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Er ist das Licht und die Erlösung", steht auf dem selbstgemalten Schild, das eine ältere,
schlicht gekleidete Frau in die Höhe hält. Die Kundgebung in der venezolanischen Hauptstadt Caracas wirkt wie die
Zusammenkunft einer der vielen evangelikalen Sekten, die in Lateinamerika großen Zulauf haben.
Doch es ist eine politische Veranstaltung, und der pathetische Satz bezieht sich nicht auf Jesus, sondern auf den Präsidenten Hugo
Chávez. Der zum Demokraten konvertierte frühere Putschist ist der neue Held der Massen in Venezuela, während sein
autoritärer Regierungsstil in den Nachbarländern der Region mit zunehmender Sorge betrachtet wird.
Chávez spanischer Beichtvater, Jesuit und ohne Zweifel Anhänger seiner Politik, sagt, die vom neuen Präsidenten
angekündigte "friedliche Revolution" könnte nur aus einem Grund scheitern: "Er hält sich für einen
Gott." Dies mag dem Chef des Parteienbündnisses "Patriotischer Pol" Unrecht tun. Doch bestimmt sieht sich der
selbstbewusste Mann, der stets mit roter Baskenmütze auftritt und mitreißende Reden hält, als Auserwählter, der sein
Land und, wenn möglich, auch den ganzen Subkontinent aus dem Elend retten soll. Genügend Anhänger hat er: die
große Mehrheit der Venezolaner, der falschen Versprechungen und Korruption müde, bringt ihm grenzenloses Vertrauen
entgegen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Lateinamerika auf einen "Caudillo" (charismatischen Führer) setzt, der als Messias
daherkommt. Bislang scheiterten all diese Experimente unterschiedlicher Herkunft. Zumeist führte die Konzentration der Macht in
wenigen Händen zu mehr Problemen, als damit gelöst wurden. Die Venezolaner jedoch versichern, dass es diesmal anders sein
werde.
Bis 1992 war Chávez ein unbekannter Oberstleutnant. Damals, im Alter von 37 Jahren, putschte er erfolglos gegen den
sozialdemokratischen Präsidenten Carlos Andres Pérez. Pérez war der typische Repräsentant der venezolanischen
Demokratie, die über Jahrzehnte hinweg von zwei Parteien dominiert wurde: Korrupt, unfähig, nur seiner Klientel verpflichtet.
Lange vor seiner Verurteilung wegen Vetternwirtschaft trug er das Seine dazu bei, das reiche Erdölland in den Abgrund zu
wirtschaften.
Es war dieses ungeliebte System, dass dem neuen Helden zur Geburt verhalf: Ungemein geduldig, erst im Gefängnis, später als
Redner auf Straßen und in der Politik, knüpfte Chávez die Fäden, die zur Macht führen. Der Urnengang im
vergangenen Dezember führte ihn ans Ziel.
Doch die verfassungsmäßige Machtfülle reicht dem neuen Staatschef nicht. In nur sieben Monaten erlangte er Kontrolle
über fast alle Institutionen des Landes, im August beschnitt er die Befugnisse der Justiz. Ohne Scheu griff er in die Arbeit des Parlaments
ein, dessen Oppositionsmehrheit ihm hinderlich wurde. Chávez Macht zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sich der praktisch
aufgelöste Kongress Anfang September mit Chávez auf einen Kompromiss einigte, der den Einschnitt in die Befugnisse der
Abgeordneten nahezu legitimiert.
Die Waffe des Präsidenten ist eine Verfassunggebende Versammlung, in die zu über 90% Chávez-Anhänger
gewählt wurden. Die Opposition kritisiert, das neue Gremium sei nur dazu da, eine Verfassung gemäß den Wünschen
des Staatschefs zu schneidern. Soweit bisher bekannt bestätigt sich diese Befürchtung: Mehr Vollmachten für den
Präsidenten, neben den drei herkömmlichen Gewalten soll ein vierte, "Moralische Macht", etabliert werden und
natürlich die Wiederwahl des Amtsträgers.
Offensichtlich baut sich der Ex-Militär sein eigenes Königreich, und sogar weitgehend demokratisch legitimiert: er gewann freie
Wahlen, ein Referendum befürwortete die Verfassungsversammlung und diese handelt entsprechend der
Mehrheitsverhältnisse.
Unverändert sind die Sympathien im Land. "Das Volk ist für Chávez, für den Wechsel," sagt ein gut 50-
jähriger Mann, der im Anzug an einer Kundgebung des "Patriotischen Pols" teilnimmt. "Diejenigen, die ihn einen
Diktator nennen, sind die ewig Korrupten, die alten politischen Mafias." Inbrunst für einen Messias, der vom Scheitern einer
politischen Klasse profitiert, die in ihrer Selbstsucht ihr eigenes Grab geschaufelt hat.
Das "Phänomen Hugo Chávez" hat Vorbilder. Einst den Peronismus in Argentinien, doch auch heute, z.B. den
Regenten Perus, Alberto Fujimori. Auch andere Präsidenten wie der Brasilianer Fernando Cardoso oder der Argentinier Carlos Menem
konnten der Versuchung einer laut Verfassung verbotenen Wiederwahl nicht widerstehen, doch sie hielten sich an den demokratischen Rahmen.
Fujimori griff 1992 zum Mittel des Selbstputsches: Er löste das Parlament auf und schuf - getragen von breiter Popularität - eine
Staatsform, die ihm grenzenlose Machtfülle garantiert.
Fujimori und Chávez, deren politisches Modell des starken Mannes im krisengeschüttelten Lateinamerika nicht verwundern darf,
haben vieles gemein. Ungeniert zeigen sie ihre Machtgelüste, übertreten demokratische Regeln, halten zu den "Massen"
im Land und beide sind überzeugt, dass ihre Führerschaft unerlässlich für das Wohl des Landes ist.
Diese Gemeinsamkeiten lassen die Unterschiede in den Hintergrund treten. Der Pragmatiker Fujimori hält nichts von Ideologie und
Politik und wiederholt immer wieder, keinem Vorbild nachzueifern. Der Populist Chávez hingegen ist der klassische Ideologe, er
weiß um seinen politischen Instinkt und sieht sich als Erbe von Simón Bolívar, dem Wegbereiter der Unabhängigkeit
Südamerikas von Spanien.
Entscheidend jedoch - und derzeit nicht nur in Venezuela heftig umstritten - sind die inhaltlichen Unterschiede im politischen Projekt. Der
Peruaner Fujimori erhob den Neoliberalismus zum Dogma, setzte auf Privatisierung und entband den Staat aller sozialen Verantwortung.
Paradoxerweise gewann er mit dieser Politik die breite Unterstützung der verarmten Bevölkerung, die Fujimori als Bezwinger der
Inflation und des Terrorismus feiert. Im scharfen Gegensatz dazu verficht Chávez den starken Staat. Nein zum neoliberalen Modell und
eine Politik für die sozial Schwachen sind sein Credo. Trotz seiner Neigung zu Autorität und Hierarchie gilt er vielen als Mann der
Linken.
Zudem hat Venezuelas Präsident Visionen. Im Stil seines Mentors Bolívar will er seine Überzeugungen über die
Landesgrenzen exportieren. Mehrfach nahm Chávez zum Bürgerkrieg im Nachbarland Kolumbien Stellung und legt sich mit den
USA an, die in seinen Augen Kuba und den Rest des Kontinents ausbeuten. Emsig arbeitet er an seinem Vorschlag, eine
"Konföderation Lateinamerikanischer Staates" ins Leben zu rufen.
Sein großes Manko ist jedoch die Wirtschaftspolitik. Der fallende Ölpreis belastet den Haushalt, im 1.Halbjahr 1999 schrumpfte
die venezolanische Wirtschaft um über 9%. Bisher legte Chávez kein schlüssiges Konzept vor, wie er die steigende
Arbeitslosigkeit bekämpfen will.
Doch es fällt dem Populisten nicht schwer, sein Volk abzulenken. Wie Fujimori in Peru spricht Chávez täglich über
eigene Radio- und Fernsehkanäle zu seinen Anhängern. Die Schlagzeile dieser Tage: Der Präsident trainiert Baseball und
wird bald eine venezolanische Nationalmannschaft gegen eine kubanische unter Fidel Castro anführen.
Die Besorgnis, die die Vorgänge in Venezuela nicht nur auf dem amerikanischen Kontinent ausgelöst haben, wird noch einige Zeit
andauern. Schon das "Phänomen Fujimori" ist seit Jahren trotz internationaler Kritik unangefochten an der Macht. Unbeirrt
arbeitet der peruanische Präsident daran, ein drittes Mal, sogar entgegen der von ihm diktierten Verfassung, für das höchste
Staatsamt zu kandidieren - Umfragen zufolge mit guten Aussichten.
Auch Chávez wird das gewonnene Terrain nicht so schnell wieder preisgeben, zumal jegliche Konkurrenz im Land völlig
diskreditiert ist. Nur eines fehlt ihm bisher: Konkrete Erfolge, die seine Anhängerschaft auf Dauer bei der Stange hält.
Alvaro Alfonso