Sozialistische Zeitung |
Die Tagung, die am 16. und 17.April "Positionen der gewerkschaftlichen Linken" diskutierte,
brachte für die Teilnehmenden unzweifelhaft einen Gewinn an Informationen und Erkenntnissen. Seltsamerweise wurde jedoch die mit
dem Untergang des "irrealen Sozialismus" im Osten erfolgte Abwertung jeglicher gesellschaftlicher Alternative nicht thematisiert.
Obwohl doch genau dies die "Hegemonie", die Vorherrschaft, der neoliberalen Ideologie auch in der Arbeiterklasse
begünstigt.
Als ich jedoch erwähnte, daß im Metallerstreik von 1963, verbunden mit einer Massenaussperrung, im Mannheimer Daimler-Werk
ein Transparent mit der Aufschrift prangte: "Weiß der Schleyer nicht mehr weiter, übernehmen den Betrieb die
Benzarbeiter", und anwesende Betriebsräte der Autoindustrie fragten, ob dies heute noch eine aktuelle Losung wäre,
mußten sie das verneinen. Wenn es aber nicht möglich ist, die Vision einer anderen Gesellschaftsordnung zu vermitteln, dann geht
der Kapitalismus mit all seinen Krisen und Kriegen als Sieger der Geschichte hervor.
Nun sind es aber die Ideologen des Neoliberalimus, die den "Kollektivismus" als Todsünde verdammen und
"Individualismus" - der allerdings für sie nur schäbigster Egoismus ist - als Allheilmittel predigen. Sollte aber nicht
gerade hier unsere Vision einer anderen Gesellschaftsordnung ansetzen? Es war doch Karl Marx, der in den Grundrissen der Kritik der
politischen Ökonomie vorhersah, daß in dem Maße, in dem der Kapitalismus wissenschaftliche Technologie entwickelt, die
Produktion mehr und mehr unabhängig von menschlicher Arbeit im eigentlichen Sinne wird. Der Arbeitende tritt dann neben den
Produktionsprozeß und entwickelt sich als gesellschaftliches Individuum. Der Diebstahl an fremder Arbeit hört auf, die Quelle des
Reichtums zu sein. Die Verringerung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit auf ein Minimum - und damit der Zuwachs an Muße,
ermöglicht erst die freie Entfaltung des Individuums, was wiederum die Voraussetzung der Entwicklung aller ist.
Es war der Schwiegersohn von Karl Marx, der in seinem Büchlein Das Recht auf Faulheit schrieb: "Wenn die Arbeiterklasse …
sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird … um ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu
arbeiten, so wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Inneren eine neue Welt sich regen fühlen … aber wie soll man von einem
durch die kapitalistische Moral korrumpierten Proletariat einen männlichen Entschluß erwarten."
Nun hat sich genau in diesem letzten Punkt Lafargue offenbar geirrt. Denn als der Chef von IBM, Louis Gerstener, die Belegschaft des Konzerns
aufforderte, "vollkommen auf den Markt fixiert und von ihm besessen zu sein", was bedeutete, daß sie alle ihre Zeit dem
Markt opfern müßten, hat die Belegschaft tatsächlich 60 oder 70 Stunden gearbeitet, manche sogar samstags und sonntags zu
Hause. Bis der Betriebsrat eine Aktion mit der Losung startete: "Meine Zeit ist mein Leben." Da setzte sich die Belegschaft
erfolgreich zur Wehr.
Ist aber der Kampf gegen den "Diebstahl an unserer Lebenszeit" nicht zugleich der Beginn, die Ahnung von einer sozialistischen
Vision der Gesellschaft? Damit dies nicht als völlig unzeitgemäß und als persönliche "Spinnerei" abgetan
wird, zitiere ich aus Le Monde Diplomatique vom April 1999, was Thierry Paquot unter dem Titel "Die Pflicht zur Faulheit"
schrieb: Paul Lafargue irritiert mit seiner Streitschrift "Das Recht auf Faulheit" durch "seinen libertären Gestus, seine
Unverfrorenheit gegenüber den traditionellen Werten der Arbeiterbewegung und durch seinen Aufruf zum ‚Genießen, ein
Wort, das linke Aktivisten und Bürger gleichermaßen schockiert … Er hofft auf eine Befreiung aus der Lohnabhängigkeit
durch die Maschine und den baldigen Zugang aller zur ‚Freizeit … Zeit für sich zu haben, nicht zum Nichtstun, sondern um das zu
tun, was man tun will. Freizeit ist gewissermaßen befreite Zeit und durchaus keine freie Zeit.
Unsere sogenannte Konsumgesellschaft weiß genau, daß die freie Zeit eine Falle ist, hinter der gierig die Anbieter von
Freizeitaktivitäten lauern, nicht zu vergessen die Tourismusindustrie. Die Faulheit ist kein Recht, sondern stellt eine Aufgabe dar, auf die
man vorbereitet sein muß. Schließlich sind wir doch völlig davon überzeugt, daß ‚die Gesellschaft uns
alles bereitstellen, uns in allem beistehen muß; unsere Freiheit jedoch bemißt sich nach unseren Aktivitäten, die der
Geldzirkulation enthoben sind, nach unseren ganz persönlichen Lebensentwürfen, den Begegnungen mit uns selbst.
Die Zeit ist ein Wert, der in dem Maße unbezahlbar ist, wie man über sie als Freizeit verfügt. Widerstand zu leisten gegen die
Zeit des globalen Marktes, gegen die von der sakrosankten Rentabilität erzwungenen Arbeitszeiten … um statt dessen über die
Verwendung der eigenen Zeit und ihren Rhythmus nach Belieben selbst zu etscheiden: das wäre eine Lebenkunst, gleichermaßen
von Autonomie und von Achtung gegenüber anderen geprägt … Nicht nur, daß sich Faulheit auf Schlauheit reimt. Sie verleiht
auch denen, die sich ihr überlassen, ein unvergleichliches Wohlgefühl. Warum sollte man sich das nehmen lassen?"
Unser Kampf für eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit darf deshalb nicht nur geführt werden, um sie mit den
Erwerbslosen zu teilen, sondern um einen Bewußtseinsprozeß in Gang zu setzen, der deutlich macht, daß mehr
Lebensqualität, Selbstbestimmung und Individualität Anspüche sind, die im Kapitalismus nicht verwirklicht werden
können. So können wir allmählich die Hegemonie über die Köpfe für die Vision einer menschlichen
Gesellschaftsordnung zurückerobern.