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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 02.09.1999, Seite 4

Milka-Schokolade

1912 und 1999

Die einflussreiche US-amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichte in ihrer Juli/August- Ausgabe zur Bilanzierung des Kosovo-Kriegs einen Aufsatz, verfasst von einem leitenden Mitglied des Zentrums für Strategische und Internationale Studien, Edward N. Luttwak. Dieser hat - in Anlehnung an John Lennons Antikriegssong "Give Peace a Chance" die Überschrift: "Give War a Chance" - Gebt dem Krieg eine Chance. Der Autor preist darin die reinigende Kraft des Krieges.
Der Aufsatz ist ein offenes Plädoyer für das positive Wirken von Kriegen. Der Duktus unterscheidet sich wenig von demjenigen eines Ernst Jünger, dessen im Wesentlichen nach dem Ersten Weltkrieg entstandenes Werk auf die Verherrlichung des Krieges hinausläuft.
Menschenrechte, obgleich offiziell im Balkan-Krieg 1999 als Kriegsgrund erklärt und seither von den neuen Fischer-Chören im Außenministerium vielfach besungen, haben für die Kriegspartei nur die Funktion, das Publikum zu gewinnen oder zu beruhigen.
Edward N. Luttwak argumentiert sogar umgekehrt. Die Menschenrechtsorganisationen nähmen dem Krieg die heilsame Wirkung. Kritisiert wird, dass Institutionen wie die UNO oder die OSZE dahin tendierten, "sog.friedliche Lösungen zu suchen". Das sei falsch. Notwendig sei hingegen, Kriege ihrem "natürlichen Kurs" zu überlassen; diese müssten "ausbrennen". Luttwak: "Ein nicht unterbrochener Krieg würde sicherlich mehr Leid hervorbringen … Aber dies würde auch zu einer stabileren Situation führen, dazu, dass die Nachkriegsära wirklich beginnt. Der Frieden greift nur, wenn der Krieg wirklich vorbei ist."
Kritisiert wird des Weiteren, dass im Krieg zu viel Rücksicht auf die öffentliche Meinung genommen worden sei, dass die Luftangriffe nicht "in optimaler Höhe, sondern in der ultrasicheren Entfernung von 15000 Fuß und mehr über dem Erdboden geflogen" wurden. Es wird die "unvermeidbare politische Realität" der
"Nato-Demokratien" beklagt, die zu solcher falschen Rücksichtnahme Anlass geben würde.
Auf einem von der Zeitung Welt am Sonntag nach dem neuen Balkan-Krieg veranstalteten Forum "Bundeswehr und Gesellschaft" argumentierte der Nato-Vertreter a.D. General Klaus Naumann in vergleichbarer Weise. "Milosevic wusste … dass die Chance bestand, in Kenntnis der geringen Bereitschaft von Demokratien, Krieg zu führen, die Luftoperation auszusitzen." Naumann plädierte vor diesem Forum für verschärften Kriegskurs und eine Zensur. Er sieht einen entscheidenden Fehler darin, dass das Thema "Bodentruppen ja oder nein" öffentlich erörtert wurde. "Man muss Wege finden, dass das intern bleibt. Man muss das nicht öffentlich hinausposaunen. Und das muss auch in Demokratien - auch im Informationszeitalter - möglich sein." Er plädierte rückblickend dafür, in einem neutralen Land, das sich ausdrücklich jede kriegerische Aktion gegen die Bundesrepublik Jugoslawien verbeten hatte, mit dem Säbel zu rasseln: "Was hätte dagegen gesprochen, die Panzerbataillone [der Bundeswehr], die in Makedonien waren, Angriffe mit scharfem Schuss gegen den Feind in befestigten Stellungen üben zu lassen?"
Wenn den Kommisskopf Naumann das Brüllen deutscher Leos delektiert, dann erwärmt sich der Egg Head Luttwak an den "US-A-10 Warthogs built around their powerful 30mm antitank guns" und beklagt, dass es im Balkankrieg 1999 nicht zum Einsatz dieser für Flächenbombardements besonders "geeigneten" Waffe gekommen sei. Beide vermissen sie ein noch schärferes militärisches Vorgehen und glauben, nur wer die "Waffen sprechen" lasse, könne uneingeschränkten Erfolg haben.
Die Welt am Ende des 20.Jahrhunderts ist klein und diejenige imperialistische, kapitalistische vom Beginn dieses Jahrhunderts. Im Jahr 1912 schrieb der junge Kriegsberichterstatter Lew Bronstein alias Leo Trotzki über den damaligen Balkan-Krieg:
"Jene chaotische Masse materieller Güter, Fertigkeiten, Gewohnheiten und Vorurteile, die wir Zivilisation nennen, hypnotisiert uns alle und gibt uns das falsche Gefühl, als sei die Hauptsache schon erledigt; und da kommt plötzlich der Krieg auf dem Balkan und zeigt uns, dass wir immer noch auf allen Vieren durch die Epoche der Barbarei laufen. Wir haben gelernt, Hosenträger zu tragen, kluge fortschrittliche Artikel zu schreiben und Milka-Schokolade herzustellen, doch wenn wir ernsthaft die Frage des Zusammenlebens einiger Stämme auf dieser segensreichen Halbinsel Europas lösen sollen, sind wir außerstande, eine andere Art und Weise zu finden als eine gegenseitige Massenvernichtung."
Winfried Wolf


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