Sozialistische Zeitung |
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Schröder, sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit senden wir Ihnen unseren Vorschlag zur Behebung des Problems der Massenerwerbslosigkeit und zur weiteren Finanzierbarkeit unseres
Sozialstaats, mit dem wir gleichzeitig einer besseren Lebensqualität den Weg ebnen wollen.
Wir vertreten den Standpunkt, daß es möglich ist, mit weniger Erwersbarbeit und auch weniger Einkommen befriedigender zu
leben. Die Lücke, welche das geringere Einkommen hinterläßt, gilt es in der gewonnenen Zeit zu schließen. Die
gewonnene Zeit kann unter anderem durch Eigenarbeit und Eigenversorgung im weiteren Sinne gefüllt werden. Eigenes Tun schafft
Selbstvertrauen und Selbstzufriedenheit. Versorgung durch eigenes Tun macht ein Stück weit unabhängig vom Geldsektor bzw. von
Alimentationen.
Eigeninitiative geht nicht darin auf, daß nun jede und jeder für sich wirkt, vielmehr ist darin auch ein gemeinschaftliches Handeln
und Miteinander eingeschlossen. Diese wird gerade dadurch erst zwischenmenschlich interessant und vom Ergebnis her gesehen effektiver und
facettenreicher.
Nun, dieser Bereich ist nichts Neues in der Geschichte. Im Mittelalter bspw. wurde er Subsistenz genannt und dort wurde etwa 80 Prozent der
Gesamtproduktion hergestellt. Diese Tradition ist bis heute nie ganz verschüttet worden. Sie ist noch zu finden in der
Schrebergärtenkultur, beim Eigenheimbau oder beim Renovieren der Wohnung. Ein Großziehen der Kinder, ein Bewältigen
des Haushaltes wäre sogar ohne das Selbermachen gesellschaftlich überhaupt nicht zu bewältigen.
Wir wollen an dieser Tradition wieder anknüpfen, nicht um zurückzukehren in Enge und Ärmlichkeit des Gestern oder
Vorgestern, wir wollen vielmehr nach vorne gehen und Eigenversorgung vernetzt und gemeinsam, mit raffiniertem Knowhow wie auch mit den
Möglichkeiten von Computertechnik betreiben. Dazu braucht es eine neue Kultur von befriedigendem Zusammenwirken, wofür
bereits soziale Techniken wie Moderation oder Supervision entwickelt wurden. […]
Unser "Institut für Neue Arbeit" vertritt nicht nur das Konzept der Verknüpfung von weniger Erwerbsarbeit und
attraktiver, kombinierter Eigenversorgung, es fußt auch auf jahrzehntelangen Erfahrungen von Projekten im Stadtteil Köln-
Mülheim. Die "Sozialistische Selbsthilfe Mülheim e.V." (SSM) hat sich gänzlich ohne staatliche Leistungen
selber Wohnraum in einer ehemaligen Fabrik geschaffen, verdient ihren Lebensunterhalt als selbstverwaltete Firma im Umzugsbereich und
deren Mitglieder helfen sich gegenseitig in verschiedensten Bereichen. […]
Die "Bürgerdienste Mülheim" - ein Zusammenschluß der sozialen Initiativen und Behörden im Stadtteil -
haben sich vor einem Jahr in der "Mülheimer Erklärung" für "Neue Arbeit" ausgesprochen, welche
auf der Industriebrache "Alter Güterbahnhof" verwirklicht werden soll. Auf dem 15 ha großen Gebiet könnte ein
neues Quartier entstehen, wo neben Wohnen und Arbeiten auch attraktive Eigenversorgung und Nachbarschaftshilfe ihren Platz haben sollen.
Auch gewöhnliche Betriebe sollen integriert werden, sofern sie sinnvolle und umweltverträgliche Dienstleistungen anbieten oder
entsprechende Produkte anbieten oder vertreiben, wie beispielsweise Baurecycling, Solarschule oder häusliche Krankenpflege.
[…]
Wir treten dafür ein, die Sackgasse einer tendenziell ausufernden Konsumtivförderung von Arbeitslosen und
Sozialhilfempfängern allmählich zu verlassen und den noch schmalen Pfad einer Intensivförderung zu begehen und
auszuweiten.
Wir wenden uns an Sie, um Ihnen unser Konzept und unsere konkreten Erfahrungen näher vorzustellen und mit Ihnen darüber zu
diskutieren. Wir wenden uns auch an Sie mit der Bitte, eine notwendige finanzielle Förderung des "Neue Arbeit"-Projektes
auf der Industriebrache "Alter Güterbahnhof" auf den Weg zu bringen, weil für ein Projekt dieser
Größenordnung die vorhandenen Möglichkeiten der Initiativen im Stadtteil bei weitem nicht ausreichen. […]
mit freundlichen Grüßen
Heinz Weinhausen