Sozialistische Zeitung

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 13.05.1999, Seite 14

Sozialistische Schlagworte im Internet

Unter www.soz-plus.de warten manche unerwartete Erfahrungen

Es war im November letzten Jahres. Da stritt ich hitzig mit Angela Klein über die zukünftige Bedeutung des Internets. Wird das Lesen in diesem zumindest die erste Welt umspannenden Netz mit der gedruckten SoZ konkurrieren? Kann die neue Technik - zumindest teilweise - den Papierversand ablösen und unsere immensen Kosten für die Auslandsabos senken?
  Die SoZ-plus wurde damals grade mal vier Wochen als neue kleine Schwester der SoZ im "WWW" angeboten. In der Debatte ersetzten also heftig vorgetragene Überzeugungen die noch fehlenden Erfahrungen: Kein normaler Mensch will vom Bildschirm die gründliche Entwicklung politischer Hintergründe ablesen; der Preis für den Einstieg in die noch unreife Technik ist mit ca. 100 DM monatlich zu hoch für politische Aktivisten; aufgrund der Aktualität und der Angebotsfülle werden Web-Sites bald den Papierzeitungen ihren Rang ablaufen; eine internationalistische Linke darf den Wettlauf um die Plätze im neuen Medium nicht verschlafen...
  Nicht ohne missionarischen Eifer habe ich damals abschließend angekündigt: "Die SoZ-plus wird - zumindest - ein Zehntel der jetzigen SoZ-Leserschaft gewinnen!" Angesichts der Auflage der Sozialistischen Zeitung - SoZ war damit die Latte nicht übermäßig mutig aufgelegt. Und bereits vier Monate später zählt die SoZ-plus tatsächlich mehr als 150 Besucher in den vergangenen 14 Tagen. Nicht nur aufgrund der (behaupteten) noch explosiven Zuwachsrate des allgemeinen Internets von monatlich 10% erscheint eine weitere Verdoppelung der Besuche noch in diesem Jahr wahrscheinlich.

Marketing
Überraschenderweise wissen wir über die jahrelang treue SoZ-Leserschaft weniger als über all diejenigen, die einmalig oder mehrfach bei der SoZ-plus vorbeigeschaut haben. Denn gewollt, ungewollt oder sogar unbemerkt hinterlassen alle im Netz ihre digitalen Spuren. Wir wissen, wann sie wie oft und von wo aus die SoZ-Seiten lesen, ja sogar mit welcher Software.
  Die präzise Beobachtung und Auswertung des Verhaltens ihrer Leserschaft ist für bürgerliche Zeitungen eine einzigartige neue Möglichkeit und Grund genug, um kostenlose Internet-Ausgaben bereitzustellen. Ihr Ziel ist die Erhöhung der Auflage, ihr Antrieb die von der Auflage abhängenden Werbeeinnahmen. Unser Antrieb zur Verbreitung der SoZ-Inhalte ist nur mittelbar kommerziell. Und doch: Auch wir wollen gelesen werden, je mehr, je besser.
  Anders als die bürgerlichen Konkurrenten stellen wir dazu zwar unsere Inhalte nicht zur beliebigen Disposition. Welche Themen gerade unsere Leserinnen und Leser bewegen, das interessiert auch uns brennend. Darum greifen wir also ebenfalls gern auf die neuen Möglichkeiten zu. Das Besondere der SoZ-plus: Wir legen die gesammelten Daten schon direkt auf unserer Web-Site offen - in den "Hitlisten.
  Die Erstzugriffe übersteigen die wiederkehrenden "Besuche" um ein Vielfaches - und dies ist durchaus typisch für Online-Zeitungen. Knapp jeder zehnte Zugriff auf unsere Startseite kommt aus dem Ausland, aus den - meist deutschsprachigen Nachbarländern, aber auch aus USA, Mexiko, Schweden, Portugal... Seit dem Kosovo-Krieg schaut sogar das US-Militär vereinzelt bei uns rein. Nicht nur geographisch, auch soziologisch übertrifft die SoZ-plus die SoZ, wenn es um "Reichweite" und "Durchdringung" geht, wie es im betriebswirtschaftlichen Marketing-Jargon heißt. Nur etwa die Hälfte liest privat in der Freizeit. Die anderen starten offenbar vom Arbeitsplatz aus oder über die Universität (Köln, Bochum, Hamburg, Kassel, Dresden, Tübingen), suchen nach nützlichen Informationen und stoßen dabei auf unser kostenloses Angebot.

Schielen nach den Quoten
Eine "Hitparade" der einzelnen gelesenen SoZ-Artikel vermag nichts über deren Qualität auszusagen noch gar über ihre objektive politische Bedeutung. Denn die meisten Besucher/innen tippen einige Schlagworte in die Internet-Suchmaschine, blättern durch deren Antwortliste und stoßen auf unserer Beiträge. Sie lesen dort den Titel, Autor/in, das Erscheinungsdatum, die Quelle und die ersten Zeilen. Wer also möglichst schon zu Beginn des Artikels die Reizworte der vorherrschenden Debatte abfrühstückt, hat damit zumindest eine der Hürden zur Wahrnehmung im Internet genommen.
  So verwundert es nicht lange: Elke Breitenbachs Polemik "Vorsicht Falle - Die neuen Regelungen für die 630 DM Jobs" (SoZ Nr. 6 vom 18.03.1999) verbuchte fast 600 direkte Nachfragen bis zum Inkrafttreten dieses tückischen Gesetzwerkes am 1.April, und hat seitdem einige weitere hundert gezählt. Auf dem zweiten Platz mit über 250 Zugriffen landete Rolf Eulers Essay "Erich Kästner oder die Liebe zum Vorwort" (SoZ Nr. 4 vom 18.02.1999). Hier fahndeten wohl etliche geplagte Schüler/innen nach Stoff für ihre Hausarbeit zum 100. Geburtstag des Romanschreibers.
  Die Filmkritik "Aimee und Jaguar" von Andreas Boden (SoZ Nr. 5 vom 02.03.1999) zählte über 130 Treffer, Gerhard Klas erreichte mit seiner Analyse der "Agenda 2000" in der SoZ Nr. 4 schon über 140, Angela Kleins Leitartikel "Nato raus aus dem Kosovo" immerhin mehr als 110 Nachfragen. Internationalismus wird "immer gern genommen", feministische Analysen bleiben dagegen im männlich besetzten Internet noch Ladenhüter. Ärgerlich. Und doch - bei der Redaktionssitzung kann das Studium solch aktueller Quoten als Ermutigung dienen, bei manchem Thema gleich noch mal nachzusetzen.
  Der Aufwand für die SoZ-Plus war anfänglich nur gering angesetzt. Schließlich sollte es sich bei unserem Angebot nur um eine Zweitverwertung der eigentlichen SoZ handeln. Deren redigierte Artikel werden dabei für die unterschiedlichen Rechner und Bildschirme lesbar umgestaltet. Zusätzlich aber werden sie für die Suchmaschinen aufbereitet und dort angemeldet. Dies ermöglicht allen die komfortable Volltextrecherche durch mittlerweile über 200 Beiträge. Mit jeder SoZ-Nummer wächst dieses Archiv um gut 20 weitere Artikel. Darüber hinaus verknüpft die SoZ-plus unsere eigenen politischen Brennpunkte und Interessen mit den Internet-Auftritten anderer Linker und mit Fremdanbietern.

Die Zukunft
Die SoZ-plus kann heute eine Abo der SoZ nicht ersetzen. Sie ergänzt es - mit zunehmendem Erfolg. Die weitere Zukunft wird - je nach politischem und wirtschaftlichem Interesse - recht unterschiedlich herbeigeredet. Drei der Deutungen sollen uns abschließend das Fürchten lehren.

1.) Die Nische
Die einfacheren Mittel und Methoden des Nachrichtenwesens - wenn sie einmal eingebürgert und für brauchbar befunden worden sind - werden von den vollkommeneren und höherentwickelten niemals wieder gänzlich verdrängt werden. So lautet - etwas verkürzt - das "Gesetz" des Altphilologen und Journalisten Wolfgang Riepl aus dem Jahre 1911. Eine nicht eben beruhigende Aussicht für die gedruckte SoZ.

2.) Das Mißverständnis
Junge Informationstechnologien werden aus Unerfahrenheit zunächst versuchsweise mit den Formen der überkommenen Medien ausprobiert: So wurde 1898 in Budapest eine "Telefonzeitung" eingerichtet, mit bald 6000 täglichen Zuhörern. So wurde das Radio anfänglich von der US-Navy zur Funk-Kommunikation zwischen ihren Kriegsschiffen genutzt. So begann das Fernsehen als abgefilmte Radiosendung. So wird heute mit Telefonieren via Internet experimentiert. Möglicherweise werden wir bald Online-Zeitungen wie die SoZ-plus als ebenso rührende Imitationsversuche belächeln.

3.) Das Ertrinken
Täglich wächst die Flut der ins Internet geschwemmten Texte. Bald werden Bilder, Musik und Filme den Hauptteil der Angebote ausmachen, professionell aufbereitet und weltweit verfügbar. Angesichts der Eroberung des Internets durch die großen Unterhaltungskonzerne könnte die heute mutig auftretende SoZ-plus eine eher tragische Figur abgegeben.
Tobias Michel / webmaster


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