Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.08 vom 15.04.1999, Seite 15

Fels-Kongress Berlin

Existenzgeld im Kopf

Ende März fand in Berlin, zusammen mit anderen Initiativen, ein Kongreß der Gruppe "Für eine linke Strömung" (Fels) zum Thema "Existenzgeld" statt. Arranca! und ak verbreiteten in einem Extrablatt Thesen "Zur Kritik der Lohnarbeitsgesellschaft" und titelten zu Recht: "Vorsicht Ambivalenz".
  Die Forderung, jede und jeder solle in der Gesellschaft unabhängig davon existieren können, welchen Beitrag sie oder er zum kapitalistischen Verwertungsprozeß leiste, war vielleicht der einzige gemeinsame Nenner, der sich alsbald auflöste. Als problematisch erwies sich die Abgrenzung von neoliberalen Konzepten à la Biedenkopf/Miegel. Sie fordern "Bürgergeld" für diejenigen Bereiche der Gesellschaft, die vom Kapital als unprofitabel abgesondert werden. Die Förderung eines Niedriglohnsektors und Kombilohn strebte auf dem Kongreß natürlich keine/r an. Eine bloße Umwandlung der Sozialhilfe, wie es etwa Grünen-Politiker vorsehen, soll auch nicht das Ziel sein. Wie aber mit utopischen Konzepten umgehen, die sich von der Forderung nach Existenzgeld eine Umwandlung der Gesellschaft in Richtung Ablösung der (Lohn-)Arbeit erhoffen? Wie das zusammenfügen mit den dringendsten aktuellen Forderungen der Sozialhilfeinitiativen, die für eine Nichtanrechnung des Kindergelds und der 30-Mark-Erhöhung auf die Sozialhilfe, die Rücknahme der 3prozentigen Kürzung der Arbeitslosenhilfe und die Abschaffung des Lohnabstandsgebots kämpfen?
  Über zweihundertfünfzig BesucherInnen in der Humboldt-Universität hörten sich die Einleitungs-Statements von Vertreterinnen der Frauengruppe "Glanz der Metropolen", zweier Menschen der französischen Arbeitslosenbewegung "AC!", einer Vertreterin vom Euromarsch und Cora Molloy von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (BAG- SHI) geduldig an; zur anschließenden Diskussion blieben dann deutlich weniger. Die Sorge, daß die bloße "Forderung" nach Existenzgeld im Dschungel der neoliberalen Konzepte, wie Entlohnung für weibliche Hausarbeit, und einer auf Arbeit für alle gerichteten gewerkschaftlichen Hauptströmung untergehen könnte, stand für viele an erster Stelle.
  Für die eigentliche Debatte sorgten dann mehrere Arbeitsgruppen am nächsten Tag. Interessant die Erfahrungen der französischen VertreterInnen, die berichteten, wie in der Arbeitslosenbewegung die beiden scheinbar unvereinbaren Forderungen nebeneinander existieren und aktiv sein können: einmal die eher traditionelle Richtung aus dem gewerkschaftlichen und Lohnarbeitsmilieu, die nicht die Arbeit, sondern die Arbeitslosigkeit als zu überwindendes Übel ansieht und mit Konzepten der Neuverteilung von Arbeit, unter anderem Arbeitszeitverkürzung, daran geht; zum anderen die aus prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen erwachsenden Forderungen nach Existenzgeld und einer Entkoppelung von Leistung und Einkommen.
  Es hat den Anschein, daß man sich auch in der BRD mit beiden Strömungen auseinandersetzen muß. Und da die praktische Bewegung noch nicht so weit wie in Frankreich gediehen ist, verläuft die Debatte bislang eher "theorielastig". Mögliche Gefahren von Konzepten standen demnach mehr zur Debatte als konkrete politische Bedrohungen, oder die Erwartung, mithilfe von Aktionen unter bestimmten Forderungen politische Wirkungen zu entfalten.
  Daß es gelang, zum Beispiel in der Arbeitsgruppe über Prekarisierung, aber auch in anderen Debatten sich solidarisch zu unterhalten, abzuklopfen, welche positive Bedeutung Existenzgeld für alle, sowohl im Sektor der Lohnarbeit, als auch für Arbeitslose und prekär Beschäftigte, haben kann, aber auch, welche weiteren Forderungen hinsichtlich der Situation der Arbeitenden gestellt werden müssen, war einer der Erfolge.
  Natürlich steht hinter der ganzen Debatte auch immer die Frage, wie jemand - aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung und Erfahrung - Arbeit bewertet, was dazugerechnet wird und wie man sich eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vorstellt. Völlig berechtigt die Kritik aus feministischer Sicht, daß der Bereich der Reproduktion immer ausgeblendet wird. So könnten einige Vorstellungen von Existenzgeld womöglich gerade die geschlechtliche Arbeitsteilung festigen: hier "produktive" Arbeit für Lohn - eventuell auch mit verkürzten Arbeitszeiten - dort "reproduktive" Arbeit für Existenzgeld, die in der Regel von Frauen geleistet wird. Die geschlechts- und klassenneutrale Bezeichnung "Existenzgeld für alle" sollte aber deshalb nicht als ein Allheilmittel gesehen werden, weder gegen den "Terror der Ökonomie" noch gegen sämtliche gesellschaftlichen Konflikte.
  Berliner Gruppen wie die Anti-Neoliberalismus-AG an der Uni, die Gruppe "Neue Heimat" aus dem Umfeld des Bündnisses Kritische GewerkschafterInnen, oder die Gruppe "Blauer Montag" aus Hamburg versuchten sich an einem Spagat zwischen linken betrieblich-gewerkschaftlich bezogenen Menschen und Sozialhilfeinitiativen, zwischen radikaler Kritik am Lohnarbeitssystem - Stichwort "Lob der Faulheit" - und Sorgen um die politischen Wirkungen der Arbeitslosigkeit, zwischen Prekarisierung im Betrieb und solcher unabhängig von Lohnarbeit. Eine Kombination der Existenzgeld-Forderung mit der Forderung nach radikaler Arbeitszeitverkürzung wird in politischen Initiativen etwa zum Gegengipfel Ende Mai in Köln sinnvoll sein. Aber so wie noch vor 15 Jahren wird auch die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, nach den negativen Erfahrungen mit der Flexibilisierung, in den Belegschaften nicht leicht Erfolg haben.
  Eine Herausarbeitung feministischer und kapitalismuskritischer Positionen und eine klare Abgrenzung gegen alle Riester-Fischer-Bestrebungen sind sicher sinnvoll. Viel wichtiger aber wäre ein Aufschwung sozialer Bewegungen angesichts der drohenden Armut und Ausgrenzung, die ja nicht nur Folge von Arbeitslosigkeit sind.
  Ein wichtiges Ergebnis der Arbeitstagung bleibt: eine weitere Zusammenarbeit der beteiligten Menschen und Gruppen, gegenseitige Information und der Wunsch nach weiterer Diskussion wurden vereinbart.


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