Sozialistische Zeitung |
Dieser Film des französischen Euromarsch-Aktivisten Patrice Spadoni ist eine visuelle Chronologie der
ersten Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, prekäre Beschäftigung und soziale Ausgrenzung im April, Mai
und Juni 1997. Die große Abschlußdemonstration dieser Märsche in Amsterdam mit 50000 Teilnehmenden kommt nur am
Rande vor. So ist dieser Film wirklich "auf dem Marsch" entstanden.
Der Film führt nach Marokko, Spanien, Frankreich, Belgien, Großbritannien und schließlich in die Niederlande. Spanische
Anarchosyndikalisten, Aktivisten der französischen Erwerbslosenbewegung AC!, britische GewerkschafterInnen und viele andere sind
auf dem Weg nach Amsterdam, um ein Netz des Widerstands gegen das Europa des Kapitals zu schaffen.
Die einzelnen Orte des Protests werden direkt miteinander verbunden, indem sie sich von Ort zu Ort fortbewegen. So wächst der Zug
kontinuierlich an, denn überall schließen sich Aktive an. Spadoni zeigt den Aufbruch derer, deren Stimme in Europa bisher nicht
gehört wurde: der Erwerbslosen, der ungeschützt Beschäftigten, der Flüchtlinge und der illegalen
MigrantInnen.
Die eigentlich neue Qualität der Euromärsche besteht darin, daß in EU-Europa endlich der Ansatz für eine breite
soziale Bewegung entsteht, die die Aussicht bietet, der unsozialen, unökologischen und rassistischen Politik der EU ein echtes
Gegengewicht entgegen zu setzen. Die Forderungen der europäischen Märsche enthalten aber noch viele Bezüge auf
klassische sozialdemokratische und Gewerkschaftspolitik, so daß die Gefahr besteht, dem "schlechten" Neoliberalismus einen
"guten" Keynesianismus entgegen zu setzen. So bleibt die Frage offen, wie und ob sich aus dem Euromarsch eine emanzipatorische,
antikapitalistische Bewegung entwickeln kann. Auch die Existenzgeldforderung enthält wenig Kapitalismuskritik und viel Glaube an die
radikale Umverteilung durch einen starken Sozialstaat.
Doch aller Bedenken zum Trotz ist der Aufbau einer sozialen Gegenmacht gegen das Europa des Kapitals unbedingt positiv zu bewerten.
Forderungen und Perspektiven können sich im Laufe der Entwicklung einer sozialen Bewegung verändern, differenzieren und auch
radikalisieren. Positive Ansätze zu einer Weiterentwicklung sind die Beteiligung der Interkontinentalen Karawane (ICC) und eines
europäischen Antifa-Netzwerks an der Demonstration am 29.Mai in Köln. Die Interkontinentale Karawane wird von dem
weltweiten Netzwerk PGA (Peoples Global Action) veranstaltet und führt AktivistInnen von indischen und brasilianischen
Kleinbauern- und Landlosenbewegungen auf eine Tour durch Westeuropa.
Auch im Aufruf der Europäischen Märsche zur Demonstration am 29.5. nach Köln wird positiv auf die Globalisierung der
Kämpfe Bezug genommen, so daß eine Vernetzung europäischer und außereuropäischer sozialer Kämpfe in
Zukunft wahrscheinlich ist. Die Mobilisierung zu einem europäischen antifaschistischen Block auf der Demonstration am 29.Mai wurde
von der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation (AABO) initiiert und stellt angesichts des Erstarkens und der Vernetzung
faschistischer Bewegungen in Europa und angesichts der rassistischen Praktiken der europäischen Regierungen ein weiteres wichtiges
Element in der Bewegung gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung dar.
Je mehr soziale, antirassistische und antifaschistische Initiativen miteinander kooperieren und je größer die soziale Bewegung
weltweit wird, desto besser sind die Voraussetzungen für die Entwicklung einer emanzipatorischen und letztlich revolutionären
Perspektive.
Andreas Bodden