Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 29.04.1999, Seite 2

Die Pflicht zur Faulheit

Kolumne: Jakob Moneta

Die Tagung, die am 16. und 17.April "Positionen der gewerkschaftlichen Linken" diskutierte, brachte für die Teilnehmenden unzweifelhaft einen Gewinn an Informationen und Erkenntnissen. Seltsamerweise wurde jedoch die mit dem Untergang des "irrealen Sozialismus" im Osten erfolgte Abwertung jeglicher gesellschaftlicher Alternative nicht thematisiert. Obwohl doch genau dies die "Hegemonie", die Vorherrschaft, der neoliberalen Ideologie auch in der Arbeiterklasse begünstigt.
  Als ich jedoch erwähnte, daß im Metallerstreik von 1963, verbunden mit einer Massenaussperrung, im Mannheimer Daimler-Werk ein Transparent mit der Aufschrift prangte: "Weiß der Schleyer nicht mehr weiter, übernehmen den Betrieb die Benzarbeiter", und anwesende Betriebsräte der Autoindustrie fragten, ob dies heute noch eine aktuelle Losung wäre, mußten sie das verneinen. Wenn es aber nicht möglich ist, die Vision einer anderen Gesellschaftsordnung zu vermitteln, dann geht der Kapitalismus mit all seinen Krisen und Kriegen als Sieger der Geschichte hervor.
  Nun sind es aber die Ideologen des Neoliberalimus, die den "Kollektivismus" als Todsünde verdammen und "Individualismus" - der allerdings für sie nur schäbigster Egoismus ist - als Allheilmittel predigen. Sollte aber nicht gerade hier unsere Vision einer anderen Gesellschaftsordnung ansetzen? Es war doch Karl Marx, der in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie vorhersah, daß in dem Maße, in dem der Kapitalismus wissenschaftliche Technologie entwickelt, die Produktion mehr und mehr unabhängig von menschlicher Arbeit im eigentlichen Sinne wird. Der Arbeitende tritt dann neben den Produktionsprozeß und entwickelt sich als gesellschaftliches Individuum. Der Diebstahl an fremder Arbeit hört auf, die Quelle des Reichtums zu sein. Die Verringerung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit auf ein Minimum - und damit der Zuwachs an Muße, ermöglicht erst die freie Entfaltung des Individuums, was wiederum die Voraussetzung der Entwicklung aller ist.
  Es war der Schwiegersohn von Karl Marx, der in seinem Büchlein Das Recht auf Faulheit schrieb: "Wenn die Arbeiterklasse … sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird … um ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, so wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Inneren eine neue Welt sich regen fühlen … aber wie soll man von einem durch die kapitalistische Moral korrumpierten Proletariat einen männlichen Entschluß erwarten."
  Nun hat sich genau in diesem letzten Punkt Lafargue offenbar geirrt. Denn als der Chef von IBM, Louis Gerstener, die Belegschaft des Konzerns aufforderte, "vollkommen auf den Markt fixiert und von ihm besessen zu sein", was bedeutete, daß sie alle ihre Zeit dem Markt opfern müßten, hat die Belegschaft tatsächlich 60 oder 70 Stunden gearbeitet, manche sogar samstags und sonntags zu Hause. Bis der Betriebsrat eine Aktion mit der Losung startete: "Meine Zeit ist mein Leben." Da setzte sich die Belegschaft erfolgreich zur Wehr.
  Ist aber der Kampf gegen den "Diebstahl an unserer Lebenszeit" nicht zugleich der Beginn, die Ahnung von einer sozialistischen Vision der Gesellschaft? Damit dies nicht als völlig unzeitgemäß und als persönliche "Spinnerei" abgetan wird, zitiere ich aus Le Monde Diplomatique vom April 1999, was Thierry Paquot unter dem Titel "Die Pflicht zur Faulheit" schrieb: Paul Lafargue irritiert mit seiner Streitschrift "Das Recht auf Faulheit" durch "seinen libertären Gestus, seine Unverfrorenheit gegenüber den traditionellen Werten der Arbeiterbewegung und durch seinen Aufruf zum ‚Genießen‘, ein Wort, das linke Aktivisten und Bürger gleichermaßen schockiert … Er hofft auf eine Befreiung aus der Lohnabhängigkeit durch die Maschine und den baldigen Zugang aller zur ‚Freizeit‘ … Zeit für sich zu haben, nicht zum Nichtstun, sondern um das zu tun, was man tun will. Freizeit ist gewissermaßen befreite Zeit und durchaus keine freie Zeit.
  Unsere sogenannte Konsumgesellschaft weiß genau, daß die freie Zeit eine Falle ist, hinter der gierig die Anbieter von Freizeitaktivitäten lauern, nicht zu vergessen die Tourismusindustrie. Die Faulheit ist kein Recht, sondern stellt eine Aufgabe dar, auf die man vorbereitet sein muß. Schließlich sind wir doch völlig davon überzeugt, daß ‚die‘ Gesellschaft uns alles bereitstellen, uns in allem beistehen muß; unsere Freiheit jedoch bemißt sich nach unseren Aktivitäten, die der Geldzirkulation enthoben sind, nach unseren ganz persönlichen Lebensentwürfen, den Begegnungen mit uns selbst.
  Die Zeit ist ein Wert, der in dem Maße unbezahlbar ist, wie man über sie als Freizeit verfügt. Widerstand zu leisten gegen die Zeit des globalen Marktes, gegen die von der sakrosankten Rentabilität erzwungenen Arbeitszeiten … um statt dessen über die Verwendung der eigenen Zeit und ihren Rhythmus nach Belieben selbst zu etscheiden: das wäre eine Lebenkunst, gleichermaßen von Autonomie und von Achtung gegenüber anderen geprägt … Nicht nur, daß sich Faulheit auf Schlauheit reimt. Sie verleiht auch denen, die sich ihr überlassen, ein unvergleichliches Wohlgefühl. Warum sollte man sich das nehmen lassen?"
  Unser Kampf für eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit darf deshalb nicht nur geführt werden, um sie mit den Erwerbslosen zu teilen, sondern um einen Bewußtseinsprozeß in Gang zu setzen, der deutlich macht, daß mehr Lebensqualität, Selbstbestimmung und Individualität Anspüche sind, die im Kapitalismus nicht verwirklicht werden können. So können wir allmählich die Hegemonie über die Köpfe für die Vision einer menschlichen Gesellschaftsordnung zurückerobern.


zum Anfang