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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 02.09.1999, Seite 6

Städte im Ruhrgebiet

Ausgepresst wie Zitronen

Wenn am 12.September in den Städten des Ruhrgebiets die Gemeinderäte und Oberbürgermeister (letztere zum erstenmal direkt) gewählt werden, haben die Wählerinnen und Wähler alle Ursache, zwischen Kommunal-, Landes- und Bundespolitik keinen großen Unterschied mehr zu machen. In den letzten zehn Jahren hat sozialdemokratischeStrukturpolitik in Ländern und Gemeinden viel von der Anpassungsleistung an die Interessen der Wirtschaft vorweggenommen, die Schröder jetzt von der Bundesregierung und der Bundespartei verlangt. Ministerpräsidenten wie Clement, Simonis, Beck, Stolpe fühlen sich nicht ohne Grund als die eigentlichen Vorreiter der neuen SPD-Linie.

In den ersten Monaten der Bundesregierung, als Schröder noch seine Wahlversprechen abzuarbeiten hatte, kam die Kritik aus den eigenen Reihen vorwiegend von rechts, von eben jener Riege. In Anbetracht der bevorstehenden Landtagswahlen sind die Ministerpräsidenten nun vorsichtiger geworden. Ob die Kritik eines Reinhard Klimmt dabei mehr ist als der Versuch, bei den bevorstehenden Landtagswahlen im Saarland die eigene Haut zu retten und sich aus dem Abwärtstrend der SPD auszuklinken, wird sich noch weisen.

Der nachstehende Beitrag von WILLI SCHERER skizziert die Folgen von zehn Jahren SPD-Strukturpolitik im nördlichen Ruhrgebiet.

Es hat sich was getan im Ruhrgebiet, die Stahl- und Kohlenkrise hat die Region verändert. Die Schriften und Bücher, die den Strukturwandel beschreiben, sind nicht mehr zu zählen. Der Traum vom Hightechzeitalter hat die Ansiedlung von Technologiezentren und Wissenschaftsparks beflügelt. Politiker und Wirtschaftsmanager sagen, das Revier ist zu einem modernen Zentrum im Herzen Europas geworden. Johannes Rau, damals noch Ministerpräsident von NRW, schrieb in einer Festschrift des Vereins "Pro Ruhrgebiet": "Ein schönes Stück Deutschland, in dem es sich gut leben lässt."
Dieser Sommer war der Sommer der großen Sause: Fast jede Woche begann irgendwo zwischen Hamm und Duisburg ein neues Festival, wurde eine neue Ausstellung eröffnet. Über 120 Festveranstaltungen haben in diesen Sommermonaten stattgefunden. Aber neben technischen Höhenflügen, Superkinos und Parkanlagen hat das Revier auch ungelöste Probleme, die nicht verschwiegen werden dürfen.
Die Emscher-Lippe-Region gilt nach wie vor als die Region mit den größten strukturellen Problemen im Revier. Zu diesem Gebiet gehören zwölf Städte, in den 1,8 Millionen Menschen arbeiten und leben. Keine Region war und ist immer noch so vom Bergbau abhängig wie das nördliche Ruhrgebiet. Dieser Raum trägt wie kein anderer die Narben von 150 Jahren Kohle- und Stahlproduktion. Inzwischen hat die Arbeitslosigkeit hier Rekordmarke erreicht.
In den nächsten zwei, drei Jahren wird sich die Lage durch weitere gravierende Einschnitte bei der Kohleförderung noch verschlechtern. Der Recklinghäuser Landrat Ettrich erwartet in den kommenden Jahren einen Verlust von weiteren 40000 Arbeitsplätzen in der Region. Den Rückgang der Aufträge und des Konsums beziffert er auf einen Wert von zwei Milliarden Mark.
Im Mai verkündete RAG-Chef Gerhard Neipp in Essen, dass im Frühjahr 2000 drei weitere Zechen geschlossen werden. Das betrifft zunächst die zu einer Großanlage zusammengefassten Zechen Ewald in Herten und Hugo in Gelsenkirchen. Von der Schließung sind 5400 Beschäftigte betroffen, aber es ist längst nicht gesichert, dass dieser Stellenabbau "sozialverträglich" erfolgen wird. Neipp spricht von einem "Überhang von 6000 Beschäftigten, für die wir keine Arbeit haben".
Überraschend kam die Meldung, dass die Kokereien in Gelsenkirchen-Hassel und Kaiserstuhl in Dortmund geschlossen werden sollen; davon sind 1100 Beschäftigte betroffen. Karl Klingenberg, Hauptabteilungsleiter bei der DSK, meint dazu: "Es ist paradox." In Dortmund steht die modernste Kokerei der Welt, doch jeden Tag fahren zwei Kokszüge aus Polen vorbei.
In den ersten Juliwochen hat Wirtschaftsminister Müller gefordert, im Rahmen des Sparprogramms müssten auch die bisherigen Subventionen gestrichen werden.
Mit dem Auslaufen des Montanvertrags im Jahr 2002 steht sowieso eine grundlegende Überprüfung der Kohlebeihilfen an. Schon jetzt wächst vor allem in Großbritannien die Kritik, durch das deutsche Unterstützungssystem würden erhebliche Wettbewerbsverzerrungen entstehen. In ihrem Weißbuch, das die Leitlinien zur Reform der Energiepolitik enthält, betont die Labour-Regierung ausdrücklich: Nach dem Auslaufen des Montanvertrags darf es keine "arrangements" mehr geben! Der Kampf ums Überleben im Bergbau wird dann hart, wenn im Jahr 2005 auch noch das bekannte 50-Milliarden-Hilfsprogramm für den deutschen Steinkohlebergbau ausläuft, das zum größten Teil von der EU bezahlt wird.
Gerade jetzt hat die Prognos AG in Basel eine neue Studie über die "Interdependenz von Steinkohlebergbau und Wirtschaftsstrukturen im Ruhrgebiet" veröffentlicht. Dort heißt es: An jedem Arbeitsplatz im Steinkohlenbergbau hängen 1,3 weitere. Es geht um 50000 Menschen, die im Bergbauzulieferbereich und in der Bergbautechnik beschäftigt sind.
Auf einer Tagung der IG Metall in Bochum Anfang 1999, die sich mit den Schwierigkeiten für die Bergbautechnik befasste, wurde festgestellt, die hergestellten Produkte seien von bester Qualität, die Arbeitsplätze hochinnovativ. Dennoch erwartet die Branchen eine Verringerung des Auftragsvolumens in Deutschland um zwei Milliarden Mark.
Der Beschäftigungseinbruch im nördlichen Ruhrgebiet geht keineswegs allein auf das Konto des Bergbaus. Trotz Zuwächsen im Dienstleistungsbereich gingen zwischen 1993 und 1998 allein im Vest über 30000 Arbeitsplätze verloren. Das Vest ist das Gebiet nördlich von Recklinghausen. Nach Angaben der Industrie- und Handelskammer vom 24.7.99 gingen allein im verarbeitenden Gewerbe mindestens 15000 Beschäftigte verloren. Auch mittelständisch geprägte Branchen wie der Maschinen- und Fahrzeugbau wurden von dem Abwärtsstrudel erfasst (-3000 Stellen). Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie ist um 2300 Arbeitsplätze geschrumpft. Der Handel hat 2400 Stellen eingebüßt. Die Handelskammer warnt vor dem Bau neuer Einkaufs- und Erlebniszentren!
Besonders betroffen ist die Stadt Gelsenkirchen; sie zählt bereits über 20% Erwerbslose. Der Arbeitskreis Kritische Gewerkschafter hat in einer Dokumentation festgehalten, dass im Jahr 1996 über 1000 Arbeitsplätze allein in der Metallindustrie abgebaut wurden. In den ersten sieben Monaten des Jahres 1999 gingen durch Rationalisierungen, Betriebsverkleinerungen und Betriebsverkäufe an ausländische Unternehmen weitere 1000 Arbeitsplätze verloren. Betroffen sind alt eingesessene mittelständische Firmen, die doch angeblich von der "rot"-grünen Landesregierung unterstützt werden sollten: Baustahl (-150), Küppersbusch (-300), Geldbach (- 200), Schalker-Verein (-340). Die Stadt hat selbst mit -100 Beschäftigten dazu beigetragen (über die letzten zehn Jahre sind es -600).
Örtliche Politiker, Unternehmensvertreter und der DGB haben nun zu einem Bündnis für Arbeit aufgerufen. NRW-weit ist dies zunächst geplatzt, weil die Unternehmer eine tarifliche Bezahlung für Niedriglohnjobs ablehnten. Jetzt will Ministerpräsident Clement, der aus dem Land der Fabriken ein Land der Denkfabriken machen will und kürzlich für zwei Nullrunden in der Tarifpolitik eintrat, in Gelsenkirchen einen eigenen Modellversuch starten und einen Niedriglohnbereich einführen.
Die Gewerkschaften in NRW und auch in der Stadt sind tief verärgert; der Arbeitgeberverband in Gelsenkirchen hingegen ist für die Pläne Clements: "Wir müssen das Modell probieren, um herauszufinden, wie es funktioniert."
Es gibt Vorläufer. Schon vor zehn Jahren stellten Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus dem nördlichen Ruhrgebiet eine gemeinsame Initiative "Das Handlungskonzept Emscher-Lippe" vor. Es war das erste Beispiel für die später landesweit eingeführte regionale Strukturpolitik. Das mittlerweile fortgeschriebene Entwicklungsprogramm mit insgesamt acht Leitobjekten bildet immer noch die Grundlage für die Bewältigung der Probleme im nördlichen Ruhrgebiet. Was aber die Schaffung neuer Arbeitsplätze betrifft, gibt es kaum nennenswerte Erfolge.
Leiter des Programms ist der Gelsenkirchener Bundestagsabgeordnete Jochen Poss. Poss schreibt in einem Artikel für das Handelsblatt vom Mai 1999: In unserer Region fehlen 50000 Arbeitsplätze. Es ist eine Illusion, dass Dienstleistungen weggebrochene Industriearbeitsplätze ersetzen könnten. Das Programm hat sich nach Ansicht von Poss zu einem "operativen Instrument zur Umsetzung der regionalen Strukturpolitik entwickelt". Die Teilnahme daran kostet die Stadt allein 541000 Mark. Nach Ansicht von Kritikern handelt es sich allerdings eher um einen Papiertiger: Das Programm hat keinen Einfluss auf die Zechenschließungen, obwohl MdB Poss im Aufsichtsrat der Deutsche Steinkohle AG (DSK) Sitz und Stimme hat.
Im Zukunftszentrum Herten wurde nun nach zehn Jahren das Handlungskonzept neu diskutiert. Regierungspräsident Jörg Twennhöven sagte in der Diskussion: Viel Neues hat das Emscher-Lippe-Programm nicht zu bieten. Alles ist schon einmal vorgestellt worden. Das Programm quillt über von Ideen, Leitbildern und Projekten in Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Umwelt. Vieles davon existiert erst auf dem Reißbrett und ist von der Endphase weit entfernt. Hinzu kommt, dass das Handlungsprogramm keine kommunale Wirtschaftsförderung machen darf und große, spektakuläre Industrieansiedlungen nicht in Sicht sind.
Trotzdem verteidigte Poss das Programm. Als positives Beispiel verwies er auf das Wissenschaftszentrum Rheinelbe in Gelsenkirchen; dort werden Innovationen angestoßen. Die "gläserne Denkfabrik" hat 173 Millionen Mark gekostet und wurde mit vielen Architekturpreisen ausgezeichnet. Wirtschaftlich betreiben lässt sie sich nicht. Sie ist nur zu 62% vermietet und hängt seit fünf Jahren am Finanzierungstropf. Die hochverschuldete Stadt Gelsenkirchen zahlt jährlich erheblich dazu, allein im Jahr 1998 rund 670000 Mark als Mehrheitsgesellschafterin (51%). Im nördlichen Ruhrgebiet gibt es zwölf Wissenschaftszentren (NRW-weit 67). Wirtschaftsminister Steinbrüch ist mit ihrer Leistung unzufrieden: "Bei einigen ist es fraglich, ob sie diese Bezeichnung überhaupt verdienen."
Eine bahnbrechende Rolle wird dem ChemSit-Projekt zugesprochen (siege SoZ 9/98). Der Chemiekomplex in der Stadt Marl im Norden des Reviers gehört zu den größten Industriestandorten in NRW. Aber auch hier wird rationalisiert. Jetzt wurde bekannt, dass die Veba-Tochter Degussa-Hüls AG den Standort Mark neu ordnen will. Die Degussa will sich von der PVC-Produktion trennen. Betroffen ist die Vestolit GmbH in Marl mit 800 Beschäftigten und 600 Millionen Mark Umsatz. Die Firma schreibt schwarze Zahlen, doch der Degussa reicht die Rendite nicht.
Auch in der Chemieindustrie werden seit Jahren Arbeitsplätze abgebaut. Eine Ursache hierfür ist der Ersatz personalintensiver Altanlagen durch elektronisch gesteuerte Prozessleitsysteme.
Im März 1999 haben sich der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats der Hüls-AG, Richard Blauth, und der Landesbezirksleiter der IGBCE, Alfred Geißler, in einem längeren Artikel im Handelsblatt zum ChemSit-Projekt geäußert. Sie wollen in der "Tarifpolitik deutliche Zeichen setzen und gegenüber den Investoren Vertrauen schaffen". Das heißt: das Entgeltsystem wurde tarifnah ausgerichtet (entsprechend den Möglichkeiten des Betriebs). Sie stellten auch in Aussicht, die Löhne um bis zu 10% unter die geltenden Tarifverträge zu senken. Die Arbeitszeitregelungen wurden ebenfalls verändert. Die Mitarbeiter müssen nun eigenverantwortlich die betrieblichen Anforderungen mit ihrer Arbeitszeit in Einklang bringen.
Wenn im Revier die Rede von Strukturpolitik ist, betrifft dies auch die Internationale Bauausstellung (IBA), die in diesem Jahr nach zehnjährigem Bestehen mit großen Festausstellungen auslaufen wird. Die IBA sollte einst zum ökologischen und sozialen Umbau der Emscherzone beitragen. Dazu wurden über 5 Milliarden Mark für insgesamt 110 Bau- und Landschaftsprojekte aufgewandt, imposante Industriedenkmäler und Landschaftsveränderungen durchgeführt, die zu den größten der Welt zählen.
Im Frühjahr hat sich die "rot"-grüne Koalition in Düsseldorf auf eine Verwaltungsreform der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe verständigt. Von ihr werden nach SPD-Vorstellungen 65 von 400 Landesbehörden mit insgesamt 70000 Arbeitsplätzen betroffen sein. Wolfgang Clement nannte die "glasklare Trennung von kommunalen und staatlichen Aufgaben" eine "revolutionäre Entwicklung". Nach scharfen Protesten aus den verschiedenen Belegschaften gab er zu, 20000 Beschäftigte - vorwiegend im Bereich der Sozial- und Gesundheitsverwaltung, im Straßenbau, Denkmals- und Landschaftsschutz - müssten "sozialverträglich" abgebaut werden. Die beiden Verbände unterhalten Heime, Bildungsstätten, Sonderschulen; sie kümmern sich um Kriegsbeschäftigte, Behinderte und Suchtkranke. Beide sollen nach dem Willen von Clement aufgelöst und ihre Aufgaben den Kommunen zugeordnet werden.
Dagegen protestieren die Kämmerer in den Städten des Reviers. Sie sagen: unsere Städte und Haushalte werden ausgepresst wie Zitronen.


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