Sozialistische Zeitung |
Die Zeltbahnen flattern in der leichten Brise. Für einen Augenblick übertönt ein Flugzeug die
Simultanübersetzer. Die 1200 Teilnehmer ertragen es mit Geduld. Es ist Vormittag und noch hat die Sonne nicht ihre drückende
Hitze über dem Campus im Nordwesten Paris entfaltet.Aus 80 Ländern sind sie gekommen: Gewerkschafter, Menschenrechtler,
Frauenrechtlerinnen, Komitees für die Streichung der Dritte-Welt-Schulden. "Gegen die Diktatur des Marktes" steht
groß auf dem Transparent hinter der Bühne und beschreibt das Motto der Diskussionen, die auf dem Programm stehen. Drei Tage
lang wird die Universität St.Denis ganz im Zeichen des Widerstands gegen die Globalisierungsoffensive der internationalen Konzerne
stehen.
Eingeladen zu dem Treffen vom 24. bis 26.Juni hatte das Netzwerk ATTAC. Gegründet im Juni 1998 auf Initiative der in Paris
herausgegebenen internationalen Monatszeitschrift Le Monde Diplomatique hat es vor allem im Frankreich schnelle Verbreitung gefunden. Dort
ist die Association pour une Taxation des Transactions financières pour lAide aux Citoyens (Vereinigung für die
Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger) inzwischen flächendeckend mit 93 Regionalkomitees
vertreten.
Wie schon eine Woche zuvor auf dem G7-Gegengipfel in Köln wurde in zahlreichen Beiträgen deutlich, wie sehr sich inzwischen
die Probleme der Menschen rund um den Globus ähneln. Privatisierung und Ausverkauf an global agierende Konzerne,
Lohndrückerei, Massenentlassungen und Ausspielen von Belegschaften im Namen der Standortlogik, Zerstörung lokaler und
regionaler Märkte durch erzwungene Handelsliberalisierung bestimmen in Indien wie in Brasilien, in Frankreich wie in Südkorea
das gesellschaftliche Leben.
Doch anders als in Köln dominierten in Paris nicht wohlmeinenende Wissenschaftler aus dem Norden die Diskussionen, sondern
Vertreter der zahllosen Bewegungen, die sich gegen diesen angeblich alternativlosen neoliberalen "Fortschritt" zur Wehr setzen.Die
stehen seit Beginn der 90er Jahre vor vollkommen neuen Herausforderungen.
Aus Argentinien berichteten Gewerkschafter von einer schweren Krise der alten, mit dem Staat verbundenen Organisationen. Mit der
Privatisierungswelle unter Präsident Menem haben sie den größeren Teil ihrer Mitglieder verloren. In dem
südamerikanischen Land, in dem einst 70% aller Arbeiter organisiert waren, sind es heute gerade noch 28%. Während Teile der
Arbeiterklasse heftigen Widerstand gegen den Verkauf staatlicher Unternehmen geleistet haben, konnte mancher Gewerkschaftsführer
seinen Schnitt machen, indem er zum privaten Unternehmer mutierte. Heute werde in Argentinien an einer neuen Vision von Gewerkschaften
gearbeitet, die sich eng mit den übrigen Volksbewegungen verbindet und z.B. auch die Arbeitslosen organisiere. In den neuen
Unternehmen ist diese Bewegung oftmals mit einer harten antigewerkschaftlichen Linie konfrontiert, wie etwa beim FIAT-Konzern, der in
seinen Werken in Argentinien, Brasilien und Süditalien versucht, die Arbeiterorganisationen draußen zu halten.
Auch in Ecuador befinden sich die alten Gewerkschaften im Umbruch, berichtete Fernando Villavicencio von der
Erdölarbeitergewerkschaft. Im Privatsektor sei es kaum noch möglich zu organisieren. Grund: Werkschließungen,
Flexibilisierung und harte Repressionen gegen Streiks. Noch sei der größte Teil des Erdölsektors in staatlicher Hand, aber
europäische und nordamerikanische Konzerne drängen bereits auf den Markt.
Für die Umwelt und die indigene Bevölkerung in den Förderregionen am oberen Amazonas befürchtet der
Gewerkschafter daher verheerende Konsequenzen, wenn auch noch der letzte Rest nationaler Kontrolle verloren gehe. Wie viele andere auch
erhoffte er sich von dem Treffen in Paris internationalen Widerstand gegen diese Politik.
ATTAC will in Zusammenarbeit mit Netzwerken gegen die Schuldenkrise (CADTM), gegen das MAI, DAWN und das Weltforum für
Alternativen ein internationales Netzwerk schaffen, das "Instrumente für die Analyse hervorbringt und den Austausch und
gemeinsame Aktionen zwischen Bürgerbewegungen, Menschenrechtsbewegungen, Frauenbewegung und Gewerkschaften
befördert".
Ein wichtiges Datum dafür wird die erste Dezemberwoche sein, wenn im US-amerikanischen Seattle die sog. Jahrtausendrunde der
Welthandelsorganisation (WTO) eingeläutet wird. Die Europäische Kommission dringt im Auftrag der EU-Regierungen darauf,
dass in dieser Verhandlungsrunde über neue Schritte in der Liberalisierung des internationalen Handels und der Absicherung
ausländischer Investitionen gesprochen wird. Im Kern geht es dabei um nichts anderes, als dass die multinationalen Konzerne die
Kontrolle über alle Sphähren des menschlichen Lebens erhalten. Dieselbe Kritik richtet sich gegen bilaterale
Freihandelsabkommen wie das zwischen der EU und den Mittelmeer-Anrainerstaaten; Korea-
Japan-USA; EU-Mexiko.
Dagegen formiert sich derzeit über die Kontinente hinweg eine Opposition. In den USA planen diverse Gruppen und Organisationen einen
Sternmarsch auf die Hafenstadt im Nordosten des Landes. Kanadische Aktivisten sprechen von einer der größten Mobilisierungen
der außerparlamentarischen Bewegung der letzten Jahrzehnte.
Auch die Jahrtausendrunde war ein wichtiges Thema. In einer Arbeitsgruppe wurde eine gemeinsame Informations- und
Mobilisierungskampagne vorbereitet, an der sich auch die Bündnisse beteiligen werden, die sich gegen das inzwischen beerdigte
Investitionsschutzabkommen MAI gegründet hatten. Die Kampagne fordert die Einstellung der WTO-Runde und ihre Ersetzung durch eine
Bilanzrunde (Assessment Round). Rund um den Globus sind Organisationen der Ziviligesellschaft aufgefordert eine demokratische Debatte und
Volksbefragungen zu organisieren, an denen maßgeblich die Gewerkschaften, aber auch kleine und mittlere Betriebe beteiligt sein sollen.
Die Aktionen in Seattle werden den ersten Höhepunkt der Kampagne bilden, die während des ganzen Verhandlungsprozesses
fortgesetzt werden soll.
Vom 12. bis 17.Oktober ist eine Internationale Woche mit Aktionstagen gegen die neoliberale Kolonisation, gegen Schulden und Armut geplant.
Das Netzwerk unterstützt verschiedene Aktionen für die bedingungslose Schuldenstreichung: Klagen vor Gericht, Bildung von
Koalitionen unter den Schuldnerländern zur Verweigerung der Schuldenzahlung usw. Vom 18. bis 20. November wird in Johannesburg
eine Süd-Süd-Konferenz zu diesem Thema stattfinden.
Für die Besteuerung der Finanztransaktionen und die Aufhebung der Steuerparadiese wird eine weltweite Petition vorbereitet, die
insbesondere in der EU zirkulieren und dem Regierungsgipfel in Finnland vorgetragen werden soll.
Weitere Vorhaben sind eine Kampagne gegen genmutierte Produkte und der Frauenmarsch 2000.
In zwei Jahren will das Netzwerk eine erste Bilanz ziehen. Bis dahin soll jedoch die Kommunikation untereinander erheblich ausgeweitet und
intensiviert werden, vor allem per Internet.
Wolfgang Pomrehn
ATTAC hat eine homepage:
<http://atlas.attac.org>. Sie dient hauptsächlich der Debatte und soll ergänzt werden
durch themenspezifische Seiten zu WTO, Tobinsteuer, Millennium-Runde usw.