Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.06 vom 18.03.1999, Seite 12

Krieg und Frieden

Dokumentation einer Kontroverse

Eine Veröffentlichung Winfried Wolfs in der "jungen Welt" (26.2.) hat harsche Reaktionen seitens der Parteispitze provoziert. Wolf wittert in dem zeitgleichen positiven Bezug auf Bernstein und dem Antrag von A.Brie und D.Klein, sich im Europawahlprogramm für eine europäische Friedenstruppe auszusprechen, die Öffnung einer Flanke für ein Ja zum imperialistischen Krieg. Wir dokumentieren die Kontroverse.
 
 

Bernstein, Brie und der Krieg

Immer wieder verweist André Brie, der von sich nach seinem Ausscheiden aus dem Parteivorstand sagte, er scheide damit nicht als "Chefdenker" der PDS aus, auf den sozialdemokratischen Politiker und Theoretiker Eduard Bernstein. In der neuen deutschen Brie- Homepage, einem ganzseitigen ND-Interview mit dem Chefdenker äußert dieser: "Es ist schrecklich, wie die geistigen Feindbilder der DDR fortleben und, noch schlimmer, wie der intellektuelle Reichtum Bernsteins ... brachliegt" (ND vom 13.2.99).
  In der Regel fällt einem bei Bernstein dessen Philosophie "Das Ziel ist nichts, der Weg ist alles" ein. Der Schriftgelehrte Brie kontert darauf, das habe Bernstein "so nie gesagt" - ebenfalls im ND-Interview. Tatsächlich hat dies Bernstein "nicht so", jedoch noch schärfer formuliert. Er schrieb in der Neuen Zeit 1898: "Das Endziel, was es immer sei, ist mir nichts, die Bewegung alles."
  Nun fällt einem normalerweise beim "Ziel" das sozialistische und beim "Weg" der "Reformismus" bzw. der "Revisionismus" ein. Das mag dem einen und der anderen abstrakt und wenig relevant für die praktische, zumal für die PDS-Politik erscheinen. Doch Eduard Bernstein war gerade Praktiker, und damals wie heute war die entscheidende Frage beim "Weg" die Frage von Krieg und Frieden, die Frage, ob die Linke Ja zum imperialistischen Krieg sagt. Und wenn wir Bernstein nicht "brachliegen" lassen, sondern dessen "intellektuellen Reichtum" auch hier ausschöpfen, dann stoßen wir darauf: Bernstein war der erste Chefdenker, der das Ja zum imperialistischen Krieg theoretisch begründete - 15 Jahre vor der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914. 1899 äußerte sich Bernstein zur Frage der deutschen Kolonialpolitik in China wie folgt:
  Die Besetzung Kiautschous durch deutsche Truppen sei "nicht der schlechteste Streich der auswärtigen Politik gewesen. Denn das deutsche Volk hat ein großes Interesse daran, daß Chinas Handelspolitik nicht dem Interesse einer einzelnen fremden Macht oder einer Koalition fremder Mächte untergeordnet wird - kurz, daß in Bezug auf alle China betreffenden Fragen Deutschland ein entscheidendes Wort mitzureden hat. Sein Handel mit China erheischt ein solches Einspruchsrecht. Insofern nun die Erwerbung der Bucht ein Mittel ist, ihm dieses Einspruchsrecht zu sichern und zu stärken ... liegt meines Erachtens kein Grund vor für die Sozialdemokratie, sich prinzipiell gegen sie aufzulehnen (in: ders., Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899).
  Die Brücken zur aktuellen Debatte sind bereits erkennbar. Hier wird argumentiert werden, Deutschland müsse seinen Einfluß in Europa, auf dem Balkan, in der Türkei usw. wahren. Gerade vor dem Hintergrund von Rambouillet und der Rolle, die die USA dabei zu spielen gedenken, müsse alles getan werden, sich nicht den Interessen "einer einzelnen fremden Macht" unterzuordnen. Und damit ein solches Engagement nicht in "nationalistischen", deutschen Fahrwassern stattfindet, müsse "Europa" gestärkt werden.
  "Europa, wir kommen", so lautet eine PDS-Losung zum Suhler Parteitag. Zum dort zu beschließenden Europawahlprogramm gab es bereits den Antrag auf eine europäische Friedenstruppe, die sich kaum von den Zielen, die die Mächtigen in Europa mit der WEU verfolgen, unterscheidet. Wenn dieser Antrag gestellt wurde, wenn sich dafür eine Mehrheit im Parteivorstand fand und wenn die Passage dann erneut gestrichen wurde, dann ist dies unübersehbar als Versuchsballon zu verstehen.
  Es bleibt dabei: Das Nein oder Ja zum imperialistischen Krieg wird entscheidend für die weitere Entwicklung der Linken und der PDS sein. Die Einfallstore werden dabei einfallsreich gewählt werden. 1990/91 begründeten Teile der Konkret-Redaktion ihr Ja zum Krieg gegen den Irak mit der Verteidigung Israels bzw. mit ihrem Nein zu einem Antisemitismus.
  Eduard Bernstein betrieb in all seinem "intellektuellen Reichtum" den Weg in den Nationalismus mit dem Argument, fremde imperialistische Mächte seien zurückzudrängen. Und natürlich steckt in diesen Begründungen immer ein Kern Wahrheit, der bei der Ausformulierung sozialistischer Politik zu berücksichtigen ist. Doch im Grunde geht es immer um das eine: Die Umkehrung einer konsequent internationalistischen Linken in eine nationalistische - deutsche oder eurozentristische - Kriegspartei.
 
 

Offener Brief

Lieber Genosse Winfried Wolf,
unter der Überschrift "Noch etwas Käse. Heute: Bernstein, Brie und der Krieg" äußerst Du Dich im Feuilleton der Tageszeitung junge Welt vom 26.2.1999.
  Ich unterstelle einmal, daß Du verhindern willst, daß André Brie aussichtsreich auf die Liste der PDS zur Wahl des Europäischen Parlaments gewählt wird. Dafür wirst Du höchstpersönliche und sicherlich auch ideologische Gründe haben. Dein Bestreben ist zwar politisch unklug, aber deshalb nicht illegitim. Nur die Art, in der Du vorgehst, ist völlig indiskutabel, hätte ich Dir auch nicht zugetraut.
  In der schärfsten Auseinandersetzung, selbst mit politischen Gegnern (erst recht mit eigenen Genossinnen und Genossen) kann man zumindest intellektuelle Redlichkeit verlangen. Du aber argumentierst intellektuell unredlich, böswillig, denunziatorisch, verleumderisch.
  Wie sieht Deine Logik aus:
  1. Zu Beginn zitierst Du ein einziges Mal den "Chefdenker" André Brie aus einem Interview mit der Tageszeitung Neues Deutschland vom 13.2.1999 mit der Aussage, Bernstein nicht als Feindbild zu pflegen und seinen "intellektuellen Reichtum" nicht brachliegen zu lassen.
  2. Dann zitierst Du Bernstein aus dem Jahre 1899 dahingehend, daß die deutsche Sozialdemokratie sich nicht "prinzipiell" gegen die Besetzung Kiautschous in China durch deutsche Truppen stellen solle und erklärst ihn zum ersten "Chefdenker", der das "Ja zum imperialistischen Krieg theoretisch begründete".
  3. Anschließend schlägst Du einen Bogen zu Jugoslawien, zu einer Diskussion im Parteivorstand der PDS über eine europäische Friedenstruppe (André Brie kommt überhaupt nicht mehr vor) und beschreibst die Gefahr eines Ja der PDS zum "imperialistischen Krieg".
  4. Schließlich endest Du so:
  "Doch im Grunde geht es immer um das eine: die Umkehrung einer konsequenten internationalistischen Linken in eine nationalistische - deutsche oder eurozentristische - Kriegspartei."
  Und so wird aus André Brie ein "Chefdenker", der - wie der andere "Chefdenker" hinsichtlich der SPD - nunmehr aus der PDS eine Kriegspartei machen will.
  Das kommt mir wie folgt vor:
  Mal angenommen, Du würdest Trotzki als großen Denker und Revolutionär würdigen. Die Bild-Zeitung könnte dann titeln: "Wolf für die Ermordung von Kindern und Matrosen." Die Logik wäre die gleiche. Du hättest Trotzki gewürdigt, Trotzki war in die Ermordung der Zarenfamilie einschließlich der Kinder und der aufständischen Matrosen von Kronstadt involviert, also wärst Du für die Ermordung von Kindern und Matrosen.
  Bernstein hat vielleicht noch irgendeinen anderen Satz als den von Dir zitierten geschrieben? André Brie hatte bei seiner Forderung, Bernstein nicht als Feindbild zu pflegen und seinen intellektuellen Reichtum nicht brachliegen zu lassen, möglicherweise weder den von Dir zitierten Satz noch im Sinn, Bernstein generell zu bejahen, sondern eben nur, sein geistiges Erbe sich ebenso kritisch wie aufgeschlossen zu erschließen? Welches neue Denkverbot spricht dagegen? (Im ersten Parteiprogramm der PDS wurde unter anderem ausdrücklich auf Bernstein Bezug genommen.)
  Aber wo kämest Du hin, wenn Du mit dem umgingest, was André sagt und meint? Es geht ja auch bösartig.
  Schade, Du hast den Weg intellektueller Redlichkeit verlassen und zum Mittel übler Verleumdung gegriffen.
  Das Niveau der Auseinandersetzung in einer Partei entscheidet nicht unwesentlich über ihre Kultur, zumindest über die Kultur desjenigen, der auf diese Art und Weise argumentiert.
  Ziemlich enttäuscht,
  Gregor Gysi
 
 

Antwort

Lieber Gregor,
es verwundert, daß in einer sachlichen Debatte über André Bries mehrfachen positiven Bezug auf Eduard Bernstein nicht der Angesprochene antwortet, sondern Du. Es stimmt traurig, daß Du dabei ohne Souveränität argumentierst. Ich werde nicht den Fehler machen, dieselbe Tonart anzuschlagen. Mein Hauptargument in der Antwort an Dich und an die, an die Du Dich gewandt hast, lautet: Lest meinen Artikel eins zu eins - anbei. Ich kann zu allem stehen; sieht man von der Überschrift ab (die, wie bei allen Zeitungen üblich, Sache der Redaktion und nicht des Autors sind), so ist nichts daran unsachlich oder verdiente eines der Attribute, die Du wählst.
 
  1. Zum Rahmen
  Ich ging in den letzten Monaten in mehreren Artikeln - u.a. in der jungen Welt, im Freitag, in der SoZ - auf das Thema Krieg/Frieden ein und argumentierte, daß sich die Stellung der Linken zu imperialistischen Kriegen geschichtlich als entscheidend erwies. Schließlich sagte ich in meinem Debattenbeitrag auf der Klausur der PDS-Fraktion im Januar sinngemäß: Wer sich das Ziel stellt, bis zum Jahr 2002 in Bonn koalitionsfähig zu werden, und dazu keine klaren Vorbedingungen stellt, der muß entweder in der Lage sein, eine breite Antikriegsbewegung zu entfalten bzw. erwarten, daß eine solche eine weitere Kriegstreiberei verhindere, oder er wird in einer solchen Regierung an imperialistischen Kriegen beteiligt sein.
 
  2. Zur Europawahlliste
  Es ist unerklärlich, weshalb Du einen Artikel wie den vorliegenden mit der PDS-Liste zur Europawahl in Verbindung bringst und dafür noch persönliche Motive unterstellst. Zwei Tage zuvor habe ich in dem jW-Artikel zum PDS-Programm die positive Haltung des PDS-Parteivorstands zu China, u.a. anläßlich eines Besuchs einer PDS-Delegation mit Hans Modrow und Dietmar Bartsch, kritisiert. Heißt das nun, daß ich wolle, daß Modrow "nicht aussichtsreich kandidiert"? Völliger Unsinn - ich kritisiere, was ich kritisiere.
  Das gilt auch im Fall des von Dir derart scharf kritisierten Artikels. Es geht schlicht darum, daß ich mit dem umgehe, "was André Brie sagte und meinte".
 
  3. Was sagte Brie und wie antworte ich?
  Brie sagte im ND: "Es ist schrecklich, wie die geistigen Feindbilder der DDR fortleben und, noch schlimmer, wie der intellektuelle Reichtum Bernsteins ... brachliegt." Er bezieht sich damit und in ähnlichen früheren Verweisen gewissermaßen auf Bernstein als Gesamtkunstwerk, nicht auf einen einzelnen - möglicherweise auch heute noch interessanten Beitrag zum tendenziellen Fall der Profitrate. Mit der Formulierung "Feindbild der DDR" findet er eine Wendung, über die er glaubt, Bernstein positiv besetzen zu können.
  Nun war jedoch Bernstein nicht primär Feindbild der DDR. Er wurde von denen, auf die sich in jedem Januar mehr als hunderttausend Menschen, darunter die Führung der PDS, positiv beziehen, als Wegbereiter der Absage an einen genuinen Sozialismus und als jemand, der das Ja der SPD zum imperialistischen Krieg vorbereitete, eingeschätzt: von Rosa Luxemburg und von Karl Liebknecht. Beide bezogen dies auf den "gesamten intellektuellen Reichtum" Bernsteins. Interessant an meinem Artikel könnte sein, wie früh Bernstein bereits den imperialistischen Krieg befürwortete und wie früh Rosa Luxemburg das geißelte, nämlich 1899.
 
  4. Brie = Bernstein?
  Einmal abgesehen von der Schrägheit eines solchen Vergleichs in bezug auf Geschichte und Personen, einen solchen Vergleich ziehe ich nicht, Du unterstellst ihn. Das einzige Indiz in dieser Hinsicht wäre die zweifache Verwendung des Wortes "Chefdenker". Aber daraus ableiten, ich setzte Brie mit Bernstein gleich, ist unhaltbar. Du erwähnst auch, daß Brie "überhaupt nicht mehr (dort) vorkommt", wo ich auf die Debatte im PDS-Parteivorstand eingehe. Richtig - ich will hier bewußt nicht spekulieren.
 
  5.Persönliches
  Mir ist schlicht der Grund nicht nachvollziehbar, weswegen Du in dieser Schärfe auf eine sachliche Debatte antwortest. Warum bleibst Du nicht bei Deiner früheren Feststellung in bezug auf Brie, wonach, wer derart austeilt, auch einstecken können muß? Warum der demagogische Verweis auf Bild? Warum der an altes Denken anmutende Seitenhieb mit Trotzki - ich halte das Vorgehen der Bolschewiki gegen Kronstadt übrigens für den ersten Sündenfall der russischen Revolution und bin strikt gegen Todesstrafe und Hinrichtungen, in den USA, in China, Kuba und anderswo (siehe meinen Vorschlag für einen entsprechenden offenen Brief an Fidel Castro). Warum diese Reaktion in diesem Fall und Dein Schweigen, wenn der PDS-Parteivorstand zum Tode des Schlächters vom "Platz des Himmlischen Friedens" kondoliert oder wenn André Brie die DDR in wichtigen Teilen des gesellschaftlichen Lebens als "totalitärer als der Faschismus" bezeichnet?
  Irgendwie sind da entscheidende Proportionen verrutscht. Mein Vorschlag: Das sollten wir wieder gerade rücken.
  Solidarische Grüße
  Winnie
 
  (Nach: junge Welt, 9.März 1999.)
 


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