Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 13.05.1999, Seite 15

Megacities

Die Großstadt - Faszinosum und Schreckbild zugleich. Mit diesem Zwiespalt setzt sich Michael Glawogger in seinem 1998 entstandenen semidokumentarischen Film Megacities auseinander. Der Film wurde in Bombay, New York, Moskau und Mexiko-Stadt gedreht. In zwölf Episoden versucht der Film, Momente aus den Leben von Shankar, dem Bioskopmann, Babu Khan, dem Farbensieber (Bombay), Modesto, dem Hühnerfüßeverkäufer, Nestor, dem Müllsammler, Cassandra, der Schauspielerin (Mexiko-Stadt), Oleg, Borja, Kolja und Mischa, den Straßenkindern, Larissa, der Kranfahrerin (Moskau) und Toni, dem Hustler (New York) zu erzählen. Außerdem sehen wir Szenen aus einem Moskauer Polizeirevier und der Sendung eines New Yorker Lokalradios. Alle dargestellten Personen befinden sich am unteren Ende der sozialen Stufenleiter, alle träumen von einem besseren Leben. Doch ihr derzeitiges Leben ist geprägt von harter Arbeit, Armut und Gewalt.
  Der Film ist überwiegend als Dokumentarfilm entstanden. Doch einige Szenen sind nachgestellt, weil sie dokumentarisch nicht zu erfassen waren - so die Szenen mit Toni, dem Hustler in New York. Denn einen Drogensüchtigen, der nachts Leute ankeilt, er packt sie am Hals und verlangt Geld von ihnen, kann man nicht bei seiner realen "Arbeit" filmen. So suchte Glawogger einen Schauspieler, mit dem die Szenen improvisiert wurden.
  Die Authentizität des Films leidet darunter nicht, denn auch Dokumentarfilme sind immer inszeniert, man kann nicht einfach die Realität filmen, man muß die Realität vermitteln. Das scheint Glawogger zu gelingen. Man gewinnt Einblicke in die Lebensumstände von Menschen, die ihren Lebensunterhalt auf eine Art und Weise fristen, die sich viele Westeuropäer nicht vorstellen können. Das soll nicht heißen, daß es in Westeuropa keine sozialen Probleme gibt. So hilft uns der Film vielleicht auch dabei, den Blick für die Probleme vor unserer eigenen Haustür zu schärfen. Denn wer macht sich schon Gedanken um die Lebensumstände des "Penners", der einen auf der Straße um "‘ne Mark" anschnorrt.
  Doch der Film ist kein Aufruf zur Wohltätigkeit. Er ist eine Reise in eine andere Welt - eine Welt, in der es keine materielle Sicherheit gibt. Der Film läßt aber keine lähmende (Pseudo-)
  Betroffenheit aufkommen. Denn (fast) alle im Film dargestellten Figuren haben einen Traum. Lola träumt von einer Reise nach Los Angeles. Oleg, Borja, Kolja und Mischa träumen von einer Reise in den Süden, wo es wärmer ist. Cassandra träumt von einem eigenen Haus, in dem sie keine Miete zahlen muß, damit sie besser für die Zukunft ihrer Kinder sorgen kann. Babu Khan träumt von der Rückkehr in sein Heimatdorf. Nur Toni hat keine Träume mehr, ein Schwarzer ohne Ausbildung "könnte in New York bestenfalls Portier werde", so Regisseur Glawogger in einem Interview.
  Wer von vornherein keine Perspektive hat, kann noch nicht einmal mehr träumen. Diese Episode spielt ausgerechnet im reichsten Land der Welt. Die kleinen Träume dieser "kleinen Leute" drücken die allgemeine Sehnsucht nach einem besseren, nach einem guten Leben für alle aus. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen werden sich aber noch nicht einmal diese kleinen Träume erfüllen lassen. Die im Film gezeigten Probleme implizieren die Frage nach einer anderen Gesellschaftsordnung. Diese Frage stellt der Film nicht und kann sie vielleicht auch nicht stellen. Am Schluß des Films steht vielmehr der Satz: "I am very happy”.
  Das begründet der Regisseur in einem Interview damit, daß Glück ein so subjektiver Zustand sei, daß er kaum etwas mit äußeren Umständen zu tun habe. Diese Aussage ist nur bedingt nachvollziehbar. Natürlich muß jemand, der materiell arm ist, nicht unbedingt unglücklich sein. Aber der Farbensieber Babu Khan, der zwölf Stunden am Tag Farben siebt, dabei die ganze Zeit in einem engen Raum sitzt und den giftigen Farbstaub einatmet, äußert selbst Zweifel daran, daß er so weiterleben kann. Er ist offensichtlich unglücklich. So hängen Armut und Unglück wohl doch zusammen. Die Lösung kann aber nicht ungehemmter und zum Teil sinnloser Konsum für alle sein. Es steht vielmehr weiter die Frage auf der Tagesordnung, wie eine Gesellschaft geschaffen werden kann, "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".
Andreas Bodden

Megacities, Österreich 1998. Regie/Buch: Michael Glawogger; Kamera: Wolfgang Thaler; Schnitt: Andrea Wagner; Ton: Ekkehart Baumung. (Kinostart: 17.6.99.)
  Der Film lief am 10.5.1999 in Köln im Kino im Kölner Filmhaus, Maybachstr. 111, in der Reihe "Controlled Demolition" zur Vorbereitung auf die Aktionen gegen den Kölner Doppelgipfel.

zum Anfang