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Es hat sich was getan im Ruhrgebiet, die Stahl- und Kohlenkrise hat die Region verändert. Die Schriften
und Bücher, die den Strukturwandel beschreiben, sind nicht mehr zu zählen. Der Traum vom Hightechzeitalter hat die Ansiedlung
von Technologiezentren und Wissenschaftsparks beflügelt. Politiker und Wirtschaftsmanager sagen, das Revier ist zu einem modernen
Zentrum im Herzen Europas geworden. Johannes Rau, damals noch Ministerpräsident von NRW, schrieb in einer Festschrift des Vereins
"Pro Ruhrgebiet": "Ein schönes Stück Deutschland, in dem es sich gut leben lässt."
Dieser Sommer war der Sommer der großen Sause: Fast jede Woche begann irgendwo zwischen Hamm und Duisburg ein neues Festival,
wurde eine neue Ausstellung eröffnet. Über 120 Festveranstaltungen haben in diesen Sommermonaten stattgefunden. Aber neben
technischen Höhenflügen, Superkinos und Parkanlagen hat das Revier auch ungelöste Probleme, die nicht verschwiegen
werden dürfen.
Die Emscher-Lippe-Region gilt nach wie vor als die Region mit den größten strukturellen Problemen im Revier. Zu diesem Gebiet
gehören zwölf Städte, in den 1,8 Millionen Menschen arbeiten und leben. Keine Region war und ist immer noch so vom
Bergbau abhängig wie das nördliche Ruhrgebiet. Dieser Raum trägt wie kein anderer die Narben von 150 Jahren Kohle- und
Stahlproduktion. Inzwischen hat die Arbeitslosigkeit hier Rekordmarke erreicht.
In den nächsten zwei, drei Jahren wird sich die Lage durch weitere gravierende Einschnitte bei der Kohleförderung noch
verschlechtern. Der Recklinghäuser Landrat Ettrich erwartet in den kommenden Jahren einen Verlust von weiteren 40000
Arbeitsplätzen in der Region. Den Rückgang der Aufträge und des Konsums beziffert er auf einen Wert von zwei Milliarden
Mark.
Im Mai verkündete RAG-Chef Gerhard Neipp in Essen, dass im Frühjahr 2000 drei weitere Zechen geschlossen werden. Das
betrifft zunächst die zu einer Großanlage zusammengefassten Zechen Ewald in Herten und Hugo in Gelsenkirchen. Von der
Schließung sind 5400 Beschäftigte betroffen, aber es ist längst nicht gesichert, dass dieser Stellenabbau
"sozialverträglich" erfolgen wird. Neipp spricht von einem "Überhang von 6000 Beschäftigten, für
die wir keine Arbeit haben".
Überraschend kam die Meldung, dass die Kokereien in Gelsenkirchen-Hassel und Kaiserstuhl in Dortmund geschlossen werden sollen;
davon sind 1100 Beschäftigte betroffen. Karl Klingenberg, Hauptabteilungsleiter bei der DSK, meint dazu: "Es ist paradox."
In Dortmund steht die modernste Kokerei der Welt, doch jeden Tag fahren zwei Kokszüge aus Polen vorbei.
In den ersten Juliwochen hat Wirtschaftsminister Müller gefordert, im Rahmen des Sparprogramms müssten auch die bisherigen
Subventionen gestrichen werden.
Mit dem Auslaufen des Montanvertrags im Jahr 2002 steht sowieso eine grundlegende Überprüfung der Kohlebeihilfen an. Schon
jetzt wächst vor allem in Großbritannien die Kritik, durch das deutsche Unterstützungssystem würden erhebliche
Wettbewerbsverzerrungen entstehen. In ihrem Weißbuch, das die Leitlinien zur Reform der Energiepolitik enthält, betont die
Labour-Regierung ausdrücklich: Nach dem Auslaufen des Montanvertrags darf es keine "arrangements" mehr geben! Der
Kampf ums Überleben im Bergbau wird dann hart, wenn im Jahr 2005 auch noch das bekannte 50-Milliarden-Hilfsprogramm für
den deutschen Steinkohlebergbau ausläuft, das zum größten Teil von der EU bezahlt wird.
Gerade jetzt hat die Prognos AG in Basel eine neue Studie über die "Interdependenz von Steinkohlebergbau und
Wirtschaftsstrukturen im Ruhrgebiet" veröffentlicht. Dort heißt es: An jedem Arbeitsplatz im Steinkohlenbergbau
hängen 1,3 weitere. Es geht um 50000 Menschen, die im Bergbauzulieferbereich und in der Bergbautechnik beschäftigt
sind.
Auf einer Tagung der IG Metall in Bochum Anfang 1999, die sich mit den Schwierigkeiten für die Bergbautechnik befasste, wurde
festgestellt, die hergestellten Produkte seien von bester Qualität, die Arbeitsplätze hochinnovativ. Dennoch erwartet die Branchen
eine Verringerung des Auftragsvolumens in Deutschland um zwei Milliarden Mark.
Der Beschäftigungseinbruch im nördlichen Ruhrgebiet geht keineswegs allein auf das Konto des Bergbaus. Trotz Zuwächsen
im Dienstleistungsbereich gingen zwischen 1993 und 1998 allein im Vest über 30000 Arbeitsplätze verloren. Das Vest ist das
Gebiet nördlich von Recklinghausen. Nach Angaben der Industrie- und Handelskammer vom 24.7.99 gingen allein im verarbeitenden
Gewerbe mindestens 15000 Beschäftigte verloren. Auch mittelständisch geprägte Branchen wie der Maschinen- und
Fahrzeugbau wurden von dem Abwärtsstrudel erfasst (-3000 Stellen). Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie ist um 2300
Arbeitsplätze geschrumpft. Der Handel hat 2400 Stellen eingebüßt. Die Handelskammer warnt vor dem Bau neuer Einkaufs-
und Erlebniszentren!
Besonders betroffen ist die Stadt Gelsenkirchen; sie zählt bereits über 20% Erwerbslose. Der Arbeitskreis Kritische
Gewerkschafter hat in einer Dokumentation festgehalten, dass im Jahr 1996 über 1000 Arbeitsplätze allein in der Metallindustrie
abgebaut wurden. In den ersten sieben Monaten des Jahres 1999 gingen durch Rationalisierungen, Betriebsverkleinerungen und
Betriebsverkäufe an ausländische Unternehmen weitere 1000 Arbeitsplätze verloren. Betroffen sind alt eingesessene
mittelständische Firmen, die doch angeblich von der "rot"-grünen Landesregierung unterstützt werden sollten:
Baustahl (-150), Küppersbusch (-300), Geldbach (- 200), Schalker-Verein (-340). Die Stadt hat selbst mit -100 Beschäftigten dazu
beigetragen (über die letzten zehn Jahre sind es -600).
Örtliche Politiker, Unternehmensvertreter und der DGB haben nun zu einem Bündnis für Arbeit aufgerufen. NRW-weit ist
dies zunächst geplatzt, weil die Unternehmer eine tarifliche Bezahlung für Niedriglohnjobs ablehnten. Jetzt will
Ministerpräsident Clement, der aus dem Land der Fabriken ein Land der Denkfabriken machen will und kürzlich für zwei
Nullrunden in der Tarifpolitik eintrat, in Gelsenkirchen einen eigenen Modellversuch starten und einen Niedriglohnbereich
einführen.
Die Gewerkschaften in NRW und auch in der Stadt sind tief verärgert; der Arbeitgeberverband in Gelsenkirchen hingegen ist für
die Pläne Clements: "Wir müssen das Modell probieren, um herauszufinden, wie es funktioniert."
Es gibt Vorläufer. Schon vor zehn Jahren stellten Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus dem nördlichen Ruhrgebiet eine
gemeinsame Initiative "Das Handlungskonzept Emscher-Lippe" vor. Es war das erste Beispiel für die später landesweit
eingeführte regionale Strukturpolitik. Das mittlerweile fortgeschriebene Entwicklungsprogramm mit insgesamt acht Leitobjekten bildet
immer noch die Grundlage für die Bewältigung der Probleme im nördlichen Ruhrgebiet. Was aber die Schaffung neuer
Arbeitsplätze betrifft, gibt es kaum nennenswerte Erfolge.
Leiter des Programms ist der Gelsenkirchener Bundestagsabgeordnete Jochen Poss. Poss schreibt in einem Artikel für das Handelsblatt
vom Mai 1999: In unserer Region fehlen 50000 Arbeitsplätze. Es ist eine Illusion, dass Dienstleistungen weggebrochene
Industriearbeitsplätze ersetzen könnten. Das Programm hat sich nach Ansicht von Poss zu einem "operativen Instrument zur
Umsetzung der regionalen Strukturpolitik entwickelt". Die Teilnahme daran kostet die Stadt allein 541000 Mark. Nach Ansicht von
Kritikern handelt es sich allerdings eher um einen Papiertiger: Das Programm hat keinen Einfluss auf die Zechenschließungen, obwohl
MdB Poss im Aufsichtsrat der Deutsche Steinkohle AG (DSK) Sitz und Stimme hat.
Im Zukunftszentrum Herten wurde nun nach zehn Jahren das Handlungskonzept neu diskutiert. Regierungspräsident Jörg
Twennhöven sagte in der Diskussion: Viel Neues hat das Emscher-Lippe-Programm nicht zu bieten. Alles ist schon einmal vorgestellt
worden. Das Programm quillt über von Ideen, Leitbildern und Projekten in Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Umwelt. Vieles davon
existiert erst auf dem Reißbrett und ist von der Endphase weit entfernt. Hinzu kommt, dass das Handlungsprogramm keine kommunale
Wirtschaftsförderung machen darf und große, spektakuläre Industrieansiedlungen nicht in Sicht sind.
Trotzdem verteidigte Poss das Programm. Als positives Beispiel verwies er auf das Wissenschaftszentrum Rheinelbe in Gelsenkirchen; dort
werden Innovationen angestoßen. Die "gläserne Denkfabrik" hat 173 Millionen Mark gekostet und wurde mit vielen
Architekturpreisen ausgezeichnet. Wirtschaftlich betreiben lässt sie sich nicht. Sie ist nur zu 62% vermietet und hängt seit
fünf Jahren am Finanzierungstropf. Die hochverschuldete Stadt Gelsenkirchen zahlt jährlich erheblich dazu, allein im Jahr 1998
rund 670000 Mark als Mehrheitsgesellschafterin (51%). Im nördlichen Ruhrgebiet gibt es zwölf Wissenschaftszentren (NRW-weit
67). Wirtschaftsminister Steinbrüch ist mit ihrer Leistung unzufrieden: "Bei einigen ist es fraglich, ob sie diese Bezeichnung
überhaupt verdienen."
Eine bahnbrechende Rolle wird dem ChemSit-Projekt zugesprochen (siege SoZ 9/98). Der Chemiekomplex in der Stadt Marl im Norden des
Reviers gehört zu den größten Industriestandorten in NRW. Aber auch hier wird rationalisiert. Jetzt wurde bekannt, dass die
Veba-Tochter Degussa-Hüls AG den Standort Mark neu ordnen will. Die Degussa will sich von der PVC-Produktion trennen. Betroffen
ist die Vestolit GmbH in Marl mit 800 Beschäftigten und 600 Millionen Mark Umsatz. Die Firma schreibt schwarze Zahlen, doch der
Degussa reicht die Rendite nicht.
Auch in der Chemieindustrie werden seit Jahren Arbeitsplätze abgebaut. Eine Ursache hierfür ist der Ersatz personalintensiver
Altanlagen durch elektronisch gesteuerte Prozessleitsysteme.
Im März 1999 haben sich der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats der Hüls-AG, Richard Blauth, und der Landesbezirksleiter der
IGBCE, Alfred Geißler, in einem längeren Artikel im Handelsblatt zum ChemSit-Projekt geäußert. Sie wollen in der
"Tarifpolitik deutliche Zeichen setzen und gegenüber den Investoren Vertrauen schaffen". Das heißt: das Entgeltsystem
wurde tarifnah ausgerichtet (entsprechend den Möglichkeiten des Betriebs). Sie stellten auch in Aussicht, die Löhne um bis zu 10%
unter die geltenden Tarifverträge zu senken. Die Arbeitszeitregelungen wurden ebenfalls verändert. Die Mitarbeiter müssen
nun eigenverantwortlich die betrieblichen Anforderungen mit ihrer Arbeitszeit in Einklang bringen.
Wenn im Revier die Rede von Strukturpolitik ist, betrifft dies auch die Internationale Bauausstellung (IBA), die in diesem Jahr nach
zehnjährigem Bestehen mit großen Festausstellungen auslaufen wird. Die IBA sollte einst zum ökologischen und sozialen
Umbau der Emscherzone beitragen. Dazu wurden über 5 Milliarden Mark für insgesamt 110 Bau- und Landschaftsprojekte
aufgewandt, imposante Industriedenkmäler und Landschaftsveränderungen durchgeführt, die zu den größten der
Welt zählen.
Im Frühjahr hat sich die "rot"-grüne Koalition in Düsseldorf auf eine Verwaltungsreform der
Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe verständigt. Von ihr werden nach SPD-Vorstellungen 65 von 400
Landesbehörden mit insgesamt 70000 Arbeitsplätzen betroffen sein. Wolfgang Clement nannte die "glasklare Trennung von
kommunalen und staatlichen Aufgaben" eine "revolutionäre Entwicklung". Nach scharfen Protesten aus den
verschiedenen Belegschaften gab er zu, 20000 Beschäftigte - vorwiegend im Bereich der Sozial- und Gesundheitsverwaltung, im
Straßenbau, Denkmals- und Landschaftsschutz - müssten "sozialverträglich" abgebaut werden. Die beiden
Verbände unterhalten Heime, Bildungsstätten, Sonderschulen; sie kümmern sich um Kriegsbeschäftigte, Behinderte und
Suchtkranke. Beide sollen nach dem Willen von Clement aufgelöst und ihre Aufgaben den Kommunen zugeordnet werden.
Dagegen protestieren die Kämmerer in den Städten des Reviers. Sie sagen: unsere Städte und Haushalte werden ausgepresst
wie Zitronen.