen des noch gültigen PDS-Programms nicht erwähnt oder als bereits "erledigt"
behandelt.
Neue Erkenntnisse?
André Brie und Dieter Klein argumentierten in einem Beitrag im Freitag, "die neue programmatische Debatte" sei u.a.
deshalb erforderlich, weil es "tiefe Umbrüche in den Beschäftigungsverhältnissen, in der Beziehung zwischen Mensch
und Natur" gebe, weil die "globalen Finanzmärkte die politischen Handlungsbedingungen... verändern"
würden. Bernd Ihme spricht in einem Artikel gar von "Wandlungsprozessen... in den Wertevorstellungen der Menschen", die
"für unser programmatisches Verständnis zu erschließen" wären. Und Lothar Bisky sagte in seinem Referat
zum Parteitag im Januar 1999: "Im Angesicht der gravierenden Wandlungen, mit denen umzugehen ist, macht sich jeder Akteur in dieser
Gesellschaft, der sich im Besitz der allgemeingültigen Antworten weiß, etwas vor."
Verblüffend ist jedoch: Auf all die bisher behaupteten "neuen Erkenntnisse", Wandlungen, "Veränderungen"
geht das bisherige PDS-Programm ein. Was, so fragt der des Programms kundige Partei-Arbeiter, ist in diesem Programm "nicht in
aktueller, moderner und politikfähiger Weise bestimmt" (Brie/Klein)?
Ist etwa der Satz: "Die transnationalen Konzerne werden immer mächtiger" nicht politikfähig? Ist die 1993er
Feststellung: "Die ökologische Krise ... entspringt dem immer expansiveren Austausch zwischen Mensch und Natur, dem
ausbeuterischen Charakter des kapitalistischen Produktions- und Konsummodells und der Zerstörung traditioneller Lebensformen in den
unterentwickelt gehaltenen Ländern", nicht ausreichend "modern" formuliert? Sind die Feststellungen, wonach sich die
"Sozialstruktur der Gesellschaft stark verändert", wonach "die Erwerbsarbeit nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche
(erfaßt) und (sich) weiter differenziert", wonach es in diesem Zusammenhang "widerspruchsvolle
Individualisierungsprozesse" geben würde", nicht zutreffend? Welche neuen "Wertevorstellungen" gar soll es
heute im Vergleich zu 1993 - und im Vergleich zu dem im bisherigen PDS-Programm Gesagten - geben?
Tatsächlich gibt es - von denjenigen, die eine neue Programmdebatte für erforderlich halten, unerwähnte - neue
Entwicklungen, derer sich ein neues Programm annehmen muß. Die Weltmacht deutscher Konzerne (Daimler mit Chrysler oder Hoesch
mit Rhône-Poulenc) und deutscher Banken (Deutsche Bank mit Morgan Grenfell und Bankers Trust) hat sprunghaft zugenommen.
Gleichzeitig gibt es die Tendenz, daß demnächst Europa nach der Pfeife eines gewaltigen Rüstungskonzerns unter dem
Zeichen von Daimler-Dasa tanzt. Die Krisenhaftigkeit des Spätkapitalismus (Asien-, Rußland-, Japan-Krise) und dessen
Unfähigkeit, Erwerbslosigkeit und Hunger abzubauen, ist deutlicher denn je. Die Gefahr einer neuen Weltwirtschaftskrise ist ernst. Die
Kontinuität der Politik einer "rot-grünen" Bundesregierung mit der vorausgegangenen ist größer als
erwartet.
Neu könnte auch sein, eine tiefere Analyse der DDR zu liefern, zu dokumentieren, warum bei dieser "alles, nur nicht der
Sozialismus real war" (Rudi Dutschke) und weshalb die von Lothar Bisky getroffene Feststellung: "Der Antifaschist Walter
Ulbricht war einer der wenigen Staatsmänner von Format, die die DDR hervorgebracht hat", unhaltbar ist.
Teil einer solchen Auseinandersetzung wäre eine Debatte über Bries jüngste These, wonach der Staatssozialismus mit
seinem Ziel, "alles unterzuordnen unter einen gestaltenden gesellschaftlichen Willen", "totalitärer" als der
Nationalsozialismus gewesen sei - ein Vergleich, der auch in der gewählten Eingrenzung unhaltbar ist. (Der Nationalsozialismus hat
seinen "Willen, alles unterzuordnen" eben auch durch die massenhafte physische Vernichtung, durch viel weitreichendere
ideologische Indoktrination und weit rigorosere Verbote zur Beschaffung alternativer Information, durch sich bedingende Institutionen wie den
"Lebensborn" und Vernichtungslager dokumentiert.)
Neu könnte sein, im Rahmen der Globalisierungsdebatte am Beispiel der VR China zu dokumentieren, wie die Führung einer
"Kommunistischen Partei" die Herausbildung eines Manchesterkapitalismus übelster Sorte mit diktatorischen Formen der
Herrschaftsausübung (Massaker auf dem Tienanmen-Platz; Todesstrafen als Volksspektakel) verknüpft. Letzteres erforderte eine
kritische Bilanz der Beziehungen zwischen PDS und der chinesischen KP, zu denen es nach einem PDS-Besuch in Peking 1997 noch
geheißen hatte: "Die Kontakte zwischen der KP Chinas und der PDS sollen intensiviert werden."
Neu könnte sein, eine umfassende Antwort auf den verschärften Rassismus und das gestärkte Patriarchat zu geben. Wie ist es
mit den programmatischen Grundsätzen der PDS zu vereinen, wenn sich der Wahlkampfchef der PDS mit rechtsradikalen
Burschenschaftlern trifft und hinterher die halbfaschistische Zeitschrift Junge Freiheit berichtet, beide Seiten seien "nicht im Bösen
auseinandergegangen"? Wie läßt sich der feministische Anspruch der PDS damit vereinbaren, daß der Briefkopf des
PDS-Pressedienstes seit 1997 lautet: "PDS - Die Sozialisten", wie damit, daß für Partei und Fraktions-Spitze
verlautbart wird, die PDS sei für eine weiblich-männliche "Doppelspitze" "nicht reif"?
All diese wirklich neuen Themen werden von denen, die bisher die neue Programmdebatte führen, nicht einmal angesprochen.
Vage Aussagen über einen "neuen Entwicklungspfad"
Viele von denen, die die aktuelle Programmdebatte in der PDS betreiben, schwadronieren von "offenen Fragen" und deuten einen
Weg ins Ungefähre an, der alles zu bedeuten scheint. Frühere klare Aussagen zum sozialistischen Ziel des Weges, die im (noch
geltenden) PDS-Programm enthalten sind, sind hier nicht (mehr) zu finden.
So wird in dem erwähnten Beitrag von Brie und Klein als "Kernfrage für die Linke" formuliert: "Welche anderen
Zugänge zur Lösung der gesellschaftlichen Großprobleme als der Versuch, ihnen durch weltmarkt- und konsumorientiertes
Wachstum beizukommen, könnten entwickelt werden?"
Natürlich sind Fragen ohne Antworten legitim. Doch das geltende PDS-Programm glaubte gerade bei der genannten Frage Antworten zu
wissen - u.a. die, daß "die Herrschaft des Kapitals überwunden werden" müsse. Ist das heute falsch, weil nicht
modern?
In diesem Zusammenhang drechselten Brie/Klein auch: "Die Linke hat einen Entwicklungspfad herauszufinden, der in den
Realitäten der Gegenwart verläuft und doch für soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu öffnen ist". Laut
Konkretisierung dieser Aussage hat der erforderliche "ökologische Umbau ... die bestehenden Stärken der Industrie und
moderne Technologien miteinander ... mit starker Ausprägung regionalwirtschaftlicher Kreisläufe zu verbinden."
"Die Industrie" - hier kann nur die vorherrschende, große, kapitalistische gemeint sein - ist heute mehr denn je
unökologisch, zerstörerisch, alle regionalen Strukturen niederreißend: 60 Prozent des Umsatzes der 100 größten
Konzerne jedes einzelnen G7-Staats entfallen heute auf Öl und Ölverarbeitung, Auto, Rüstung, Reifen, Luftfahrt. Die Struktur
dieser Industrie ist bereits auf der Gebrauchswertseite auf Zerstörung ausgerichtet - von den verheerenden Wirkungen der entscheidenden
Profitlogik ganz zu schweigen. Diese Zerstörungen sind in unseren Städten, in der Dritten Welt, in Osteuropa zu
beobachten.
Oder nehmen wir erneut China: Dort werden derzeit von der internationalen Autoindustrie und der KP Chinas das bestehende, umfassende
Schienennetz zerstört, eine bestehende Universität für Eisenbahnwesen geschlossen, eine Million(!) Bahnarbeiter bis 2003
entlassen. Gleichzeitig werden Straßenbau und die Autoproduktion - ein "Volksauto", wie 1938ff., inbegriffen! - massiv
gefördert.
Unter solchen "Rahmenbedingungen" heißt ein "in den Realitäten der Gegenwart" verlaufender
Entwicklungspfad", diese weltweiten Zerstörungen mitsamt der Bedrohung existentieller Bedingungen für menschliches
Leben auf dem Planeten Erde hinzunehmen.
Hier müßte der Charakter des neuen PDS-Programms als gegen die große kapitalistische Industrie gerichtet - und damit
Chancen gewährend für eine selbstverwaltete Produktion, aber auch für andere Eigentumsformen, privates Kleineigentum
inbegriffen - präzisiert werden.
Spekulation auf Unkenntnis
Das 1993er Programm weist viele wichtige und auch heute überzeugende Aussagen aus, die in der beginnenden PDS-Programmdebatte
ausgeblendet werden. Hier seien drei davon angeführt:
Erstens: Das 1993er Programm fordert umfassende Abrüstung und die "Auflösung von Nato und WEU". Brie/Klein in
ihrem Debattenbeitrag, aber auch Lothar Bisky in der Parteitagsrede, verlieren dazu kein Wort. Dabei prägt diese Position bisher Praxis
und Programm der PDS positiv. Und fürwahr neu gegenüber 1993 ist, daß die Bundeswehr auf dem Balkan kurz vor dem
Eintritt in den Bodenkrieg steht, was 1993 noch für alle (!) Parteien undenkbar schien. Neu ist, daß die Grünen und die SPD
diesen Kurs uneingeschränkt mittragen.
Ein neues PDS-Programm muß sich dazu verhalten. Dieter Klein tat dies auf seine Art und hat im Parteivorstand im Rahmen der Debatte
zum PDS-Europawahlprogramm eine europäische Friedensstreitmacht gefordert, die kaum vom WEU-Projekt unterscheidbar ist. Der
Vorstand hat erst nach zweideutigen Voten einen solchen Passus wieder zurückgezogen.
Damit ist für mich - gerade auch vor dem Hintergrund der deutschen und SPD-Geschichte - klar: Für die PDS gilt, was zuvor
für die SPD vor 1914 und vor 1959 und was für die Grüne bis vor kurzem galt: Der "Rubikon" zur
Charakterisierung der PDS wird die Frage sein: Verweigert sie sich weiterhin dem imperialistischen Krieg? Dies wird auch entscheidend in
der Programmdebatte werden. Daß die Propagandisten für ein neues Programm die Frage "Krieg/Frieden" erst gar nicht
anschneiden, spricht für diese These.
Zweitens forderte das bisher gültige PDS-Programm, die "Dominanz des privatkapitalistischen Eigentums" zu
"überwinden". Brie/Klein schreiben lediglich von einer "Überwindung der Profitdominanz". Lothar Bisky
formulierte Anfang 1999 auf dem Parteitag: "Die Macht jener anonymen Besitzergruppen, die die Welt nach der Logik des Shareholder-
Value-Konzepts dirigieren, muß zurückgeführt werden."
Ich meine: Die Eigentumsform bei den großen Konzernen und Banken und die Notwendigkeit ihrer realen Vergesellschaftung sind
entscheidend. Auf andere Weise läßt sich die "Profitdominanz" - und damit der zerstörerische Gang der
kapitalistischen Dinge - nicht "überwinden" und auch nicht "zurückführen". Das Gegenteil ist der Fall:
Deren Macht wird immer übermächtiger, die Ohnmacht der Menschen immer bedrückender.
Auch hier muß ein neues PDS-Programm Flagge zeigen. Die Scheidelinie ist und bleibt der bisher im PDS-Programm verankerte
Antikapitalismus, also eine gegen die große kapitalistische Industrie und gegen die Banken gerichtetete Politik.
Schließlich - und drittens - findet sich im PDS-Programm der Satz: Wir lassen "uns davon leiten, daß Veränderungen in
der Gesellschaft nur bewirkt werden können, wenn Betroffene ihre Angelegenheiten selbst in die Hände nehmen ... Die PDS
hält den außerparlamentarischen Kampf um gesellschaftliche Veränderungen für entscheidend ... Die PDS will zum
Dialog und zur Zusammenarbeit der Linken ... weltweit beitragen und sich dafür einsetzen, daß breite linke Bewegungen
entstehen."
Mit solchen Formulierungen definiert sich die PDS als eine Partei, die sich als Instrument für das sozialistische Ziel sieht - und nicht als
Selbstzweck. Das klingt heute vielfach ganz anders - so äußerte sich Lothar Bisky im Januar 1999 auf dem Parteitag wie folgt:
"Die Partei ist das Alpha und Omega der politischen Arbeit jedes einzelnen ... Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, diese Partei zu
bewahren."
Von anderen Bewegungen und Parteien, gar von der entscheidenden Kraft der außerparlamentarischen Aktion war da keine Rede mehr.
Man vergleiche Sätze wie den vom "Alpha und Omega" mit denen, die Karl Marx und Friedrich Engels über "die
Partei" gebrauchten - bei der sie jeden Parteipatriotismus ablehnten und mit der deutschen Mentalität der Vereinsmeierei in
Verbindung brachten. Für Marx und Engels war eine Parteistruktur allein Mittel zum Zweck.
Wir sollten heute festhalten: "Alpha und Omega" jeder politischen Arbeit hat für uns allein DER MENSCH zu sein. Alles
andere ist Parteienfetischismus, der gerade im Stalinismus fatale Folgen hatte.
Vor dem Hintergrund der rot-grünen Regierung in Bonn und der PDS-Tolerierungs- und Koalitionsmodelle in Sachsen-Anhalt und in
Mecklenburg-Vorpommern muß ein neues PDS-Programm vor allem das Primat der außerparlamentarischen Aktion und die
Notwendigkeit unseres Engagements für die sozialistische Sache und für die Menschen zum Ausdruck bringen.
Winfried Wolf