Sozialistische Zeitung |
Die Großstadt - Faszinosum und Schreckbild zugleich. Mit diesem Zwiespalt setzt sich Michael
Glawogger in seinem 1998 entstandenen semidokumentarischen Film Megacities auseinander. Der Film wurde in Bombay, New York, Moskau
und Mexiko-Stadt gedreht. In zwölf Episoden versucht der Film, Momente aus den Leben von Shankar, dem Bioskopmann, Babu Khan,
dem Farbensieber (Bombay), Modesto, dem Hühnerfüßeverkäufer, Nestor, dem Müllsammler, Cassandra, der
Schauspielerin (Mexiko-Stadt), Oleg, Borja, Kolja und Mischa, den Straßenkindern, Larissa, der Kranfahrerin (Moskau) und Toni, dem
Hustler (New York) zu erzählen. Außerdem sehen wir Szenen aus einem Moskauer Polizeirevier und der Sendung eines New
Yorker Lokalradios. Alle dargestellten Personen befinden sich am unteren Ende der sozialen Stufenleiter, alle träumen von einem
besseren Leben. Doch ihr derzeitiges Leben ist geprägt von harter Arbeit, Armut und Gewalt.
Der Film ist überwiegend als Dokumentarfilm entstanden. Doch einige Szenen sind nachgestellt, weil sie dokumentarisch nicht zu
erfassen waren - so die Szenen mit Toni, dem Hustler in New York. Denn einen Drogensüchtigen, der nachts Leute ankeilt, er packt sie
am Hals und verlangt Geld von ihnen, kann man nicht bei seiner realen "Arbeit" filmen. So suchte Glawogger einen Schauspieler,
mit dem die Szenen improvisiert wurden.
Die Authentizität des Films leidet darunter nicht, denn auch Dokumentarfilme sind immer inszeniert, man kann nicht einfach die
Realität filmen, man muß die Realität vermitteln. Das scheint Glawogger zu gelingen. Man gewinnt Einblicke in die
Lebensumstände von Menschen, die ihren Lebensunterhalt auf eine Art und Weise fristen, die sich viele Westeuropäer nicht
vorstellen können. Das soll nicht heißen, daß es in Westeuropa keine sozialen Probleme gibt. So hilft uns der Film vielleicht
auch dabei, den Blick für die Probleme vor unserer eigenen Haustür zu schärfen. Denn wer macht sich schon Gedanken um
die Lebensumstände des "Penners", der einen auf der Straße um "ne Mark" anschnorrt.
Doch der Film ist kein Aufruf zur Wohltätigkeit. Er ist eine Reise in eine andere Welt - eine Welt, in der es keine materielle Sicherheit
gibt. Der Film läßt aber keine lähmende (Pseudo-)
Betroffenheit aufkommen. Denn (fast) alle im Film dargestellten Figuren haben einen Traum. Lola träumt von einer Reise nach Los
Angeles. Oleg, Borja, Kolja und Mischa träumen von einer Reise in den Süden, wo es wärmer ist. Cassandra träumt
von einem eigenen Haus, in dem sie keine Miete zahlen muß, damit sie besser für die Zukunft ihrer Kinder sorgen kann. Babu Khan
träumt von der Rückkehr in sein Heimatdorf. Nur Toni hat keine Träume mehr, ein Schwarzer ohne Ausbildung
"könnte in New York bestenfalls Portier werde", so Regisseur Glawogger in einem Interview.
Wer von vornherein keine Perspektive hat, kann noch nicht einmal mehr träumen. Diese Episode spielt ausgerechnet im reichsten Land
der Welt. Die kleinen Träume dieser "kleinen Leute" drücken die allgemeine Sehnsucht nach einem besseren, nach
einem guten Leben für alle aus. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen werden sich aber noch nicht einmal diese
kleinen Träume erfüllen lassen. Die im Film gezeigten Probleme implizieren die Frage nach einer anderen Gesellschaftsordnung.
Diese Frage stellt der Film nicht und kann sie vielleicht auch nicht stellen. Am Schluß des Films steht vielmehr der Satz: "I am very
happy”.
Das begründet der Regisseur in einem Interview damit, daß Glück ein so subjektiver Zustand sei, daß er kaum etwas
mit äußeren Umständen zu tun habe. Diese Aussage ist nur bedingt nachvollziehbar. Natürlich muß jemand, der
materiell arm ist, nicht unbedingt unglücklich sein. Aber der Farbensieber Babu Khan, der zwölf Stunden am Tag Farben siebt,
dabei die ganze Zeit in einem engen Raum sitzt und den giftigen Farbstaub einatmet, äußert selbst Zweifel daran, daß er so
weiterleben kann. Er ist offensichtlich unglücklich. So hängen Armut und Unglück wohl doch zusammen. Die Lösung
kann aber nicht ungehemmter und zum Teil sinnloser Konsum für alle sein. Es steht vielmehr weiter die Frage auf der Tagesordnung, wie
eine Gesellschaft geschaffen werden kann, "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller
ist".
Andreas Bodden