Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 29.04.1999, Seite 8

Gute Flüchtlinge, schlechte Flüchtlinge

Die Sache mit dem "humanitären Korridor"

In diesem neuen Balkankrieg wird der Kosovo als einziges Opfer eines fürchterlichen und außergewöhnlichen Massakers dargestellt, das nur in einer einzigen Richtung begangen wird. All die zahlreichen Verbrechen, die seit 1991 im ehemaligen Jugoslawien wüten, werden Milosevi´c angelastet.
  Niemand spricht von den 800.000 Serben, die aus Kroatien, Bosnien und teilweise auch aus dem Kosovo vertrieben wurden. Es gibt nur "Kosovaren"; über deren politische Differenzierung wird kein Wort verloren. Die Kurden der PKK und die Basken von Herri Batasuna sind alle "Terroristen", die Kämpfer der UÇK aber, die in Bari in Tarnanzug und mit leichten Waffen auf die Fähre steigen, als "brave Jungs" gelten, die losziehen, "ihre Brüder zu retten". In Durrës angekommen, bekommen sie von den NATO-Kommandanten auch schwere Waffen.
  Wenn dann die Serben auf die von albanischem Territorium ausgehenden Feuersalven der UÇK antworten, gilt das als "unerträgliche Aggression gegen einen souveränen Staat". Natürlich ist Albanien gemeint. Jugoslawien behandeln die Journalisten der NATO-Länder nicht mehr als souveränen Staat. So wie die Fernsehanstalten und die großen "Nachrichten"blätter die Sache darstellen, möchte man nicht meinen, daß der Kosovo offiziell von allen Staaten als integraler Bestandteil Jugoslawiens betrachtet wird. Denn alle Grenzen sind heilig und unantastbar, nur die zwischen dem Kosovo und Jugoslawien erfordert eine Intervention, angeblich um einen "humanitären Korridor" zu schaffen.
  Aber was kann ein "humanitärer Korridor" innerhalb eines souveränen Staates sein? Und wie will man die Menschen "retten", die sich außerhalb desselben befinden, wenn nicht dadurch, daß er in einen Brückenkopf für das Eindringen von NATO-Truppen umfunktioniert wird? Und wie "humanitär" kann eine Intervention sein, die Tag für Tag Raketen und Bomben über eben der Bevölkerung abwirft, die geschützt werden soll?
  Den Krieg begleitet eine wahre Orgie an Mystifikationen und Legenden, die der "Neusprache" aus Orwells 1984 würdig sind. Die rapide Zunahme an Flüchtlingen aus einem Territorium, das ohne Unterlaß bombardiert wird, wird ausschließlich auf die "ethnischen Säuberungen" zurückgeführt. Stellt man dann fest, daß die Flüchtlinge, die in Mazedonien oder Albanien ankommen, nach Italien (oder Deutschland) weitermöchten, heißt es sofort, ihre "Deportation" in ferne Länder müsse verhindert werden.
  Sie werden in schreckliche Lager eingeschlossen, wo sie hungern und der Feindseligkeit der örtlichen Bevölkerung ausgesetzt sind, nicht nur in Mazedonien, auch in Albanien, das schon genug Probleme hat und nicht noch eins draufsatteln muß. Wenn es ihnen gelingt, ohne Paß nach Italien zu kommen, werden sie verfolgt, verhaftet und sofort als "Illegale" definiert, von denen eine "Invasion" in unsere Sphären zu befürchten sei.
  So verbindet sich die Kriegshetze mit der Hetze gegen die MigrantInnen. Sie sind nur deshalb "Illegale", weil die mit der "humanitären Intervention" beschäftigten Wohltäter sich nie auf die Vorschläge der Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen eingelassen haben, die wirklich humanitäre Hilfe leisten: nämlich zuzulassen, daß die Flüchtlinge frei zwischen ihrer Heimat und ihrem Fluchtort beiderseits der Adria auf Linienschiffen oder auch Kriegsschiffen hin- und herreisen dürfen - und sei es mit befristeter Aufenthaltserlaubnis.
  Eine solche Maßnahme würde reichen, um den Schleppern den Boden unter den Füßen zu entziehen, die auf menschliche Tragödien spekulieren und pro Person 1000 bis 2000 Dollar für Fluchthilfe verlangen. Wer sie nicht bezahlen kann, wird schon mal zum Verschieben von Drogen oder von jungen Frauen eingesetzt, die aus Verzweiflung zu Prostitutierten wurden. Aber lieber wird geschossen.
  Den meisten ist unbekannt, wie kurz vor der militärischen Intervention innerhalb der albanischen Bevölkerung des Kosovo über die Lage diskutiert wurde - darüber herrscht systematisches Stillschweigen.
  Der Vertrag von Rambouillet, der richtiger ein Diktat genannt wird, war für die serbische wie auch für die kosovo-albanische Seite unakzeptabel - aus unterschiedlichen, aber nachvollziehbaren Gründen. Jugoslawien konnte der Stationierung fremder Truppen auf seinem Territorium nicht zustimmen, die UÇK konnte sich nicht mit einer nicht näher definierten "Autonomie" zufriedengeben, da sie doch angefangen hatte, für die Unabhängigkeit zu kämpfen. In Rambouillet waren weder die gemäßigten Kräfte unter den Kosovo-Albanern, wie Ibrahim Rugova, vertreten, noch die historischen Führer der UÇK, wie Adem Demaci, der nicht bereit war, auf seine politischen Ziele zu verzichten, um der NATO als Köder in ihrem Krieg zu dienen.
  Rugova hatte zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs viel von seiner anfänglichen Popularität verloren, weil Geduld, eine Politik der kleinen Schritte und gemäßigte Forderungen weder von Milo?sevi´c noch vom Westen honoriert wurden.
  Niemand regte sich im Westen auf, als Milo?sevi´c 1989 die jugoslawische Verfassung zerriß und damit das Autonomiestatut des Kosovo. Noch im Juni 1998, als die europäischen Regierungen sich wegen der wachsenden Flüchtlingsströme sorgten und deshalb auf eine Intervention auf dem Balkan drängten (das hat der damalige italienische Verteidigungsminister im Kabinett Prodi, Andreatta, bestätigt), lehnten die USA das ab und übten auf Jugoslawien keinerlei Druck aus, die Autonomie des Kosovo wiederherzustellen. Deshalb konnte die UÇK im Laufe des Jahres 1998 stark werden und die extremistischen Kräfte in ihr wachsen.
  Die USA haben in der Vergangenheit immer Rugovas Linie des passiven Widerstands unterstützt, weil sie nicht wollten, daß der Kosovo die Stabilität Serbiens untergrabe, während sie in anderen Konflikten involviert waren. 1997 haben sie offiziell die Verschiebung der Wahlen zum "geheimen" Parlament im Kosovo gefordert und erhalten; sie verlangten die Teilnahme der albanischen Bevölkerung an den bevorstehenden Wahlen in Serbien und Jugoslawien und somit ihre Integration in das politische System Serbiens.
  Als vor einem Jahr der bewaffnete Konflikt ausbrach, haben die USA indirekt serbische Massaker gedeckt, indem sie durch den Mund des Balkan-Gesandten Gelbard die UÇK als "terroristische Organisation" bezeichneten. In den folgenden Monaten hat der Westen alles unternommen, um die UÇK dem Kommando "gemäßigter" Führer wie Rugova zu unterstellen. Als dies nicht gelang, hat er implizit die serbische Offensive vom Sommer 1998 geduldet, weil auf jeden politischen Druck verzichtet; der Linienwechsel erfolgte erst, nachdem Belgrad die Offensive siegreich beendete. Die USA begannen sich erst auf dem Gipfel von Rambouillet für die Sache zu interessieren, als einige wichtige Führer der UÇK sich bereit zeigten, den bewaffneten Kampf einzustellen und die Forderung nach Unabhängigkeit auf unbestimmte Zeit zurückzustellen.
  Der Erfolg der UÇK weist damit Parallelen zum Aufschwung des islamischen Fundamentalismus im ehemals sehr laizistischen Palästina auf - eine Reaktion auf die Enttäuschung über die Mißerfolge der PLO, deren Mäßigung von der israelischen Regierung und von den USA auch nicht mit gleicher Münze vergolten wurde.
  All dies wird von der Presse ignoriert. In den ersten Kriegstagen war noch von Rugova die Rede, es wurde berichtet, sein Haus sei angezündet, er selbst verwundet, seine wichtigsten Mitarbeiter aber ermordet worden. Als diese "Toten" dann in der Öffentlichkeit erschienen und Rugova selbst zusammen mit Milo?sevi´c im Belgrader Fernsehen auftrat, wo er die sofortige Einstellung der Bombenangriffe forderte, wurde sofort behauptet, das sei eine Fälschung, die Bilder stammten von einer Begegnung aus dem Jahr 1998. Als sich zeigte, daß das nicht stimmte, weil die Kleider andere waren (außerdem hatten beide serbisch und von den Bombenangriffen gesprochen), wurde Rugova als Geisel und als Gefangener Milo?sevi´cs dargestellt. Dabei war er aus freien Stücken von Paris nach Belgrad gekommen!
  Ein weiteres Beispiel von Desinformation gaben die westlichen Massenmedien, als die NATO ankündigte, sie wolle das jugoslawische Fernsehen bombardieren, wenn dieses nicht mindestens sechs Stunden pro Tag Westprogramm ausstrahle. Alle haben sich beeilt, die Berechtigung einer solchen Forderung zu bestätigen, und dabei vergessen, daß in Serbien weiterhin Journalisten aus Aggressorländern operieren (wie 1991, wo CNN aus Bagdad berichten konnte). Welches andere angegriffene Land hat dies jemals Aggressoren erlaubt, wo man weiß, daß zwischen den Zeilen unschwer militärische Informationen vermittelt werden können?
  Ein anderer Fall bewußter und schamloser Nachrichtenfälschung ist der, der auf die "humanitäre Bombardierung" eines Flüchtlingtrecks durch die NATO folgte. Sofort wurde gemutmaßt, es handele sich dabei um einen serbischen Racheakt für Bombenangriffe der NATO auf eben dieses Gebiet. Dann haben die alerten Korrespondenten des italienischen Fernsehens RAI "Zeugen" aufgetan, die schwörten, deutlich "serbische MIGs" gesehen zu haben, wie sie aus 300 Meter Höhe Bomben auf den Flüchtlingstreck warfen. Schade, daß wenig später das NATO-Kommando eingestand, es seien seine "humanitären Flugzeuge" gewesen, die die Bomben geworfen haben... aus 5000 Meter Höhe. Offenkundig gibt es in Albanien heute Leute, die schwören, alles gesehen zu haben, wenn man ihnen dafür 100 Dollar zusteckt (und wenn es Kämpfer der UÇK sind, die sich in Uniform und Waffen von Bari aus aufmachen, liefern sie die Lügen auch gratis).
  Die Kriegshetze dieser Tage verschleiert die Mitverantwortung der westeuropäischen Länder für die Entwicklungen in Jugoslawien in diesem Jahrhundert.
Antonio Moscato


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