Wie ist eure Gruppe entstanden?
Toby Stewart: Vor vier Jahren gründete sich unsere Gruppe als Antwort auf das Regierungsprogramm der Job Seekers Allowance (JSA).
Obwohl es während der Jahre auch andere sog. Reformen im Sozialbereich gegeben hatte, war die JSA die weitreichendste. Das
Programm erlaubte den Arbeitsämtern, Druck auf anspruchsberechtigte Erwerbslose auszuüben. Die Arbeitsämter definierten
uns als "Jobsuchende" und wir mußten regelmäßig unter Beweis stellen, daß wir uns aktiv um eine
Arbeitsstelle bemühten. Dabei drohten sie uns mit dem Verlust der kompletten Arbeitslosenunterstützung für mehrere
Wochen.
Als Anspruchsberechtigte und Erwerbslose wußten wir ganz genau, daß wir uns selbst organisieren und verteidigen müssen,
denn niemand anderes würde das für uns tun. Auch andere Gruppen im Land kamen zu diesen Schlußfolgerungen. Wir hielten
regelmäßige Konferenzen ab, wie wir uns am besten gegen die JSA wehren könnten. Selbstorganisierte Aktionen waren
notwendig und möglich.
Hat sich Brighton Against Benefit Cuts in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext gestellt?
Die Angriffe auf die Empfänger von Arbeitslosenunterstützung haben wir in Relation zur Dynamik des Arbeitsmarkts als ganzes
gesehen. Wir definierten uns nicht als spezielle, abgesonderte Gruppe, sondern als Teil der Arbeiterklasse. Einige von uns hatten
zwischenzeitlich Jobs, dann wieder keine, mußten Umschulungs- und Bewerbungsprogramme über sich ergehen lassen. Genauso
wie einige Arbeiter in manchen Situationen auf zusätzliche sozialstaatliche Leistungen angewiesen sind.
Für uns war es klar, daß die JSA eine grundlegende Attacke auf die Arbeiterklasse war, v.a. auf die Beschäftigten im
Niedriglohnsektor. Wenn wir uns nicht gegen die JSA wehren, so unsere Argumentation, würde sich der Druck auf die Erwerbslosen
ungeheuer erhöhen, noch mehr Menschen in den Billiglohnsektor gedrängt werden und auch Druck auf die Arbeitsentgelte in
anderen Lohnsektoren entstehen.
Deshalb war es selbstverständlich, Verbindungen mit Arbeitern aufzunehmen. Auch mit den Beschäftigten in den Arbeits- und
Sozialämtern. Sie waren über die JSA fast ebenso verärgert wie wir. Für uns war eine gegenseitige
Unterstützung der Kämpfe wichtig. Die Gelegenheit dafür ergab sich während eines Streiks der Beschäftigten in
den Arbeitsämtern gegen eine leistungsbezogene Entlohnung. Zusammen stellten wir die Streikposten und erklärten anderen
Erwerbslosen, daß ein Sieg der Beschäftigten auch ihre Position gegenüber der Verwaltung stärken
würde.
Obwohl der Streik nicht unmittelbar erfolgreich war, bestätigte sich unsere Analyse. In Gegenden wie Brighton, wo die Arbeiter
entschlossener vorgingen, konnten die Verwaltungen der Arbeitsämter nicht alle Anforderungen der JSA durchsetzen. In anderen
Städten, in denen sich kein Widerstand artikulierte, schikanierten Beschäftigte aus dem Niedriglohnsektor die Erwerbslosen und
wurden ihrerseits von der Verwaltung tyrannisiert.
Auf der Basis der gemeinsamen Unterstützung während des Streiks gingen wir ein breites Bündnis mit den
kämpferischen Beschäftigten der Arbeitsämter ein. Als die JSA gesetzlich verabschiedet wurde, gab es in Brighton die
landesweit größte Demonstration. Wir marschierten zu den Arbeitsämtern und belagerten sie. Die Beschäftigten nutzten
die Gelegenheit und legten ihre Arbeit nieder. Bereits am ersten Tag löste die neue Regelung damit ein Chaos aus.
Eine neue Konfrontation ergab sich für die lokale Kampagne vor zwei Jahren, als ein Workfare-Pilot-Projekt in Brighton und anderen
Städten gestartet wurde. Das Projekt betraf abermals Empfänger von Arbeitslosenunterstützung und zwang sie zur Arbeit in
Wohlfahrtseinrichtungen, für die es zusätzlich ein Almosen von 10 Pfund die Woche gab.
Obwohl wir zu dieser Zeit nur eine kleine Gruppe mit einem Dutzend Aktivisten waren, gelang es uns, dieses Projekt zu Fall zu bringen. Wir
stellten vor jeder Wohlfahrtseinrichtung Posten auf, verteilten Flugblätter und hielten die Leute davon ab, diese Einrichtungen zu
besuchen. Einige mußten daraufhin schließen. Unseren größten Erfolg hatten wir, als wir eine lokale Kirchengemeinde
zwangen, ihre Wohlfarhtseinrichtung zu schließen. Diese Kirche hatte zunächst behauptet, Erwerbslose bräuchten morgens
Hilfe, damit sie rechtzeitig aufstehen. Jedesmal wenn wir auftauchten, riefen Vertreter der Kirchengemeinde die Polizei. Doch eines Abends
kamen wir mit mehreren Dutzend Leuten. Wir trieben den Parlamentsabgeordneten des Bezirks in die Kirche. Die Polizei versetzten wir in
Panik, denn wir waren ihr zahlenmäßig weit überlegen. Danach verließ diese Gemeinde das Pilotprojekt und
behauptete, wir hätten sie "eingeschüchtert" - ungeachtet aller Empfänger von Arbeitslosenunterstützung,
die durch diese Kirche eingeschüchtert wurden. Denn bei Ablehnung eines von der Gemeinde offerierten Billiglohnjobs wurden alle
Sozialleistungen gestrichen.
Welche Erfahrungen hat die Erwerbslosengruppe mit dem Regierungswechsel vor zwei Jahren gemacht?
Mit dem New Deal, den New Labour auch für junge Leute einführte, strömte neues Leben in unsere Gruppe. Einige
gemäßigte Linke sahen den New Deal als eine Verfeinerung der Bestrafungsmethoden der alten Regierung. Von Anfang an war der
New Deal für uns eher eine Kontinuität als ein Bruch mit der Sozialpolitik der vergangenen Jahre unter der konservativen
Regierung.
Auch die JSA und ihre Sanktionsmechanismen wurden von der neuen Regierung nicht abgeschafft. Das war für uns ein springender Punkt.
Tatsächlich ist die JSA sogar der Grundgestein geworden, auf dem New Labour seinen New Deal errichtete. Leute, die Billiglohnjobs
oder auch Bewerbungsgespräche ablehnten, wurden denselben Sanktionen unterworfen wie bei der JSA. Bisher haben mehr als 10.000
junge Leute unter den Kürzungen leiden müssen. Wir haben immer noch keine Antwort darauf, warum diese Sanktionen nötig
sind, wenn doch der New Deal so wunderbar ist, wie die Regierung behauptet.
Doch natürlich gibt es eine Antwort auf diese Frage. Wenn der New Deal auf den Mechanismen der JSA basiert, liegen ihm auch die
ökonomischen Zwänge der JSA zugrunde.
In Europa wird der New Deal als Instrument gegen die Erwerbslosigkeit verkauft und gerne auf die niedrige Erwerbslosenquote in
Großbritannien verwiesen. Hat er weitere Auswirkungen?
Selbst die Regierung räumt ein, daß der New Deal kein Programm zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen ist. Was ist es
dann? Der New Deal soll die Wirtschaft ankurbeln. Das Problem des britischen Kapitals war der zweite Arbeitsmarkt. Der Arbeitsmarkt
für Jugendliche brach bereits in den frühen 80er Jahren zusammen und viele gewöhnten sich an den Zustand der
Langzeitarbeitslosigkeit. Trotzdem blieb das allgemeine Lohnniveau relativ hoch. Viele Sektoren des britischen Kapitals waren nicht
konkurrenzfähig. Die Bosse der Unternehmen sahen diese jungen Leute als "nicht beschäftigbar" an. Diese
Reservearmee an Arbeitskräften schuf also weder neue Konkurrenz noch Druck auf das Lohnniveau. In vielen Sektoren gab es
Beschäftigte, die sich ziemlich einfach in den Unternehmen hinaufarbeiten konnten und relativ hohe Löhne bezogen.
Die JSA, die Zwangsarbeitsprogramme und der New Deal sind nicht nur Instrumente, um Gelder im Sozialbereich einzusparen. Sie sollen die
Arbeitslosen wieder "arbeitsfähig" machen. Genau das meint die Regierung, wenn sie von einem "Ende des sozialen
Ausschlusses" redet.
Erreichen die PR-Kampagnen des New Deal die Erwerbslosen und sozialen Leistungsempfänger?
Dem einzelnen Antragsteller mag der New Deal zunächst attraktiv erscheinen. Wenn du einen Job willst, mußt du durch
Traniningsmaßnahmen und Praktika "arbeitsfähiger" werden und hast dann eine Chance auf eine richtige Anstellung und
ein hinlängliches Einkommen.
Wenn sich jedoch die Anzahl der Normalarbeitsplätze nicht erhöht ist die ausgeweitete Arbeitsfähigkeit in vormals vom
regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Sektoren nichts anderes als eine ernsthafte Attacke auf die Arbeiterklasse als ganzes. Die
stärkere Konkurrenz wird Löhne absenken und die Arbeitsbedingungen verschlechtern: Das ist das eiserne Gesetz des
Arbeitsmarkts. Das konnten wir auch in Brighton beobachten. Der Stadtrat rühmte sich beim New Deal dabei zu sein und einige seiner
freien Stellen dafür zur Verfügung zu stellen. Neue Jobs entstanden keine, es fand nur eine Verschiebung in den Billiglohnsektor
statt.
Was Auswirkungen auf die Arbeiterklasse hat, hat auch Auswirkungen auf den einzelenen Arbeitssuchenden. Vielleicht heißt er die
Versprechungen des New Deal zunächst willkommen, vielleicht konnte er sich auch höher qualifizieren. Aber die Arbeitsstellen,
die ihm zur Verfügung stehen, sind mehr und mehr unattraktiv und schlecht bezahlt.
Was ist der Sinn und Zweck des New Deal?
Es ist klar, daß New-Deal-Trainingsprogramme dem Arbeitsmarkt nichts dienlicheres zur Verfügung stellen als die Erfahrung ihrer
Teilnehmer, Befehle eines Bosses zu empfangen und sie auszuführen. Die meisten Bewerber bekommen nicht einmal die Praktika und
Trainingsmaßnahmen, die sie gerne hätten.
Für die Bosse ist diese Einschärfung von Arbeitsdisziplin von existenzieller Bedeutung. Das ist einer der Gründe, warum die
im Interesse des britischen Kapitals handelnde Labour-Regierung davon überzeugt ist, in den New Deal zu investieren. Schau in
irgendein Arbeitsamt und du wirst sehen, daß vor allem die schlecht bezahlten Jobs eher Zuverlässigkeit als Fachkenntnis
erfordern. New Deal muß als Teil einer ideologischen Offensive verstanden werden, die jedem Individuum ihre Arbeitsethik
einflößen will und den gesellschaftlichen Gruppen, die bisher von Sozialleistungen lebten, in die Welt der ungeschützten
Lohnarbeit stößt.
Vielleicht verschärft sich die Situation in naher Zukunft nochmals. Zur Zeit bekämpfen wir die Auslagerung verschiedener
Elemente des Wohlfahrtsstaats in die Hände von großen Konzernen. New Labour bezeichnet diese Privatisierungen als
"Partnerschaft". Doch in Wirklichkeit ist es ein Verfall des Sozialstaats. Der einzige Weg, wie die Privatunternehmen Geld aus dem
Sozialsystem ziehen können ist die Entlassung von Beschäftigten und ihre schlechtere Bezahlung. Auch hier sind die gemeinsamen
Interessen von Anspruchsberechtigten und Beschäftigten in diesem Sektor überdeutlich, zusammen die sog. Reformen des
Wohlfahtsstaats zu bekämpfen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Krieg und dem Abbau des Sozialsystems?
Während die Anspruchsberechtigten durch die Rationalisierung des Sozialsystems attackiert werden, gab die Regierung Milliarden aus,
um Jugoslawien zu bombardieren. Das ist keine einfache Rechnung zwischen Geld für Bomben und der Finanzierung des Sozialstaats.
Obwohl die New-Labour-Regierung die Ansprüche auf viele Sozialleistungen reduziert - Behinderte und Asylsuchende sind derzeit am
meisten betroffen - steigt der Sozialhaushalt trotzdem. Die Art der Zahlungen hat sich jedoch geändert: von nicht arbeitenden
Anspruchsberechtigten, bspw. Erwerbslose, Behinderte und Alleinerziehende, hin zu den arbeitenden Anspruchsberechtigten. New Labour will
so viele Menschen wie möglich auf den Arbeitsmarkt drängen und subventioniert deshalb Arbeitsplätze im
Niedriglohnsektor.
New Labour sieht Arbeit als eine brauchbare Lösung für viele soziale Probleme an. Deswegen schreit unsere Initiative nicht nach
mehr Arbeit. Wir haben kein Interesse daran, die Probleme der modernen Ökonomie zu lösen. Mit unseren Mahnwachen,
Besetzungen und Demonstrationen haben wir nur ein Ziel: uns selbst als Anspruchsberechtigte und Arbeiter zu verteidigen, unsere eigenen
Bedürfnisse und Selbstbestimmung in Konkurrenz zu denen des Kapitals und des Staates zu entwickeln.