Sozialistische Zeitung |
Fast ist es so wie in George Orwells Roman "1984". Der britische Autor beschreibt die Umdeutung
der Begriffe in einer Gesellschaft, die der hiesigen nicht unähnlich erscheint. Dort ist "Unwissenheit" gleich
"Stärke" und "Krieg" gleich "Frieden". Orwell schrieb in weiser Voraussicht. Krieg, so versichern
heute auch William Clinton, Javier Solana und Josef Fischer, ist Frieden. Das "Neue Deutschland" schreibt ironisierend von
"Menschenrechtsbombern" und "Friedenstruppen".
Nach Ansicht von Heidrun Kämper, Mitarbeiterin im Institut für deutsche Sprache in Mannheim, pflegte die NATO zumindest bis
Ostern eine "sanfte" Sprache, da die Akzeptanz für die Bombenangriffe in der Öffentlichkeit nicht besonders hoch sei.
"Deswegen scheut man sich zu sagen: Wir führen Krieg. Statt dessen formuliert man weicher: Wir verteidigen die
Menschenrechte", so die Sprachwissenschaftlerin.
Die Medien spielen hierbei eine zentrale Rolle. Wie in allen Kriegen stellen sie sich größtenteils in den Dienst der Propaganda und
psychologischen Kriegsführung der einzelnen Kriegsparteien. "Es geht darum, die jeweilige Bevölkerung und die sogenannte
Weltöffentlichkeit von der Notwendigkeit des eigenen Einsatzes zu überzeugen", erklärt Knut Hickethier,
Medienwissenschaftler an der Universität Hamburg. Eine besondere Rolle schreibt er den visuellen Medien zu. "Seit Vietnam
weiß man, daß Bilder eine eigene Dynamik entwickeln, unabhängig von den begleitenden Kommentaren", sagt
Hickethier. Die Bilder von vietnamesischen Frauen und Kindern, die vor US-amerikanischen Napalmbomben fliehen, haben sich tief in das
visuelle Gedächtnis der 68er eingegraben und letztendlich auch wesentlich zur Mobilisierung gegen den Vietnamkrieg
beigetragen.
"Deshalb sind die Militärs heute vorsichtiger", meint der Medienwissenschaftler. Die NATO zeige vor allem
"standardisierte Bilder ihrer Waffen und die Ergebnisse dieses militärischen Apparates, dargestellt durch große
Brände und Bombardements". Außer den Treffern der NATO-Bomber auf Flughäfen, Militäreinrichtungen,
Brücken und Industrieanlagen - allesamt verharmlosend als "chirugische Eingriffe" bezeichnet - erfährt der
Medienkonsument wenig bis gar nichts über den Serbien-Feldzug. Die Zahl der bisherigen Opfer in Serbien ist völlig unbekannt.
Bis zum ersten April schätzte Moskau die Menschenopfer auf tausend. Der Oberkommandierende der NATO, Wesley Clark, hält
dies für "weit übertrieben". "Wir können fast über jede Bombe Rechenschaft ablegen",
unterstreicht der General seine Aussage. Nur die Öffentlichkeit erfährt darüber nichts, denn die Auswertung erfolgt hinter
verschlossenen Türen.
Ähnlich verhält es sich mit den Flüchtlingszahlen. Nach Ansicht des Medienforschers Friedrich Krotz vom Hans-Bredow-
Institut für Rundfunk und Fernsehen verfügen die Militärs über die notwendige Technik, um alle Truppen- und
Flüchtlingsbewegungen im Kosovo feststellen zu können. Nur würden diese Informationen nicht weitergegeben. Die
Militärs sehen das natürlich anders und verweisen auf "unzureichende Aufklärungsergebnisse".
Die zuverlässigste Quelle für die Angaben von Flüchtlingszahlen ist zur Zeit die Hohe Flüchtlingskommissarin Sagato
Ogata. Sie spricht von ca. 600.000 Flüchtlingen aus dem Kosovo. Interpretationen für die Fluchtursachen haben die beteiligten
Kriegparteien schnell parat: für die NATO und die albanische UCK sind es ausschließlich die Vertreibungsaktionen der
jugoslawischen Armee und paramilitärischer Gruppen, laut serbischem Fernsehen bringen sich die Albaner hingegen vor den NATO-
Bomben in Sicherheit.
Doch die Gier der Sensationsmedien nach blutrünstigen Geschichten ist schier unersättlich. Die ARD-Sendung Brisant berichtet
von Fällen, in denen Flüchtlingen beim Grenzübergang finanzielle oder materielle Hilfe angeboten worden sei, wenn sie vor
der Kamera Geschichten über Greuel erzählten. Gezielte Propagandalügen sind für viele Fernseh- und
Boulevardjournalisten ein gefundenes Fressen. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Story von den "Heldengeschichten unserer Jungs da
draußen" oder von den "Barbaren und Schlächtern" sowie ihren "Greueltaten" handelt.
Aufmerksame Zeitgenossen erinnern sich noch allzu gut daran, wie die Weltöffentlichkeit im allgemeinen und die der USA im speziellen
dazu gebracht wurde, 1991 dem zweiten Golfkrieg gegen den Irak zuzustimmen. Ein junges Mädchen aus Kuwait berichtete vor laufenden
Kameras mit Tränen in den Augen von irakischen Soldaten, die bei ihrem Einmarsch in einem kuwaitischen Krankenhaus Säuglinge
aus ihren Brutkästen gerissen und auf den Boden geschleudert hätten. Der US-amerikanische Fernsehsender CNN sorgte
dafür, das diese Bilder weltweit ausgestrahlt wurden. Später stellte sich heraus, daß alles gestellt war. Das
zwölfjährige Mädchen war die Tochter eines kuwaitischen Ölscheichs und befand sich zur maßgeblichen Zeit in
einem englischen Internat.
Auch aus dem Kosovo sind kaum unabhängige Informationen zu bekommen. Ende März meldete die NATO die
"Hinrichtung" albanischer Intellektueller wie die des Rambouillet-Unterhändlers Fehmi Agani und die des Zeitungsverlegers
Baton Haxhiu. Zwei Tage später mußte diese Information dementiert werden: die Totgesagten wurden von unabhängigen
Zeugen unter den Lebenden gesichtet.
Eine der seriösen Quellen ist die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch". Beim Grenzübertritt befrage sie
individuell eine große Anzahl von Flüchtlingen, erklärt die Menschenrechtsorganisation gegenüber dem britischen
Rundfunksender BBC. Wenn sie unabhängig voneinander dieselben Schilderungen eines einzigen Ereignisses geben, hält Human
Rights Watch den Wahrheitsgehalt für sehr hoch. Nach ihren bisherigen Ergebnissen schätzt die Menschenrechtsorganisation die
Lage im Kosovo wie folgt ein: es gibt zweifellos planmäßige ethnische Vertreibung. Dabei käme es vereinzelt auch zu
Morden, auch gebe es Hinweise auf größere Mordaktionen. Sie reichten jedoch nicht aus, um von "Massakern" oder
"Völkermord" zu sprechen.
Gerhard Klas