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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 27.05.1999, Seite 11

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Erwerbslosenmobilisierung in Frankreich

Am 7.Mai sprach Jeanne Revel im Jugendtreff des Gewerkschaftshauses Kiel über die Französische Erwerbslosenbewegung. Eingeladen hatte das Euromarschbündnis Kiel. Jeanne Revel ist aktiv in der Erwerbslosenbewegung AC! (Agir ensemble contre le chomage! - Gemeinsam handeln gegen Erwerbslosigkeit!). Die Kieler Zeitung Avanti stellte uns das Interview zur Verfügung.

Welche Aktionen haben die Erwerbslosen in Frankreich durchgeführt?
Hauptsächlich haben wir Besetzungen von Verwaltungsinstitutionen organisiert z.B. von Arbeitsvermittlungsbüros oder den Einrichtungen, die in Frankreich das Arbeitslosengeld auszahlen. Für die Forderung nach kostenloser Beförderung wurden außerdem Bahnhöfe besetzt. Es gab auch Aktionen und Besetzungen bei Firmen, die Leute zu prekären oder einfach zu schlechten Bedingungen beschäftigen, und auch in Supermärkten, wo man schnell eingekauft hat, also sich die Lebensmittel genommen hat, die man braucht.

In der BRD haben wir häufig das Problem, daß wir die Arbeitslosen oder die Leute, die prekär beschäftigt sind, nur schwer erreichen. Wie erklärst du dir, daß sich in Frankreich so viele Leute an den Aktionen beteiligt haben?
Die Arbeitslosenbewegung ist im Prinzip eine sehr alte Bewegung, die schon Ende der 70er angefangen hat, allerdings sehr klein und sehr bescheiden. Eine größere Breite oder auch eine größere Wichtigkeit hat sie Anfang der 90er bekommen, als die Arbeitsloseneinkommen drastisch gekürzt wurden. Der eigentliche Beginn der jetzigen Bewegung war dann der nationale Marsch von Erwerbslosen 1994, der durch ganz Frankreich ging. An vielen Orten, an denen der Marsch vorbei kam, bildeten sich Erwerbslosen-Kollektive. Auch andere schlossen sich der Bewegung an, z.B. Studenten, Rentner und Obdachlose, die sich ebenfalls in einer schwierigen sozialen Situation befunden haben.
Den Anstoß für die Besetzungen und Aktionen gab dann die Bewegung der Sans-Papiers [Bewegung von MigrantInnen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus] 1997, die praktisch aus ihrem Verstecktsein aus ihrer Nichtexistenz in die Öffentlichkeit getreten sind, sich sichtbar gemacht haben. Das hat auch für die Arbeitslosen den Anstoß gegeben, anders aufzutreten und selber zu erscheinen.

Welche Rolle spielt AC! in der Erwerbslosenbewegung?
Auf der lokalen Ebene beinhaltet die Arbeit von AC! im wesentlichen konkrete Hilfe vor Ort also wenn jemand z.B. Probleme hat mit einer Verwaltung oder mit Sozialarbeitern, dann sind die Leute von AC! dabei, um dort aufzutreten und auf den Tisch zu hauen und den Leuten zu ihren Rechten zu verhelfen. Zu diesen lokalen Aktivitäten gehören auch Aktionen im Supermarkt und konkrete Aktionen zur kostenlosen Beförderung.
Auf nationaler Ebene versucht AC! die Aktivitäten der lokalen Erwerbslosenkollektive zu koordinieren und zu vernetzen, um gemeinsame Forderungen aufzustellen. Eine der Hauptforderungen ist die Veränderung des Systems der Erwerbslosenunterstützung, in dem bislang nur Gewerkschaften und Arbeitgeber vertreten sind. Die bestimmen die Art und Weise, wie die Erwerbslosenunterstützung gehandhabt wird. Außerdem fordern wir die Abschaffung der Bestimmung, daß junge Leute unter 25 kein Recht auf Sozialhilfe haben.
Zur Durchsetzung dieser gemeinsamen Forderungen sind im Winter 1997/98 z.B. bis zu 50 Arbeitslosenbüros gleichzeitig besetzt worden. Wenn ein Büro geräumt wurde, wurde ein anderes sofort wieder besetzt. Diese Präsenz führte auch dazu, daß sich immer mehr Leute der Bewegung angeschlossen haben und immer mehr Kollektive entstanden.

Großdemonstrationen, Massenaktionen in Kaufhäusern, Restaurants und Bahnhöfen, Besetzungen in ganz vielen Städten Frankreichs im Winter 1997/98 - woran meßt Ihr den Erfolg dieser Bewegung?
Ein wesentlicher Erfolg ist, daß wir als Bewegung überhaupt in Erscheinung getreten sind und damit eigentlich die erste wesentliche Irritation für die Jospin-Regierung bedeutet haben. Die hatte von dieser Seite eigentlich mit nichts gerechnet, weil sie sich doch so einen sozialen Anstrich gibt. Am wenigsten hatte sie bei den Arbeitslosen Widerstand erwartet, denn die waren bisher eben nicht organisiert aufgetreten.
Die Bewegung hat in der Bevölkerung viel Beifall gefunden. Es herrschte das Gefühl vor, daß es eine berechtigte Bewegung ist. Und was noch erreicht wurde, ist, daß die Regierung wenigstens etwas Geld gegeben hat. Eine Milliarde Franc - das ist nicht viel, aber es gibt immerhin den Eindruck, daß man nicht nur zum Spaß auf die Straße gegangen ist, sondern auch konkrete Erfolge hatte. Das Verteilen des Geldes führte sogar dazu, daß die Besetzungen noch zunahmen, weil eben die Leute, die aktiv dieses Geld eingefordert haben, es auch bekommen haben. Das war sicher nicht das, was die Regierung sich davon versprochen hatte.

Und heute? Die Berichterstattung über Euch vermittelt den Eindruck, daß die Mobilisierung nachgelassen hat. Womit erklärst du dir das?
Daß die Bewegung schwächer geworden ist, muß man im Verhältnis betrachten. Es gibt eigentlich noch genauso viele Besetzungen, aber es ist eben so, daß die Regierung ihre Lektion gelernt hat. Das heißt, daß sie kaum noch Besetzungen zuläßt und sofort räumt. Außer einer hat es keine Besetzung mehr gegeben, die länger als 24 Stunden gedauert hat. Dadurch gab es auch nicht mehr diese Kristallisationspunkte, also diese Orte der Begegnung, die zur ständigen Ausdehnung der Bewegung beigetragen haben.
Der zweite Faktor ist, daß die Einheit zwischen den verschiedenen Arbeitslosengruppen aus der Grünen Partei, linken Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen nicht mehr erreicht werden konnte. Außerdem ist die Berichterstattung nicht mehr so positiv in diesem Jahr. Das Thema ist nicht mehr so schick und "en voge".

AC! beteiligt sich in diesem Jahr an der Mobilisierung für den Euromarsch und mobilisiert selber auch für die Demonstration am 29.5. und den Gegengipfel in Köln. Was versprecht Ihr Euch vom Euromarsch?
Über die Beteiligung am Euromarsch wollen wir eine größere Vernetzung von Gruppen erreichen, die sich mit den Themen der Erwerbslosigkeit befassen. Wir hoffen, daß die Konferenz, die sich direkt an die große Demonstration am 29.5. in Köln anschließt, ein Start für eine größere europäische Zusammenarbeit sein kann.
Es gibt bei diesem Treffen drei wesentliche Punkte: Am ersten Tag soll es um Existenzgeld gehen, dann um Beschäftigung und am dritten Tag schließlich um das Schengen-Europa, also um das Thema Bewegungsfreiheit in und nach Europa.
Wir betrachten eben diese drei Aspekte als zentrale Themen und würden gerne versuchen darüber ein europaweites Netz herzustellen. Wir versuchen, beim Euromarsch dafür erste Fäden zu knüpfen.

Seit mehr als einem halben Jahr gibt es eine rot-grüne Regierung in Deutschland und wir stellen fest, daß die Oppositionsbewegung dadurch eher Schaden genommen als zusätzliche Kraft gewonnen hat. Kannst du uns auch vor dem Hintergrund, daß Ihr schon seit zwei Jahren eine sozialdemokratische Regierung habt, an der auch die Kommunistische Partei beteiligt ist, einen Tip geben, wie wir mit der Sozialdemokratie in Regierungsämtern umgehen sollen?
Ich wünsche euch, daß ihr schneller reagiert, als wir es in den 80er Jahren gemacht haben, als die erste sozialistische Regierung an der Macht war. Damals gab es kaum soziale Bewegungen. Wir haben offensichtlich diese zehn Jahre gebraucht, um aufzuwachen, um uns wieder zu konstituieren, und das lag sicher daran, daß viele Leute Hoffnungen in die sozialdemokratische Regierung gesetzt und gedacht hatten, hier würde sich etwas verändern, weil es die erste linke Regierung in der 5. Republik war. Es hat sich aber gezeigt, daß sich diese Hoffnungen nicht bewahrheitet haben. Die Maßnahmen der linken Regierung in Frankreich ähneln sehr denen der rechten, auch wenn immer mal kleinere Aktivitäten gestartet werden. Es ist subtiler als vorher, und es werden eben Maßnahmen durchgeführt, die nach Erleichterungen aussehen und das Ganze ein bißchen verschleiern sollen.
Ich kann nur raten, schnell zu handeln und nicht auf eine linke Regierung zu setzen, weil sich gezeigt hat, daß die sozialdemokratischen Regierungen, die wir jetzt fast überall in Europa haben, die Situation, was die sozialen Rechte und auch die Rechte von MigrantInnen betrifft, eher verschlechtern oder in einer Weise entwickeln, die gefährlich ist. Es ist wichtig, schnell aktiv zu werden und sich zu vernetzen.


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