Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.08 vom 15.04.1999, Seite 12

Briefe aus Belgrad

Die nachstehenden Briefe haben wir von serbischen Oppositionellen erhalten, die die Euromärsche unterstützen und gegen den Nationalismus der Regierung Milosevic eine demokratische und multiethnische Ordnung in Serbien und auf dem Balkan fordern. Die Namen sind der Redaktion bekannt, werden aber aus Sicherheitsgründen nicht bekanntgegeben. Die Briefe wurden zuerst in der belgischen Tageszeitung "Le Soir" veröffentlicht.

27.März 1999
Liebe Freunde!
  Wir sind in diesem Moment Zeugen der Militäraktion der NATO über Jugoslawien (hier in Belgrad schlagen Raketen und Bomben um uns herum jede Minute ein, während wir in unserem Keller sitzen und diese E-Mail senden). Wie wir bereits mehrfach erklärt haben, werden diese Aktionen das gegenwärtige verheerende Regime nur stärken. Die militärische Intervention wird von den Medien des Regimes mißbraucht, um dem wachsenden extremen Nationalismus zusätzliche Impulse zu verleihen.
  Die UNO-Sanktionen haben nur der regierenden Junta geholfen, größere ökonomische Macht über den Rest der Gesellschaft zu erlangen; Kriegsverbrecher wurden nicht einmal gefangengenommen und vom - völlig wirkungslosen - Haager Tribunal nicht belangt. Geldwäschereien - u.a. über zypriotische Banken - und andere mafiose Aktivitäten, die der Westen sicherlich stoppen könnte, werden nicht angegriffen.
  Das menschliche Leiden wird weitergehen und noch schlimmer werden. Das Übel kann nicht mit einer negativen Bombenaktion und mit weiteren Sanktionen bekämpft werden, sondern nur durch ein positives Engagement bei der Verbesserung der Kommunikation und der freien Medien, durch größere Unterstützung für demokratische Kräfte und demokratische Individuen, die es noch in Serbien gibt und die die Solidarität und die Unterstützung für ähnliche Gruppen in den neu geschaffenen Staaten der Region auch noch in den dramatischsten Augenblicken aufrechterhalten.
  Der einzige effektive Weg zu einer wirklichen Demokratisierung ist nicht die "Diplomatie von oben" durch Bomben und Hightech- Aktionen aus der Ferne, sondern konkretere, intensivere, effizientere Aktivitäten von unten, mit einer stärkeren und sichtbaren Unterstützung für die demokratischen Kräfte.
  Wir sind entschieden der Meinung, daß die Bombardierung militärischer Ziele in Serbien die Stabilität und eine wirkliche Demokratisierung auf dem Balkan (und in Ex-Jugoslawien) nicht erreichen wird.
  Die Quelle des Übels sind nationalistische Regime wie in Belgrad, Zagreb und anderen regionalen Zentren, wo postkommunistische "Monarchen" in nationalistische Abenteuer verstrickt sind. Die jüngsten Wahlen in Bosnien-Herzegowina zeigen die traurige Dominanz nationalistischer Kräfte trotz der schrecklichen menschlichen Leiden während des Bürgerkriegs und trotz der beträchtlichen politischen, militärischen und humanitären Beteiligung der internationalen Gemeinschaft.
  Die gesellschaftliche Transformation auf dem Balkan ist vollständig gescheitert dank der Art und Weise, wie sie von den Zentren der Macht durchgeführt wurde. Statt einer angemessenen Unterstützung für die - wenn auch schwachen - demokratischen Standards, zivilisatorischen Errungenschaften und Reste an multikultureller Gesellschaft, verhandelte die internationale Gemeinschaft mit den "Sachwaltern" des Krieges und erkannte sie auf diese Weise an.

5.April 1999
Das Bombardement geht weiter und verstärkt seine zerstörerischen Wirkungen. Dies ist der zwölfte Tag, an dem Gebäude in Belgrad zerstört werden: die Zentrale der Sicherheitskräfte, einige Kasernen, Fabrikgebäude, Treibstofflager, einige Brücken usw. Wir verstehen (und hören, haben aber keine offiziellen Nachrichten), daß es im Kosovo einen schrecklichen Exodus der Zivilbevölkerung gibt (was einer NATO-Intervention Vorschub leistet, um die ethnischen Säuberungen zu "stoppen" - als ob es nicht die jüngsten Erfahrungen in Kroatien und Bosnien gegeben hätte); aber für uns wird damit das falsche Dilemma der Konfrontation NATO vs. Milosevic gestärkt.
  Weil die Bevölkerung in Jugoslawien diese Bilder nicht sieht, wird das Leben für jene, die sich zu den demokratischen Kräften in Serbien zählen, sehr schwierig, weil sie verschiedenen Drohungen und Gefahren ausgesetzt sind. Die nationalistische, fremdenfeindliche Gleichschaltung auf den Straßen Belgrads nimmt zu und hat bereits ein Stadium der Militanz erreicht, z.B. wenn "die Massen" Fenster ausländischer Kulturzentren, Botschaften oder westlicher Fluggesellschaften, MacDonalds-Restaurants usw. einwerfen. Mißtrauische Nachbarn halten Ausschau nach "Spionen", die Kriegspsychologie ist am Werk.
  Die Stimmen des demokratischen Serbien haben keine Chance, auch nur das Wort gegen den Führer und seine Clique, die dies alles angerichtet haben, zu erheben. [...]
 


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