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I. Die deutsche Linke drückt sich konsequent um die Frage des Selbstbestimmungrechst der kosovarischen Bevölkerung
herum", schreibt in SoZ 12/99 Christian Zeller und ist dabei gleich bei dem zentralen Dilemma seiner Argumentation angelangt. Er
schreibt von der Bevölkerung des Kosovo und meint doch nur den Teil derselben, der albanisch spricht und sich vor allem darüber
definiert. Einen einzigen Halbsatz verschwendet er an die in dem umkämpften Gebiet lebenden Menschen, die sich vor allem als Serben
fühlen. Die anderen, die Roma, die Türken, jene, die sich vielleicht immer noch v.a. als Jugoslawien verstehen (davon soll es ja
vor nicht allzulanger Zeit mal eine ganze Menge gegeben haben), finden bei ihm keine Erwähnung. Genausowenig, daß nicht nur
serbische Einheiten die albanische Bevölkerung terrorisieren, sondern die UÇK ihrerseits auch Serben, und zwar offensichtlich in
"guter" kosovarischer Tradition.
An dieser Stelle kommt jetzt der Einwand, man dürfe den Nationalismus der Unterdrücker nicht mit dem der Unterdrückten
gleichsetzen. Noch so ein hehres Prinzip. Bei genauerem Hinsehen ist festzustellen, daß die Geschichte des Konflikts in osmanische
Zeiten zurückreicht, in denen die Verhältnisse gerade umgekehrt waren. Die Herrscher der Hohen Pforte waren Experten im Teile-
und-Herrsche. Die Albaner wurden von ihnen gerne benutzt, unbotmäßige Reichsteile niederzuhalten, die Serben andererseits
waren der Herrschaft des Sultans immer besonders abgeneigt. Wo also ist die Grenze? Kann man da einen klaren Trennungsstrich ziehen? Oder
sollten wir es vielleicht doch lieber mit den Revolutionären Zellen halten, die einst in einer Selbstkritik ihres Verhältnisses zu
palästininesischen Gruppen feststellten, daß es dort, wo sich zwei Gruppen um ein Stückchen Land streiten, keine
fortschrittliche Seite gibt? Im Falle des Kosovo spricht alles dafür.
II. Zeller bemüht Marx, um den Skeptikern - die er im übrigen umstandslos mit der proserbischen Fraktion in einen Topf wirft -
vorzuhalten, sie würden den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufgeben, wenn sie nicht "das
Selbstbestimmungsrecht der kosovarischen Bevölkerung" unterstützen. (Faktisch, das muß hier noch mal erwähnt
werden, ist dieses "Recht" in den letzten zehn Jahren in Jugoslawien immer gleich bedeutend mit dem "Recht" gewesen,
die westlichen Imperialisten einzuladen und den serbischen Teil der Bevölkerung zu terrorisieren.)
Wahrscheinlich wäre der alte Kalle nicht besonders glücklich, zum Kronzeugen des "Selbstbestimmungsrechts der
Völker" gemacht zu werden. Er und sein Freund Fritz haben jedenfalls immer mit der ökonomischen Entwicklung
argumentiert, wenn es z.B. um Fragen der deutschen Einigung ging. Auch dem Überfall auf Dänemark zur "Befreiung"
Schleswig-Holsteins redeten sie übrigens mit dieser Begründung das Wort, aber keinesfalls mit einer vermeintlichen besonderen
Unterdrückung von Deutschen.
Anders als später Lenin und Stalin, die das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" in die Programme der
kommunistischen Parteien einführten, gingen sie immer vom Idividuum aus. Und das ist durchaus etwas, woran im Falle Kosovo einmal
erinnert werden sollte: Die Freiheit des Einzelnen ist der Maßstab und das Ziel, nicht die so fragwürdiger Kollektive wie
"das Volk", das dann womöglich noch ethnisch definiert wird. Daß es mit der im UÇK-bestimmten Kosovo besser
aussehen wird, ist überhaupt nicht absehbar.
III. "Auch die NATO, die USA und die europäischen Regierungen sprechen den Kosovaren bis heute konsequent das Recht ab,
über sich und die von ihnen gewünschte staatliche Organisation zu bestimmen. In dieser Frage scheint eine ganz große
Koalition von der NATO über die verschiedenen Regierungen bis hin zur sog. ‚antinationalen deutschen Linken zu
bestehen", schildert uns Christian Zeller seine Sicht. Er übersieht dabei allerdings eine nicht unbedeutende Kleinigkeit: Diese
Interessengleichheit innerhalb der NATO gibt es nicht. Anders als die meisten westlichen Regierungen hat die deutsche von Anfang an auf die
Zerstückelung Jugoslawiens gesetzt. Auch im Falle Kosovo. Seit langem gibt es aus Bonn Unterstützung für dortige
sezessionistische Bestrebungen. Ibrahim Rugova nutzte im Juli 1996 einen Besuch bei dem damaligen Außenminister Klaus Kinkel um
zum ersten Mal öffentlich die Unabhängigkeit zu fordern. Gastgeber Kinkel pfiff ihn keineswegs zurück, sondern assistierte
seinerseits mit Drohungen an die Adresse der jugoslawischen Regierung.
Auch in den Verhandlungen um den Balkanstabilitätspakt (siehe Artikel in der vorherigen und dieser SoZ) war klar geworden, daß
die Bundesregierung durchaus mit einer Revision der Grenzen liebäugelt. Und daß Fischer und Schröder eine derartige
Politik aus purer Menschenfreundlichkeit verfolgen, können eigentlich nur grüne Bauchpolitiker meinen. Zeller läuft also
Gefahr, mit seiner Forderung nach "Selbstbestimmung für die Kosovaren" bei "seinen" Imperialisten offene
Türen einzurennen. Dazu müßte er schon einmal stellungnehmen, anstatt abstrakte Prinzipien hochzuhalten. Denn eines
dürfte doch klar sein: Der Kampf der UÇK, der schließlich ziemlich bewußt das Eingreifen der NATO-Staaten provoziert
hat, hat das Gros der Bevölkerung des Amselfelds, egal welcher Sprache, einer wirklichen demokratischen Selbstbestimmung keinen
Zentimeter näher gebracht, dafür aber deutschen Interessen Tür und Tor geöffnet.
IV. Und was ist jetzt die Alternative? wird mancher fragen. Muß die hiesige Linke wirklich ein fertiges Gegenkonzept bieten, was
womöglich noch "realistisch", d.h. in absehbarer Zeit gegen den Widerstand westlicher Interessen und aller möglicher
reaktionären Cliquen auf dem Balkan durchsetzbar ist? Hört sich nicht sehr realistisch an.
Was bleibt ist die Solidarität mit den Opfern aller Seiten, der Kampf gegen den Versuch, sie zu instrumentalieren, und das
Gespräch mit den Einsichtigen hüben wie drüben. Gelegentlich sollte man dabei auch daran erinnern, daß dieser
romantische Wahnsinn, den sich im letzten Jahrhundert ein paar Leute ausgerechnet im Flickenteppich Mitteleuropas ausgedacht haben, wonach
Nation etwas mit Sprache und einheitlicher Kultur zu tun haben soll, nicht der Weisheit letzter Schluß ist.
Wolfgang Pomrehn