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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 16.09.1999, Seite 13

Licht am Ende des Tunnels?

Demokratiedebatte in der Türkei

Die Steine bewegen sich", titelte die türkische Tageszeitung Sabah, "aus dem Schutt heraus steigt eine völlig neue Türkei empor".
Auch Ilnur Cevik, Herausgeber und Kolumnist der Turkish Daily News hebt das "Beben nach dem Beben" als eigentliche, politische Eruption hervor: "Das Erdbeben hat der Türkei neue breite Straßen eröffnet, sowohl zu Hause wie auch im Ausland. In der Türkei können wir uns demokratisieren und das kann uns helfen, ernsthaft unseren Weg in die europäische Familie zu beschreiten."
Mit einem Mal scheint alles anders. Will man den Kommentatoren der türkischen Politik glauben, so haben jene 45 Sekunden Erdbeben am frühen Morgen des 17.August nicht nur mehr Menschen das Leben gekostet als die vorangegangenen 15 Jahre blutiger Unterdrückung des kurdischen Aufstands, sondern auch die Grundfesten des Systems in weit stärkerem Maße erschüttert.
Der plötzliche Wandel in der öffentlichen Meinung verblüfft. Als hätte das Beben nicht nur das Bewusstsein der Menschen wachgerüttelt, sondern auch den politischen Eliten den Kopf zurechtgerückt, jagt die offene Systemkritik durch Straßen, Teestuben, Plätze und Schlagzeilen und macht selbst vor Bankettafeln, Empfängen und Pressekonferenzen nicht halt.
"Mörder!", klagte die keineswegs als oppositionell bekannte Tageszeitung Hürriyet Bauspekulanten und Genehmigungsbehörden an, während die türkischen Verantwortlichen sich in Lippenbekenntnissen übten und die Bevölkerung unter den Trümmern sterben ließen, das türkische Militär zuerst der Rettung der eigenen Offiziere organisierte, und nur wenige hundert Meter weiter zivile Opfer unter den Trümmern ihre letzten Klopfzeichen gaben.
Auf sich allein gestellt organisierten die Überlebenden in einem beispiellosen Akt der Selbsthilfe mit einfachen Mitteln die Suche nach Angehörigen und Nachbarn.
Jahrzehntelang hatte man der offiziellen Propaganda Glauben geschenkt, in einem von "Feinden" umstellten und "Terroristen" durchsetzten Land zu leben, dessen einzige Überlebensgarantie die türkische Armee sei. Doch mit einem Mal wurde für alle sichtbar, was wenige schon immer wussten: der kemalistische Zentralstaat sorgt in erster Linie und skrupelloser Weise für sich selbst.
Schlimmer noch, Freunde und Freundinnen eilten in erster Linie aus dem Ausland zu Hilfe. "Efharisto poli fili" - "Vielen Dank Freund", begrüßte Hürriyet in griechischer Sprache die Hilfsbereitschaft des Nachbarn. Die griechische Tageszeitung Ta Nea revanchierte sich auf türkisch mit "Hepimiz Türküz" - "Wir sind alle Türken".
Als schließlich in Ankara der faschistische Gesundheitsminister Osman Durmus öffentlich die Zurückweisung "griechischen Bluts" forderte, schlug die Dankbarkeit gegenüber den Nachbarn vollends in Wut auf die eigenen Regierenden um: "Halt‘s Maul und hau ab", titelte Radikal, und die seit den letzten Wahlen nicht länger im Parlament vertretene Republikanische Volkspartei (CHP) sammelte in zwei Tagen 10.000 Unterschriften für den Rücktritt des Ministers.
"Die Türken sind Opfer eines korrupten Systems", "Die Bevölkerung fühlt sich allein gelassen", "Die Nation erlebt den Kollaps des Systems" und "Wird diese Regierung zurücktreten?" lauteten die klaren Schuldzuweisungen in der Tagespresse.
Während Regierung und Militär noch versuchten, Schadensbegrenzung über Einschüchterung zu betreiben, den Redaktionen telefonisch mit Konsequenzen drohten und die Fernsehstation Canal 6 mit Sendeverbot belegten, ließ sich die veröffentlichte Meinung schon nicht mehr zurechtbiegen. Offen wurde die Zensur zum Thema, JournalistInnen im ganzen Land solidarisierten sich mit dem verbotenen Sender.
Selbst in den Knästen spendeten Menschen Blut, schafften von überall Nahrungsmittel herbei, versuchten in Selbsthilfe die soziale Not der Verletzten und Obdachlosen zu lindern und überwiesen hohe Geldsummen an Nichtregierungsorganisationen; die im staatlichen Fernsehsender TRT eingeblendeten Spendenkonten gingen vergleichsweise leer aus.
Doch das Vertrauen in den türkischen Staat scheint auch über die unmittelbaren Erfahrungen im Rahmen des Erdbebens hinaus nachhaltig erschüttert. Als das türkische Parlament nur wenige Tage später versuchte, noch vor der Sommerpause drei Gesetzesvorlagen abzustimmen, die unter dem Etikett "Amnestie" nur die Verbrechen des Staatsapparats vergeben sollten, ging ein erneuter Aufschrei durch die Medien.
Mit Schlagzeilen wie "Amnestie lässt Mob auf freien Fuß", "Sperrt eure Wertsachen in einen Panzerschrank", "Der Staat amnestiert sich selbst" und "Scheinamnestie wird keinen sozialen Frieden bringen" brachten die großen Tageszeitungen die Täuschungsabsicht an die Öffentlichkeit. Rund 60.000 staatlichen Auftragskiller und Folterern, korrupten Politikern und Geschäftsleuten sollte die Gesetzesvorlage Gnade gewähren.
"Verbrechen gegen den Staat", wegen denen MenschenrechtsaktivistInnen, Intellektuelle, JournalistInnen und oppositionelle PolitikerInnen hinter Gittern sitzen, sollten von der Amnestie ausgenommen sein. Dies sollte auch für Bauspekulanten gelten. Die Öffentlichkeit besann sich jedoch schnell darauf, dass wer nicht hinter Gittern sitzt, auch keiner Amnestie bedarf.
Für Parlament und Regierung erwies sich der Versuch, die Amnestie - eines unter vielen scheindemokratischen "Reformvorhaben" - propagandistisch zur demokratischen Großtat umzuwerten, als innenpolitische Bauchlandung.
Am 1.September sah sich Staatspräsident Demirel angesichts der Proteste gezwungen, die Gesetzesvorlage zur erneuten Überarbeitung an das Parlament zurückzugeben.
Anders erging es den beiden übrigen Vorlagen des Pakets, die ohne größere Kritik verabschiedet werden konnten. Ein "Reuegesetz" soll nun Angehörige der PKK zur Kapitulation und Denunziation bewegen und verspricht im Gegenzug Straffreiheit oder Reduzierung der Haftstrafen.
Ein Gesetz über "Pressedelikte" setzt Urteile über "durch die Presse begangene Straftaten" für drei Jahre zur Bewährung aus. In Wirklichkeit kommen etwa 20 JournalistInnen in den Genuss dieses Gesetzes. Die übrigen 157 sind über die genannten "Pressedelikte" hinaus auch wegen "Verbrechen gegen den Staat" verurteilt.
Ob ein ebenfalls verabschiedetes Gesetz den Anspruch erfüllt, der systematischen Folter auf Polizeiwachen und in Gefängnissen wirksam entgegenzutreten, wird die Zukunft zeigen. Immerhin setzt das Gesetz formell die Höchststrafe für Folterungen von fünf auf acht Jahre herauf, gleicht die Definition von Folter internationalen Standards an, verfügt für diesbezüglich Verurteilte die zeitweilige oder komplette Suspendierung vom Staatsdienst und ordnet für medizinisches Personal, das falsche Gesundheitsatteste zur Vertuschung von Folterspuren ausstellt, ebenfalls Geld- oder Haftstrafen an.
Knut Rauchfuss


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