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Am 10. und 11.Mai trafen sich in Bremen die Verteidigungs- und Außenminister der
Westeuropäischen Union (WEU*). Sie beschlossen einen Prozeß der fortschreitenden Integration der Militärallianz WEU in
die Europäische Union bis Ende 2000, um eine "Stärkung der europäischen Militärkapazitäten für
eigene Krisenmissionen und humanitäre Einsätze sowie die Beseitigung von militärischen Defiziten" zu erreichen,
erklärte Verteidigungsminister Rudolf Scharping. "Startschuß" soll das EU-Gipfeltreffen Anfang Juni in Köln
sein.
Eine gemeinsame Militärpolitik scheint wie nie zuvor in greifbare Nähe gerückt. Dazu trägt die in der Geschichte der
EU erstmals festgelegte Doppelpräsidentschaft der Bundesregierung in der EU und in der WEU genauso bei wie der Krieg auf dem
Balkan. "Es zeigt sich, daß in der Kosovo-Krise die außenpolitische Einigkeit und Handlungsfähigkeit signifikant
stärker geworden ist", konstatiert Günter Verheugen, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, am 23.April in
einem Zwischenbericht der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Der Amsterdamer Vertrag, der seit dem 1.Mai in Kraft ist, liefert im
Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) weitere Grundlagen für den Ausbau der Verteidigungspolitik. Er
verankert die Perspektive, die Funktionen der WEU in die EU zu integrieren.
Auch der jüngste NATO-Gipfel in Washington begrüßte angesichts der möglichen Gefahren - vom klassischen
Angriffskrieg über sozial bedingte Instabilität und ethnische Auseinandersetzungen in Staaten an der "Peripherie" des
NATO-Vertragsgebiets bis hin zu "Terroranschlägen" oder der "Proliferation von Massenvernichtungswaffen" -
die Verschmelzung von EU und WEU. Allerdings gegen den massiven Widerstand der Türkei, der in Washington in einer zusätzlich
einberufenen Verhandlungsrunde der Außenminister überwunden werden mußte.
Im Ergebnis soll der Europäische Rat gegenüber der WEU eine "Leitlinienkompetenz" erhalten. Mit Hilfe einer neuen
"Strategieplanungs- und Frühwarnungseinheit" sollen die EU-Regierungsgipfel im Konsensverfahren eine "gemeinsame
Strategie" für sicherheits- und verteidigungspolitische Angelegenheiten festlegen, deren Durchführung durch den Ministerrat
einer qualifizierten Mehrheit unterliegt. Zudem sieht die GASP die Möglichkeit einer "konstruktiven Enthaltung" vor.
Mitgliedstaaten, die sich bei einer geplanten Militäraktion enthalten, sind nicht verpflichtet, daran teilzunehmen. Die erste
"gemeinsame Strategie" soll in Köln für den Umgang mit Rußland verabschiedet werden.
Außerdem ist geplant, eine "Persönlichkeit mit ausgeprägtem Profil" zum Hohen Vertreter für die GASP zu
ernennen - mit Kompetenzen "vergleichbar denen eines Generalsekretärs der NATO", schlägt Klaus Hänsch,
SPD-Spitzenkandidat zur Europawahl, vor. Außenminister Joseph Fischer denkt zudem laut über eine Personalunion des Hohen
Vertreters der GASP und des Generalsekretärs der WEU nach.
Instrument WEU
Die 1948 als Brüsseler Pakt gegründete WEU hat eine Doppelrolle inne. Für Frankreich, in geringerem Umfang auch
für Deutschland, liegt die Betonung auf dem "europäischen Sicherheitsbündnis". Für Großbritannien
ist es vor allem der "europäische Pfeiler der NATO", der ausgebaut werden soll. Im Dezember 1998 kamen sich Frankreich
und Großbritannien näher und verabschiedeten die Erklärung von St.Malo, in der sie die autonome Handlungsfähigkeit
der Union befürworten.
Bereits in ihrem Gründungsvertrag ist die WEU auf eine enge Zusammenarbeit mit der NATO festgelegt. In der Zeit des Kalten Krieges
schenkten die Regierungen der WEU jedoch kaum Beachtung. Erst im Juni 1992 stärkte die Petersberger Erklärung die operative
Rolle. Gemäß dieser Erklärung gehören Konfliktverhütung und Krisenbewältigung,
"friedenserhaltende und humanitäre Maßnahmen" sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung zum
Aufgabenkatalog.
1996 beschlossen die NATO-Außenminister in Berlin, daß die WEU künftig unter Rückgriff auf die Infrastruktur der
NATO militärische Operationen in eigener Verantwortung durchführen könne - auch ohne aktive Beteiligung der USA. Die
politische Entscheidung halten die USA allerdings fest in ihren Händen: Auf dem Berliner Treffen haben die USA ihr Vetorecht
durchgesetzt und können eine militärische Mission der europäischen Staaten jederzeit verhindern.
Das deutsch-französischen Eurocorps legte mit seiner Gründung 1992 den Grundstein für einen EU-eigenen
militärischen Körper, dem mittlerweile auch 12.000 spanische Soldaten angehören. Insgesamt ist die EU mit 50.000
einsatzfähigen Soldaten interventionsbereit. Zwei weitere multinationale Truppenverbände sind der WEU unterstellt: die 1995 von
Frankreich, Italien und Portugal gegründeten "Eurofor" und "Euromarfor". Ergänzt werden sollen die
Truppen durch eine "Europäische Rüstungsagentur".
"Die transatlantische Partnerschaft und die Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa bleiben auch in Zukunft Garant für
Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent. Aber ebenso ist eine europäische Sicherheitsarchitektur ohne die Beteiligung
Rußlands undenkbar", erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder im Februar auf einer Sicherheitspolitischen Tagung in
München. In Rußland stehen noch mehr als 1,2 Millionen Soldaten unter Waffen und das Nuklearpotential wird gerade einer
Modernisierung unterzogen. Deshalb, und weil Rußland im UNO-Sicherheitsrat über einen Sitz verfügt, "müssen
wir der Tatsache Rechnung tragen, daß Rußland eine Führungsrolle beansprucht", meint General Klaus Naumann, bis
vor kurzem Vorsitzender des Militärausschusses der NATO.
Auch wenn der NATO-Rußland-Rat dem "besonderen Verhältnis zu Rußland Rechnung" tragen soll, ist Naumann
besorgt über die "tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten" und die daraus resultierende politische
Instabilität, die "wir in unserer Sicherheitsanalyse berücksichtigen" müssen.
Der NATO-Rußland-Rat wurde eingerichtet um zu verhindern, daß die NATO-Osterweiterung die Beziehungen insgesamt vergiftet.
Im Mai 1997 unterzeichnete die russische Regierung das entsprechende Abkommen in Paris. Dieses sieht zwar einen ständigen
Gemeinsamen Rat von Allianz und Rußland vor.
Bei wesentlichen Entscheidungen und in einer Krisensituation verhandeln und agieren jedoch die NATO-Partner, ohne daß Rußland
sich dagegen stellen kann und auf seine Interessen Rücksicht genommen werden müßte.
USA und Europa
Seit dem Ende des Kalten Krieges sind aus Amerika häufig die gleichen Mahnungen zu hören - von einer republikanischen ebenso
wie von einer demokratischen Administration: Amerika will bei der Lösung globaler Aufgaben stärkere europäische
Beteiligung. Naumann zeigt sich zwar erfreut darüber, daß der Wegfall des Ost-West-Konflikts zu einer deutlichen Entlastung der
Haushalte geführt hätte. Genau dies kritisiert jedoch der Botschafter der USA in Deutschland, John C. Kornblum. Er bezeichnet die
"anhaltenden Kürzungen der europäischen Verteidigungshaushalte" als ein "äußerst
besorgniserregendes Zeichen". Deshalb begrüßt er die "europäische Bereitschaft, mehr Verantwortung zu
übernehmen und mit uns bei der Verteidigung gemeinsamer Interessen zusammenzuarbeiten".
Die USA haben in ihrem 1997 veröffentlichten Wolfovitz-Bericht klar herausgestellt, daß sie künftig verhindern wollen,
daß erneut eine Macht auf den Plan tritt, die - wie seinerzeit die Sowjetunion - in der Lage wäre, die Vormachtstellung der USA zu
gefährden.
Als potentielle Gegner zählen die USA Rußland, China und Japan, aber auch Europa auf. "Zwar sollen die Waffen", so
Marie De La Gorce in Le Monde diplomatique, "die jene angenommenen Gegner ausschalten sollen, in erster Linie wirtschaftlicher,
politischer und kommerzieller Natur sein. Es wird aber stets daran erinnert, daß die militärische Stärke ein wesentlicher
Faktor für die Vormachtstellung der USA bleibt."
"Die größte Herausforderung für Europa wird darin bestehen, erneut die visionäre Kraft zu entwickeln, die seine
Völker mehrere Jahrhunderte lang geleitet hat", meint Kornblum. "Vision bedeutet in diesem Falle", so der Botschafter
weiter, "mit den USA bei der Definition von Problemen zusammenzuarbeiten und Wege für ihre Lösung zu finden." Den
globalen Anspruch der NATO, auch mit "Out-of-area"-Einsätzen militärisch einzugreifen, begründet Kornblum
mit Sicherheitsinteressen. "Es wäre gefährlich anzunehmen, die einzige die Aufmerksamkeit der NATO verdienende
Bedrohung der Mitglieder des Bündnisses käme von Orten nahe der Grenzen der NATO."
In Europa ist es vor allem Frankreich, das sich den amerikanischen Plänen für eine Globalisierung der Allianz entgegenstellt. Nach
wie vor möchte Frankreich die Regel möglichst umfassend akzeptiert sehen, daß ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates die
NATO, außer im Falle "kollektiver Verteidigung", nicht militärisch eingreifen solle.
Anders als die übrigen NATO-Partner hat Frankreich bis heute keinen Truppenteil ständig der NATO zugewiesen und ist deshalb
auch nicht an der permanenten Kommandostruktur der Allianz beteiligt. Die in Mazedonien stationierte französische "Extraction
Force" gehorcht trotzdem unzweideutig dem Kommando des amerikanischen NATO-Oberbefehlshabers in Europa. Auch der 1996
unternommene Versuch der französischen Regierung, den Kommandobereich Europa-Süd einem europäischen
Oberbefehlshaber zu unterstellen, scheiterte an dem Veto der USA.
Bei der Militärpolitik geht es nie ausschließlich um geostrategische Interessen, sondern auch um gigantische Geschäfte. Mehr
als 250 Milliarden Dollar jährlich gibt allein die US-amerikanische Regierung für Rüstungsprodukte aus. Die Aufträge
gehen fast vollständig an Firmen in Nordamerika.
Der europäische Rüstungshaushalt ist zwar weitaus geringer, stellt für DASA, Thyssen, British Aerospace, Siemens,
Thomson, Diehl, Alcatel und Preussag dennoch ein beträchtliches Auftragsvolumen dar. In diesem Zusammenhang spielt eine
europäische Rüstungsagentur eine zentrale Rolle.
Arno Neuber, Beirat der Informationsstelle Militarisierung, spricht sogar vom "zweiten Standbein neben der Armee". Die
Rüstungsindustrien der BRD, Frankreichs und Großbritanniens wollen sich die in Europa vorhandenen
Rüstungskapazitäten unterordnen. Seit jeher sind Rüstungsindustrien, die in erster Linie von öffentlichen
Aufträgen leben, eng mit der militärischen und politischen Führung verflochten. Eine europäische
Beschaffungsbehörde wird analog zu der in den USA peinlich darauf achten, daß die Rüstungsaufträge bei den
Eurokonzernen bleiben.
Scharping begrüßte in Bremen die Fortschritte bei der Rüstungszusammenarbeit, die aber "noch nicht groß genug
wären". Die auf dem Gipfel erwähnten "militärischen Defizite" sind ein Hinweis auf die kommenden
Aufträge: Großraumflugzeuge und Weltallsatelliten.
Gerhard Klas