Sozialistische Zeitung |
Bis zur Europawahl lag New Labour in Großbritannien in jeder Region, jeder sozialen Schicht, jeder
Altersgruppe, in Familien mit drei Autos und solchen ohne Auto bei Wahlumfragen regelmäßig vor den Konservativen. Keine der
reaktionären Maßnahmen seiner Regierung, einschließlich des Blitzkriegs über Belgrad, schien auch nur im
entferntesten etwas hervorzurufen, das einer breiten Protestbewegung ähnlich wäre. Die Labour-Linke beschäftigt sich
vorrangig mit inneren Angelegenheiten der Partei. Die Anhängerschaft der radikalen Linken ist erheblich zurückgegangen.
Die Hauptursache für all dies sieht die Zeitschrift Socialist Democracy - eine Zeitschrift für kritischen Marxismus - im enormen
Rückgang der Kämpfe von Arbeiterinnen und Arbeitern. Die Anzahl der Streiktage - das wahrscheinlich beste Barometer für
Klassenbewußtsein - ist die niedrigste seit dem Jahr 1891, als sie zum erstenmal registriert wurden. Die Mitgliederzahl in den
Gewerkschaften, die seit 18 Jahren stetig zurückgeht, ist auf 7,8 Millionen gesunken - vor 20 Jahren hatte sie mit 13,2 Mitgliedern einen
Höhepunkt erreicht.
Auch die strukturellen Veränderungen innerhalb der Arbeiterklasse hätten sich, so die Zeitschrift, auf das Klassenbewußtsein
ausgewirkt. Heute gibt es in Großbritannien mehr Journalisten als Bergarbeiter oder Hafenarbeiter. In der Computerbranche sind mehr
Menschen beschäftigt als früher in die Kohlengruben einfuhren. Das gleiche wird wohl bald auch für die Beschäftigten
in den Call-Centern gelten. Gewiß, auch die Beschäftigten im weißen Kragen sind objektiv Proletarier. Ihre Klassenlage
bleibt bestimmt durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln.
Aber in keinem der Dienstleistungsberufe gibt es eine Kampftradition. Diese Tendenz wird durch den Rückgang flächendeckender
Tarifverträge und die Aufsplitterung der Industriezweige in rechtlich getrennte kleine Bereiche verstärkt - besonders deutlich wird
dies am Beispiel der britischen Eisenbahngesellschaft.
Die Linke hat die Anti-Gewerkschaftsgesetze unterschätzt; sie meinte, die Arbeiterklasse würde sich durch Kämpfe
darüber hinwegsetzen. Aber der Staat hatte die Macht, aus der Reihe tanzende Gewerkschaften finanziell zu ruinieren. Auch eine Labour-
Regierung würde hiervor nicht zurückschrecken. Gerade Gewerkschaftsfunktionären ist dies bewußt, deshalb scheuen
sie häufig vor der Konfrontation zurück.
Die Streikbewegung von 1995 in Frankreich sei ein historischer Ausnahmefall, auf den man nicht strategisch setzen könne.
Wie lange wird die Flaute in den sozialen Auseinandersetzungen anhalten?, fragt die Zeitschrift. Eine nüchterne Bilanz zeige, daß
drei Faktoren die Klassenkämpfe bisher gezügelt hätten:
* Nach 18 Jahren Tory-Herrschaft habe die neue Regierung erst einmal einen ordentlichen Vorschuß bekommen. Doch der Glanz
bröckele.
* Wirtschaftlich hatte Blair Glück, daß die Tories ihm finanzielle Reserven hinterließen, die er für soziale
Maßnahmen einsetzen konnte. Das Wirtschaftswachstum geht jedoch zurück, und dies werde zu steigenden Arbeitslosenzahlen, d.h.
zu mehr Unzufriedenheit, führen.
* Die Tatkraft der Arbeiterklasse, ihre allgemeine politische Einstellung, ihr Selbstvertrauen ist von der Wucht der Niederlagen in der
Thatcher-Periode geprägt. Ohne Thatcher läßt sich der Blairismus nicht verstehen. Er legitimiert und institutionalisiert die
Niederlagen der 80er Jahre. Genau dies macht die Wiedergewinnung von Vertrauen in die Kampfkraft der Arbeiterklasse so schwer. Dies
werde noch lange andauern.
Deshalb dränge sich die Notwendigkeit einer sozialistischen Partei, die ein Anziehungspunkt für die Labour-Linke werden
könne, geradezu auf. Nötig sei eine solche Partei als Gebilde, das sowohl die Linke umfaßt wie auch GewerkschafterInnen,
Feministinnen, Umweltschützer, Homosexuelle, AntirassistInnen und andere radikale Kräfte. Es müsse eine Organisation
für Revolutionäre sein, die die sektiererischen und dogmatischen Krankheiten der radikalen Linken ebenso ablehnt wie
undemokratische organisatorische Methoden.
Der Thatcherismus hat viel tiefere Spuren hinterlassen als die bleiernen Jahre der Kohl-Regierung. Immerhin sind, angestiftet von der Losung
vom "Ende der Bescheidenheit", nicht nur eine Million deutsche Metaller auf die Straße gegangen, auch andere
Gewerkschaften haben massiv mit Warnstreiks und Protestdemonstrationen mobilisiert. Wenn Schröder jetzt versucht, zusammen mit
Blair der europäischen Sozialdemokratie die Glaubensartikel der neoliberalen Angebotspolitik schmackhaft zu machen, könnte er
sich dabei verrechnen. Vor allem wenn die Gewerkschaften den Widerstand dagegen anführen.