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In diesem Jahrhundert hat der Kapitalismus dreimal in Russland Einzug gehalten. Das erste Mal unter dem
Zarenreich - auf eine lange und relativ langsame Entwicklung folgte zwischen der ersten, weitgehend erfolglosen, bürgerlichen
Revolution von 1905-1907 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs eine kurze Periode, in der die Industrie boomte und Ministerpräsident
Pjotr Stolypin eine kapitalistische Landreform einleitete. Während der größte Teil des Landes selbst nach damaligen
Maßstäben stark unterentwickelt und rückständig blieb, entstanden gleichzeitig große monopolistische Konzerne
und Banken, die die Grundlagen für einen moderneren kapitalistischen Staat legten.
Dieser spezifisch russische Kapitalismus wurde von der bolschewistischen Revolution 1917 zu Grabe getragen. Die Revolution praktizierte in
ihren ersten Jahren eine nahezu vollständige Verstaatlichung, zumindest in den Städten. Mit dem Ende des Bürgerkriegs
Anfang der 20er Jahre führte W.I.Lenin eine neue, eingeschränkte Art von Kapitalismus ein, die, so glaubte er,
vorübergehend helfen würde, die Wirtschaft wiederzubeleben, bis der Sozialismus in der Lage sei, sich vollständig
durchzusetzen. Das Experiment der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) dauerte wenige Jahre und wurde von J.W.Stalin Ende der 20er
Jahre beendet. Bis in die späten 80er Jahre, d.h. über ein halbes Jahrhundert lang, gab es keinen legalen Kapitalismus oder private
Betriebe irgendeiner Art.
Der russische Kapitalismus der 90er Jahre scheint deshalb oberflächlich betrachtet keine erkennbaren Wurzeln in den beiden
vorangegangenen kapitalistischen Phasen dieses Jahrhunderts zu haben. Sogar Vertreter der früheren kapitalistischen Klassen sind, soweit
sie unter dem kommunistischen Regime physisch überleben konnten, weitgehend von der Bühne verschwunden. Die objektiven wie
subjektiven Grundlagen des neuen russischen Kapitalismus wurden somit paradoxerweise unter einer zentralen Planwirtschaft und einer
sozialistischen Gesellschaft gelegt.
Dennoch tragen die drei Phasen des russischen Kapitalismus in diesem Jahrhundert bemerkenswert gemeinsame Züge. Erstens weisen sie
alle eine starke Tendenz auf, sich in den Sphären des Zwischenhandels und weniger in denen der Produktion einzunisten. Zweitens zeigen
sie alle ein außerordentliches Vertrauen in die Unterstützung durch den Staat. Schon im 18.Jahrhundert waren die erfolgreichsten
russischen Kapitalisten Händler, die Sonderrechte für die Gründung von Bergwerken und Fabriken bekamen, die
anfänglich die Arbeit von Leibeigenen ausbeuteten. Noch am Vorabend der Oktoberrevolution hatten die meisten russischen Unternehmer
eine Abneigung gegen die Industrie - mit Ausnahme der Textil- und Munitionsproduktion; in den Produktionsbereichen Kohle, Stahl,
Maschinenbau und Metallverarbeitung wurde die Mehrzahl der Großbetriebe von ausländischem Kapital kontrolliert. In den Tagen
der NEP vermied der Kapitalismus weitgehend die Großproduktion und konzentrierte sich auf den Handel und die Ausbeutung
einträglicher Regierungskonzessionen. Praktisch alle russischen Oligarchen von heute sind im Bankwesen, durch Finanzspekulationen und
besondere staatliche Privilegien aufgestiegen.
Ob diese Nähe zu den Anfangsformen des russischen Kapitalismus nur Zufall ist oder spezifisch russische Wurzeln hat, ist unklar. Sicher
ist, dass der parasitäre Charakter des neuen russischen Kapitalismus noch ausgeprägter ist als der seiner Vorläufer. Nicht
eine einzige bedeutende neue Fabrik ist in den letzten acht Jahren in Russland gebaut worden. Die Wirtschaft läuft ausschließlich
mit der Produktionskapazität, die unter dem Sozialismus geschaffenen wurde.
Ein solches Wirtschaftssystem kann nicht überleben, weil es mit seinem physischen Kapital Raubbau betreibt. Die Kapitalabschreibungen
betragen derzeit mehr als 30% des Bruttoinlandsprodukts (BIP); die Nettoinvestitionen in Anlagekapital sind seit Jahren negativ und der fixe
Kapitalstock wird Jahr für Jahr geringer. Schwerlich wird man einen auch nur entfernt vergleichbaren makroökonomischen
Selbstmord solchen Ausmaßes in der modernen Welt finden.
Der russische Kapitalismus des frühen 20.Jahrhunderts war wenigstens noch zum Wirtschaftswachstum fähig. Durch den
Kapitalismus der NEP konnte die wirtschaftliche Produktion ihren Vorkriegsstand wieder erreichen. Der russische Kapitalismus von heute
ruiniert das Land nur.
Wie erwähnt wurzelt der russische Kapitalismus von heute weitgehend in der kommunistischen Wirtschaft von gestern. Seine
Anfänge bildete die Untergrund- und Schattenwirtschaft, die sich in den Poren der Kommandowirtschaft entwickelte. Einige der heute
erfolgreichen Tycoons begannen ihre Geschäftskarriere in dieser Sphäre der verdeckten Aktivitäten, die zur Zeit, als Michail
Gorbatschow an die Macht kam, 15% des sowjetischen BIP ausmachte. Dabei bestand die Schattenwirtschaft unter kommunistischer Herrschaft
nicht nur aus Spekulanten und verdeckten Produzenten, die außerhalb des offiziellen staatlichen Sektors operierten; zu ihr gehörte
auch ein Netz von Staatsfunktionären, die innerhalb des offiziellen Systems als private Unternehmer auftraten, sowie Personen, die an
hoher Stelle im Staatsapparat strategische Positionen einnahmen. Diese Personen behandelten staatliches Wirtschaftsvermögen als ihr
privates Eigentum und eigneten sich einen Teil des in Staatsbetrieben erwirtschafteten Mehrwerts zu ihrem privaten Vorteil an. Sie waren
deshalb gut vorbereitet, als rechtmäßige private Kapitalisten die ehemals staatlichen Betriebe zu übernehmen, als das alte
politische Regime abtrat, die Betriebe privatisierte und die zentrale Planung einer dezentralisierten privaten Bestimmung von Produktion,
Verteilung und Preisen wich. Die Marktreformen spiegelten logischerweise die Interessen dieser neuen Klasse wider, die nach einer offenen
und legalisierten kapitalistischen Identität suchte.
Aufgrund ihrer in der Vergangenheit gesammelten, weitgehend illegalen Erfahrungen war ein beträchtlicher Teil der neuen russischen
Kapitalisten in kriminellen und korrupten Praktiken versiert und sah keine moralischen oder rechtlichen Probleme in dem neuen, reformierten
System, das solche Praktiken ungeheuer begünstigte. Das neue System machte die Korruption zur allgemeinen Regel. Heute ist in
Russland niemand überrascht, wenn ein Geschäftskonkurrent erschossen, in die Luft gejagt oder auf andere Weise beseite
geräumt wird. Auch die Kämpfe um die Kontrolle über einige der größten Öl- und
Aluminiumgesellschaften wurden auf die brutalste Art und Weise ausgetragen. Korruption und Verbrechen sind in der russischen
Kapitalistenklasse weit verbreitet, nicht nur, weil der rechtliche Rahmen für die Einhaltung von Verträgen fehlt, wie liberale
Kritiker anmahnen, sondern vor allem weil ein großer Teil der Klasse andere Methoden als kriminelle und korrupte nicht kennt und sie
als die effizientesten betrachtet - zumindest auf kurze Sicht, die sie allein zu interessieren scheint. Der kriminelle und korrupte Teil der
Geschäftswelt ist vielleicht eine Minderheit in der Kapitalistenklasse, aber doch außerordentlich mächtig und
tonangebend.
Infolge der Art und Weise, wie die Privatisierung in Russland durchgeführt wurde, wurde der größte Teil des früher
staatseigenen Vermögens den neuen Eigentümern zu einem Preis übergeben, der nur ein Bruchteil seines aktuellen Werts
ausmachte. Die gesetzlichen Grundlagen für die Privatisierung der großen Staatsbetriebe wurden noch vom alten russischen
Parlament verabschiedet, das überwiegend links und antikapitalistisch zusammengesetzt war und vor allem deshalb im Oktober 1993
gewaltsam aufgelöst wurde. Diese Gesetze regelten, dass die Beschäftigten eines Betriebs die Mehrheit der Anteile und damit die
Kontrolle über den Betrieb behalten, und die restlichen Anteile in Form von Gutscheinen gleichermaßen an die Bürger
verkauft werden sollten. Leitlinie war die Schaffung von Betrieben, die durch die Beschäftigten verwaltet würden und weitgestreut
Anteilseigner unter der Bevölkerung hätten. Das ist keine klassisch kapitalistische Idee, sondern kommt eher dem Konzept eines
genossenschaftlichen Sozialismus nahe.
In der Praxis wurde der Plan unter einer entschieden prokapitalistischen Regierung vollständig anders ausgeführt. Ein großer
Teil der Anteile gelangte entweder in die Hände des früheren Managements oder unter dessen Kontrolle, wodurch sie in den
meisten Fällen zu den kontrollierenden Anteilseignern oder sogar mehrheitlichen Eignern wurden. Statt weit gestreut zu werden, wurden
die Gutscheine, deren realer Wert während der Hyperinflation sank, zu nominellen Preisen aufgekauft. Die Käufer waren
Investmenttrusts, Operateure großen Stils, die sich so in profitable und vielversprechende Betriebe einkauften. Auf diese Weise gelangte
eine russische Gruppe von Kriminellen, die mit einer Londoner Handelsgesellschaft liiert war, in den Besitz einer der größten
Aluminiumhütten in Sibirien.
In diesem Stadium waren Investoren von außen noch die Ausnahme, in den meisten Fällen wurden die früheren
"rotenDirektoren" die neuen faktischen Fabrikbesitzer. Später führte die Regierung ein Gesetz ein, das erlaubte,
große Anteilspakete an Unternehmen, die wegen ihrer strategischen Bedeutung (z.B. der große Nickelkonzern) ursprünglich
von der Privatisierung ausgenommen worden waren, gegen "Anleihen" bei privaten Banken zu tauschen. Nach einem Jahr gingen
diese Pakete wegen eines "technischen Zahlungsversäumnisses der Regierung" in den Besitz der Banken über. Der
tatsächliche Preis für den Erwerb dieser Pakete lag beträchtlich unter ihrem realen Wert. Auf diese Weise wurden die
führenden Banken (die im ersten Stadium der Privatisierung noch kaum existierten) zu Zentren der Finanz- und Industriegruppen und ihre
Besitzer zu Oligarchen.
Das Ergebnis der doppelten Operation war, dass der Staat praktisch kein Einkommen aus der Privatisierung seines Wirtschaftsvermögens
erzielte; der überwiegende Anteil daran wurde der neuen Kapitalistenklasse praktisch kostenlos übertragen. In den USA haben
Räuberbarone Jahrzehnte gebraucht, um Millionen- und Milliarden-Dollar-Vermögen aufzuhäufen; derselbe Prozess
benötigte in Russland weniger als fünf Jahre. Der destruktive Charakter dieser Aneignung in großem Stil besteht darin, dass
Anlagekapital, das mit minimalen Kosten und minimalem Aufwand erworben wurde, von den Eigentümern keines sinnvollen Einsatzes
für wert befunden wird; der psychologische Anreiz zu parasitärem und verschwenderischem Verhalten ist sehr
groß.
Abgesehen von dieser Art der Privatisierung erlaubte die prokapitalistische Regierung begünstigten Angehörigen der
Kapitalistenklasse auch, systematisch an den Einkünften der Regierung teilzuhaben. Dies geschah auf vielfache Weise. Firmen mit engen
Verbindungen zu Regierungsangehörigen wurde ein Status als Sonderexporteure verliehen, wodurch sie das exklusive Recht erhielten,
Öl und Metalle zu verkaufen, ohne Steuern zu zahlen und die Deviseneinnahmen wieder einführen zu müssen.
Ausgewählte Gesellschaften undOrganisationen durften Alkohol und Tabak zoll- und steuerfrei einführen und die zusätzlichen
Einnahmen für ihre privaten Zwecke verwenden. Die meisten dieser Sonderprivilegien wurden seitdem wieder zurückgenommen,
sie haben ihren Zweck jedoch erfüllt, weil damit die ersten Millionen akkumuliert wurden, die später auf andere,
"konventionellere" Art eingesetzt werden konnten. [...]
Der Einsatz von Staatsgeldern war eine Hauptgrundlage für den Aufstieg der russischen Banken, die von Oligarchen geführt
werden. Öffentliche Einlagen machen nur 2-3% der Verbindlichkeiten von Geschäftsbanken aus, aber über 90% der
tatsächlichen Staatseinkommen und -ausgaben werden über die Banken abgewickelt. In ihrer Eigenschaft als besondere Agenturen
der Regierung profitieren die Banken von hohen Provisionen (bis zu 7% des Umsatzes) und von der kurzfristigen Anlage der Gelder, die die
Regierung vorübergehend nicht benötigt. Die Banken sind nicht so sehr daran interessiert, ihre normalen
Geschäftsaktivitäten auszuweiten, sondern eher daran, exklusiv Regierungsbehörden mit besonders großem Geldbedarf
wie Roswoorushenije (die den größten Teil der russischen Waffenexporte kontrolliert) oder die zentrale Zollbehörde (die
bis vor kurzem ihre Einkünfte an die Uneximbank überwiesen hat) mit Geld zu versorgen.
Bis August 1998 bestand eine weitere lukrative Einnahmequelle der Banken in Staatsobligationen; noch 1995/96 brachten sie durchschnittlich
85-160% Zinsen ein. Diese Goldmine ist nun teilweise versiegt - weil die staatlichen Schuldverschreibungen zurückgehen, aber auch
weil das Finanzministerium dabei ist, die Abhängigkeit von privaten Banken durch direkte Haushaltsfinanzierung zu ersetzen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der russische Kapitalismus der 90er Jahre weitgehend ein Auswuchs der illegalen
Schattenwirtschaft der kommunistischen Vergangenheit in Kombination mit einem vollständig neuen System des staatsmonopolistischen
Kapitalismus ist. Dieses System hat das Vermögen des sozialistischen Staates enteignet und gedeiht auf dem Boden eines
beträchtlichen Mehrwerts, der in den letzten Jahren durch staatliche Kanäle umverteilt wurde. Diese rasche Transformation
wäre ohne die aggressive prokapitalistische Politik des Reformregimes unter Jelzin nicht möglich gewesen. […]
Stanislaw Menschikow