Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.06 vom 18.03.1999, Seite 18

Die Himmelsstürmerin

Der neue Roman von Jutta Ditfurth

Jutta Ditfurth ist immer gut für Überraschungen. Als Mitbegründerin der Grünen trennte sie sich von ihnen sehr früh in Voraussicht ihrer Degeneration. Daß sie aber nach einigen Sachbüchern nun einen zweiten Roman vorlegt - nach Blawatzkis Kinder jetzt Die Himmelsstürmerin - hatte niemand erwartet. Die Himmelsstürmerin macht persönliche, soziale und politische Geschichte, vor allem die Pariser Kommune, erlebbar.
  Wie besessen hat sie sich Sprache, Arbeits- und Lebensweise von Menschen aller sozialen Schichten angeeignet. Seien es die Zunftgeheimnisse der Solinger Messerschleifer, die sie davor schützten, daß ihre Arbeit durch Maschinen entwertet wird; oder aber die Benennung all ihrer Werkzeuge, jedes einzelnen Griffs dieser hochqualifizierten Meister.
  Mitten im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, in dem eine nationalistische Welle das Land überflutet, treten die Schleifer für eine 25prozentige Lohnerhöhung in den Streik. Diese "Arbeiteraristokratie" gewinnt Unterstützung nicht nur von Un- und Angelernten, von den von ihr selbst oft schikanierten Lehrlingen, sondern auch von den Frauen, denen der Zutritt zu ihrem Beruf und "Fachverband" nicht erlaubt ist. Der Streit zwischen Anhängern Bebels und Lassalles in der Kriegsfrage behindert nicht die Gemeinsamkeit im Arbeitskampf. Ein falsch angelegter Barrikadenbau, der Lehren aus der Revolution von 1848 nicht berücksichtigt, trägt zur Niederlage bei.
  Der Streik wird vom preußischen Militär blutig niedergeschlagen. Dem Helden des Romans, Albert Lauterjung, dem 20 Jahre Haft drohen, gelingt die Flucht. Mit falschen Papieren tritt er in die preußische Armee ein, aus der er desertiert, um sich der Pariser Kommune anzuschließen. Mit Jutta Ditfurths Schilderung der barbarischen Kampfführung der preußischen Armee wird zugleich die Legende derer zerstört, die ihre Uniform ein "Ehrenkleid" nennen.
  Die Heldin des Romans ist Jutta Ditfurths adelige Urgroßmutter Gertrud Freiin von Beust, die auf dem Schloß ihrer Eltern Langorla (damals Sachsen-Altenburg) 1850 geboren wurde. Ihre vom Vater gebilligte Adoption durch den kinderlosen Karl Herzog von Schleswig- Holstein-Sonderburg-Glücksburg ist mit einer hohen "Apanage" verknüpft, die den verschuldeten Besitz des Vaters, dessen Erbin sie ist, retten soll. Von diesem Handel weiß Gertrud allerdings nichts.
  Sprache, Sitten, Vorurteile, Hochmut oder auch Grausamkeit des Adels im Umgang mit "Untergebenen" werden ebenso eindrucksvoll geschildert, wie der gebildete und liebevolle Onkel Felix von Stein. Dieser fand in einem geerbten barocken Schreibschrank Briefe von Goethe an seine Geliebte Charlotte von Stein, verwahrt sie als kostbares deutsches Erbe und will sie unter Gewissensqualen verscherbeln, um seinen Besitz vor dem Bankrott zu retten. Ohne Gewissensqualen verwandelt sich liberaler Humanismus nach dem Sieg Preußens über Frankreich in zynischen preußischen Patriotismus - nicht eben selten bei deutschen Liberalen.
  Gertrud von Beust folgt einer Einladung ihres Adoptivvaters auf Schloß Glücksburg, wo sie von einer Hofdame verleumdet wird, nicht die Adoptivtochter, sondern die geheime Mätresse des Herzogs zu sein. Wütend flieht sie mit der Eisenbahn und siebenmaligem Umsteigen im zerklüfteten Deutschland zu ihren Eltern. Daß sie auf ihrer Fahrt die "vierte" Klasse kennenlernt, in der man ohne Sitzbänke und Dach, aber zum Ärger der Erste-Klasse-Passagiere in der "gleichen Geschwindigkeit" wie sie reist, vermittelt zugleich Einblicke in die damalige Gesellschaftsordnung.
  Ihr Vater versucht alles, um Gertrud mit dem Adoptivvater auszusöhnen. Er reist mit ihr, um ein Treffen zu arrangieren, nach Blankenberge an die belgische Küste, so sie auf französische Offiziere stoßen - denn Belgien ist neutral. Als die Offiziere herausfordernd verkünden, Frankreich werde eines Tages beide Seiten des Rheins besetzen, antwortet sie: "Der Rhein ist ein freier deutscher Strom. Wir haben das deutsche Elsaß-Lothringen zurückgeholt, und so wird es bleiben."
  Bei einem nächtlichen Spaziergang wird sie von den Offizieren überfallen und nach Frankreich verschleppt, wo es ihr in der Nähe von Paris gelingt sich zu befreien. Sie gelangt völlig erschöpft und mit zerrissenen Kleidern in den Bereich der Kommune. Sie gibt sich als Dienstbotin aus, die von der deutschen Familie, die bei Kriegsausbruch floh, zurückgelassen wurde, und begegnet dem Solinger Schleifer Albert Lauterjung.
  Nun beginnt die Umwandlung der deutschen Adeligen in eine "himmelsstürmende" Kommunardin. Jutta Ditfurth beschreibt, wie das "gemeine" Volk trotz unermeßlicher Leiden mit Begeisterung und Heroismus die "Kommune" aufnimmt, deren "wahres Geheimnis" Karl Marx so charakterisiert: "Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeiter sich vollziehen konnte. Die Arbeiterklasse verlangte keine Wunder von der Kommune ... Sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Gang zu setzen, die sich bereits im Schoße der alten Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben ... Ihre besonderen Maßregeln konnten nur die Richtung andeuten ... Dahin gehören die Abschaffung der Nachtarbeit der Bäckergesellen; das Verbot ... den Lohn herabzudrücken durch Auferlegung von Geldstrafen ... Auslieferung von allen geschlossenen Werkstätten und Fabriken an Arbeitergenossenschaften unter Vorbehalt der Entschädigung, gleichviel ob der betreffende Kapitalist geflüchtet war, oder aber vorzog die Arbeit einzustellen."
  Solche Maßnahmen lösten Jubel aus, setzten trotz des Hungers in der von Nahrungsmittelzufuhr abgeschnittenen Stadt unermeßliche Energien bei vielen Menschen frei, wie Jutta Ditfurth schildert: "Jubelnd verkündet der Bäckergeselle Louis: ‚Keine Nachtarbeit mehr! Mein Meister ist stocksauer.‘ Daraufhin bemerkt Gertrud von Beust, dies scheine ihm von allen Freiheiten wohl am besten zu gefallen. Louis strahlt sie an: ‚Nie mehr morgens um zwei Uhr aufstehen! So lange schlafen wie die anderen.‘ Albert Lauterjung sah ihn finster an: ‚Und woher bekommen wie unser warmes Brot?‘ Louis blickte erschrocken in das Gesicht seines großen Freundes. Albert umarmte ihn: ‚Junge, ich gratuliere‘. Louis meint, Leo Frankel sei für dieses Dekret verantwortlich. Es wird gerätselt, ob Frankel Österreicher oder Deutscher sei. Albert widerspricht: ‚Nein, ein Jude aus Ungarn und Mitglied der deutschen Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation.‘ ... ‚Ein Jude?‘ Alle starrten Gertrud verständnislos an. Emile erzählt: ‚Eigentlich Goldschmied. Aber in der Kommune leitet er die Kommission für Arbeit und Handel.‘ Gertrud: ‚Ein Roter?‘ ‚Was glaubst du, was wir selbst sind?‘ knurrte Emile. Louis zappelte auf seinem Stuhl herum: ‚Frankel sagt: die Fahne der Commune ist die Fahne der Weltrepublik.‘"
  Eine andere Maßnahme der Kommune war der Erlaß von Mietschulden: "Hunderttausende von Parisern fürchteten sich vor dem Leben unter den Brücken und in Slums am Rande der Stadt. Sie hatten Angst vor dem Winter, vor der Kälte, dem Hunger, vor Ratten und Seuchen." Hortense, die großartig geeschilderte Hebamme, sagt: "Dieses Dekret rettet vielen meiner Patientinnen und Kindern das Leben. Die Nationalversammlung berät zwei Monate ohne Ergebnis, die Commune eine dreiviertel Stunde und faßt einen Beschluß."
  Jutta Ditfurth geht auf die Konflikte im Zentralkomitee ein (so heißt die Leitung der Kommune). Es läßt Ministerpräsident Thiers mit Gefolge nach Versailles abziehen, lehnt es ab, Versailles zu besetzen, von wo aus mit Unterstützung Bismarcks alles getan wird, um die Kommune zu vernichten. Die Sorglosigkeit des begeisterten Volkes läßt sogar die selbst bezahlten und vor dem Zugriff der Versailler geretteten Kanonen verkommen.
  Wir lernen die Lehrerin und bedeutende Kommunardin Louise Michel kennen und die Russin Elizabeth Dimitriew, die als Zwanzigjährige sich der Revolution anschloß, ihre engen Kleider gegen Hosen austauschte und sich an der Gründung eines Frauenbataillons beteiligte. Und immer wieder verfolgen wir die einfühlsame Geschichte der Liebe zwischen dem Solinger Schleifer und der deutschen Adeligen mit stürmischen Auseinandersetzungen, gegenseitigen Vorurteilen und dem Beweis dafür, daß Menschen trotz allem veränderbar sind.
  Das entsetzliche Ende der Kommune, das Gemetzel, dem über 20000 Frauen, Männer und Kinder zum Opfer fielen, muß alle erschüttern, die noch nicht völlig abgestumpft sind gegen menschliches Leid.
  Zwanzig Jahre nach dem Ende der Kommune hält Friedrich Engels Rückschau. Die Mitglieder der Kommune, schrieb er, "spalteten sich in eine Majorität von Blanquisten ... und eine Minorität, Anhängern der Proudonschen sozialistischen Schule." Engels kritisiert, daß ökonomisch "manches unterlassen" wurde. Am schwersten begreiflich sei "der heilige Respekt, womit man vor den Toren der Bank von Frankreich stehen blieb". Dennoch kommt er zum Schluß: "Was aber noch wunderbarer, das ist das viele Richtige, das trotzdem von der aus Blanquisten und Proudhonisten zusammengesetzten Kommune getan wurde."
  Gramsci mahnte die Linke, auch die Bedürfnisse des "Alltagsverstands" zu berücksichtigen, den es "zu beeinflussen, zu transformieren gilt", weil hier "der Hauptschauplatz des Kampfes um die Hegemonie" liege. Darum begreifen wir, welches Verdienst sich Jutta Ditfurth mit diesem Roman erworben hat. Eine Taschenbuchausgabe könnte vor allem Jugendliche ansprechen.
  Als literarischen Gegenspieler von Konsalik, dem ehemaligen Kriegsberichterstatter des "Dritten Reichs", haben wir Johannes Mario Simmel. Kritiker bemängeln, sein Werk reiche von "aktualisierten Trivialmythen" bis zur "demokratisch engagierten Gebrauchsschriftstellerei". Wir sollten dies nicht unterschätzen.
  Die deutsche Geschichte und vor allem auch die Geschichte der Arbeiterbewegung besitzt noch viele offiziell verdrängte revolutionär-demokratische Episoden. Wenn sich Jutta Ditfurth zur Aufgabe machte, hierüber zu forschen und in Romanform zu schreiben, könnte sie, wie Gramsci es forderte, "auf kritische Weise schon entdeckte Wahrheiten verbreiten, sie gewissermaßen vergesellschaften und damit zur Grundlage vitalen Handelns machen."
  Jakob Moneta
 


zum Anfang