Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.08 vom 15.04.1999, Seite 19

Barracuda - Vorsicht Nachbar!

Filmkritik

Der junge Luc zieht in die neue große Wohnung ein, die ihm sein Onkel überlassen hat. Als ersten lernt er im neuen Heim seinen Nachbarn, den alten Monsieur Clément, kennen. Dieser lädt ihn für den kommenden Sonntag zum Essen ein. Luc weiß noch nicht, was das für ihn bedeuten wird. Er feiert zunächst seinen Einzug in die neue Wohnung mit einer ausgelassenen Party. Als ihm seine Freundin dann eröffnet, daß sie ein Kind von ihm erwartet, scheint sein Glück vollkommen zu sein. Seinen alten und auch etwas skurrilen Nachbarn und dessen Einladung zum Essen hat er längst vergessen.
  Der Kontrast zwischen dem einsamen Leben des Monsieur Clément und dem Leben Lucs wird eindrucksvoll durch kurze aufeinanderfolgende Szenen, die abwechselnd Clément alleine in seiner großen Wohnung und Luc auf seiner wilden Einzugsparty zeigen, dargestellt. Die beiden Protagonisten könnte man sich nicht gegensätzlicher vorstellen. Clément ist alt und einsam, er lebt zurückgezogen mit seiner "Frau", führt Selbstgespräche und betreibt einen bizarren Fred-Astaire-Kult. Er ist ein richtiger Kauz. Luc ist jung, hat viele Pläne und ist mit einer Frau zusammen, die im Gegensatz zu Cléments "Frau" sehr lebendig ist. Beide schmieden Zukunftspläne und sind sehr, fast ein bißchen übertrieben, optimistisch.
  Clément hat keine Zukunft, aber er scheint auch keine Vergangenheit zu haben. Nirgendwo gibt es Bilder von seiner wirklichen Frau, falls er überhaupt jemals verheiratet war, nirgends Bilder oder Erinnerungen an irgendeine Person, außer Fred Astaire. Der amerikanische Tanzfilmstar "erscheint" ihm gelegentlich sogar, um ihm Ratschläge zu geben. Real dürfte der alte Herr seinem Idol wohl nie begegnet sein. Clément wirkt wie jemand, der vor seinem Tod bereits gestorben ist, weil er nie richtig gelebt hat. Lucs Leben fängt gerade erst an und es sieht nicht so aus, als ob er im Alter so werden würde wie Clément.
  Bei letzterem regt sich insofern noch ein wenig Leben, als daß er gelegentlich unter seiner Einsamkeit leidet. So erwartet er am Sonntag zur verabredeten Zeit ungeduldig seinen jungen Nachbarn zum Essen. Er sitzt auf einem Stuhl genau gegenüber seiner Wohnungstür und fixiert die Uhr. Als Luc zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit noch nicht da ist, stürmt er zur Tür hinaus, um bei jenem zu klingeln. Luc, der die Verabredung vollkommen vergessen hat, steigt gerade aus dem Fahrstuhl und läuft direkt in die Arme seines Nachbarn. Dieser nötigt ihn geradezu, in seine Wohnung zu kommen, um dort doch noch mit ihm zu Abend zu essen.
  Nach einigem Zögern gibt Luc nach. Es beginnt ein klaustrophobischer Alptraum. Als erstes wird Luc nun Cléments "Frau" Violette vorgestellt - einer Schaufensterpuppe. Danach beginnt das Abendessen, bei dem Clément sehr freundschaftlich mit Luc und Violette Konversation führt, die allerdings sehr einseitig bleibt, da Violette nichts sagen kann und Luc zu verwirrt ist, um zu reden. Er ist aber zu höflich, um einfach zu verschwinden. Als ihm schließlich der Kragen platzt und er die groteske Szenerie verlassen will, stellt er fest, daß die Wohnungstür verschlossen ist. Er will die Tür gewaltsam öffnen und wird von Clément niedergeschlagen.
  Was nun folgt, ist purer Sadismus. Clément fesselt Luc auf verschiedene Arten im Badezimmer, besprüht ihn mit einem Feuerlöscher, schlägt ihn bewußtlos, bindet ihn ans Bett und sperrt ihn schließlich in einem geheimen Nebenzimmer ein, in das man nur gelangt, wenn man ein Bücherregal zur Seite schiebt. Gleichzeitig gibt Clément seinem "Gast" zu verstehen, daß er ihn als Ersatz für das Kind betrachtet, das er nie gehabt hat. Dementsprechend ist er auf eine merkwürdige Art fürsorglich und versucht, seine "Frau" davon zu überzeugen, daß Luc eigentlich ein guter Kerl ist, der die schlechte Behandlung nicht verdient.
  Der Zweikampf zwischen den beiden ungleichen Männern, bei dem die ZuschauerInnen durch Szenen irritiert werden, die sich nur in der Vorstellung der Protagonisten ereignen, ist sehr spannend in Szene gesetzt und zieht das Publikum auf merkwürdige Art und Weise in seinen Bann. Die Befreiung Lucs gelingt zum Schluß, aber es ist kein Happy End, denn der Luc, der am Ende des Films zur Tür hinaus wankt, hat nur noch wenig mit dem optimistischen und lebenslustigen jungen Mann am Anfang des Films zu tun.
  Man kann den Film als Parabel auf die Individualisierung und Vereinsamung besonders alter Menschen in der heutigen Gesellschaft sehen. Aber es handelt sich eher um eine spannende, aber irritierende Reise in die Abgründe der menschlichen Psyche, die einen an Filme von Roman Polanski wie Ekel oder Der Mieter erinnert.
  Andreas Bodden
 


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