Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.13 vom 10.06.1999, Seite 1

Die Angst der Linken vor der Selbstbestimmung

Der Krieg der serbischen Truppen gegen die Bevölkerung in Kosova und der Krieg der NATO gegen Jugoslawien haben bei der Linken eine tiefgehende Glaubwürdigkeitskrise offenbart. Grundlage jeder emanzipatorischen und sozialistischen Politik ist die Unteilbarkeit von Menschenrechten, Selbstbestimmung und Demokratie.
Gregor Gysi und die PDS haben wiederholt die völkerrechtliche Illegalität des NATO-Angriffs hervorgehoben, letztlich aber nichts anderes als weitere Verhandlungen mit dem Regime in Serbien vorgeschlagen, um die ethnischen Säuberungen zu stoppen.
Die drei von Winfried Wolf herausgegebenen Antikriegszeitungen und die jüngste wsw-Zeitung der PDS-Bundestagsfraktion handeln die Massaker und Vertreibungen in Kosova als Randthema ab. Die Forderungen der kosovarischen Bevölkerung nach demokratischer und nationaler Selbstbestimmung finden keinen Widerhall. Die UÇK wird als separatistisch und terroristisch verteufelt und auf die gleiche Ebene mit dem serbischen Staatsterror gestellt.
Demgegenüber ist die junge Welt unzweideutig und stellt sich zynisch auf die Seite der serbischen Unterdrücker. Welche Debatte will die SoZ befördern, wenn sie Werner Pirker von der jungen Welt zu Wort kommen zu läßt, der schlicht die Unterdrückung der Kosovaren negiert? Letztlich scheint für die "deutsche Linke" die kosovarische Bevölkerung als eigenständiges Subjekt mit politischen Ambitionen nicht zu existieren.
Winfried Wolf befürchtet, daß mit der Rückkehr der Vertriebenen auch die UÇK wieder nach Kosova eindringen könne (SoZ 11/99). Heißt das, die Vertriebenen sollen erst zurück dürfen, wenn die UÇK entwaffnet ist? Selbstverständlich ist es richtig, den Angriff auf Jugoslawien und die gesamte NATO-Strategie als imperialistische Expansion zu verurteilen und zu bekämpfen.
Aber es ist falsch, nicht zu erkennen, daß zugleich ein anderer Krieg stattfindet, der Krieg des serbischen Regimes gegen die kosovarische Bevölkerung. Dieser Krieg hatte lange vor den ersten NATO-Bomben begonnen und wurde mit den Methoden der "ethnischen Säuberungen", der Massenvertreibungen und Massenmorde geführt.
Die Kosovaren, die sich über ein Jahrzehnt friedlich für eine begrenzte Autonomie und vor allem für kulturelle und demokratische Selbstbestimmung einsetzten, wurden von der Linken in Europa nicht beachtet. Noch immer hielt sich in linken Köpfen die trügerische Illusion eines fortschrittlichen und multiethnischen Jugoslawien.
Ist den Kosovaren, Ibrahim Rugova und der UÇK wirklich zu verübeln, sich an den Westen zu wenden und um Unterstützung zu bitten? An wen hätten sie sich sonst wenden sollen? Hat nicht sogar Öcalan mit seinem Aufenthalt in Rom, die EU verzweifelt angefleht und gebeten, den Kurden beizustehen? Versucht nicht Arafat immer wieder den Westen für die Anliegen des palästinensischen Volkes zu gewinnen? Diese Bemühungen sind so verständlich wie illusorisch und erfolglos. Aber die Linke in Europa hat sich den Organisationen der Kosovaren nie als glaubwürdige Gesprächspartnerin angeboten.
Selbstverständlich sind großalbanischer und serbischer Nationalismus und Chauvinismus gleichermaßen zu verurteilen. Politische Irrwege der UÇK und dubiose Finanzierungsmethoden können kein Vorwand sein, uns dem gerechten Anliegen der kosovarischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung zu verschließen. Angela Klein hat in SoZ 9/99 richtigerweise darauf hingewiesen, daß zu verstehen ist, warum die UÇK einen Rückhalt in der Bevölkerung gewann. In den Augen vieler Kosovaren tritt sie eben am konsequentesten für ihre Rechte ein.
Warum ist die Linke in Deutschland nicht mehr in der Lage, dem zentralen Grundsatz zu folgen, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Karl Marx, MEW 1:385), also gegen jede Unterdrückung und Ausbeutung anzukämpfen, wo immer und unter welchem Vorzeichen sie auch immer geschieht?
Die deutsche Linke drückt sich konsequent um die Frage des Selbstbestimmungsrechts der kosovarischen Bevölkerung herum. Warum sorgt man sich mehr um die territoriale Integrität eines repressiven Staates als um die elementarsten demokratischen und kulturellen Rechte der Kosovaren? Aus Furcht vor einer nationalistischen Fragmentierung des Balkans will man den Völkern (und das sind sie, solange sie sich selbst als solche verstehen) das Recht auf Selbstbestimmung verweigern. Wer, wenn nicht die kosovarische Bevölkerung selbst, soll über die eigene Zukunft und die gewünschte staatliche Organisation entscheiden sollen?
Zwischen dem Nationalismus der Unterdrückten und dem Nationalismus der Unterdrücker nicht zu unterscheiden, widerspricht den elementarsten Grundsätzen emanzipativer und sozialistischer Politik. Auch die NATO, die USA und die europäischen Regierungen sprechen den Kosovaren bis heute konsequent das Recht ab, über sich und die von ihnen gewünschte staatliche Organisation zu bestimmen. In dieser Frage scheint eine ganz große Koalition von der NATO über die verschiedenen Regierungen bis hin zur sog. "antinationalen" deutschen Linken zu bestehen.
Sich allen Verhältnissen der Unterdrückung zu widersetzen, kann in dieser Situation nur heißen, sich auf die Seite der Kosovaren zu stellen, trotz und wegen der Ungeheuerlichkeit des NATO-Angriffskriegs. Die Glaubwürdigkeit der Linken in Europa und in den USA mißt sich daran, ob sie ein Kräfteverhältnis aufzubauen kann, das einerseits der NATO eine Weiterführung der Bombardierungen verunmöglicht und andererseits den Vertriebenen glaubwürdige Perspektiven für die Rückkehr bietet.
Schließlich muß der Bevölkerung das Recht auf demokratische und nationale Selbstbestimmung gewährt werden, was auch das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstverteidigung einschließt, sofern den Serben ihre Minderheitsrechte garantiert bleiben.
Aus sozialer und ökonomischer Sicht mag man die staatliche Unabhängigkeit kritisieren. Aber erst das prinzipielle Recht auf Selbstbestimmung schafft die Voraussetzungen, daß alle Beteiligten einen gleichberechtigten Dialog über die staatlichen Formen des Zusammenlebens führen und längerfristig die Perspektive einer Konföderation auf dem Balkan ins Auge fassen können.
"Linke", die das jahrelange Leid der kosovarischen Bevölkerung zuerst negierten und jetzt verharmlosen, haben sich nicht weniger als Grüne und SPD ebenfalls vom zur Zeit schmalen Pfad einer solidarischen und emanzipatorischen Politik verabschiedet.
Wo die plumpe Logik, "der Feind meines Feindes ist mein Freund" und Zynismus herrschen, können keine Ansätze für Solidarität und glaubwürdigen Antiimperialismus entstehen. Mehr als anderswo in Europa und in Nordamerika, scheinen hier unter der sog. radikalen Linken ein geopolitisches Blockdenken und ein "Pseudo-Antiimperialismus", die nahtlos in einen reaktionären Neostalinismus abgleiten, besonders verankert zu sein.
Jene, die André Brie von der PDS wegen seiner Abgrenzung von der DDR und seiner Kritik an taktischem Verhalten zu Menschenrechten als Rechtsabweichler denunzieren, lassen nicht den Hauch einer solidarischen Alternative erkennen. Im Gegenteil, wer auf Fragen der Menschenrechte, Selbstbestimmung und Demokratie nicht eindeutig ist, fällt weit hinter praktische und theoretische Errungenschaften der sozialistischen Bewegung zurück.
Christian Zeller


zum Anfang