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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 16.09.1999, Seite 13

Tauwetter auch gegenüber der PKK?

Unter dem Eindruck des Erdbebens hat die PKK ihren Anfang August angekündigten Rückzug aus dem türkischen Teil Kurdistans früher als geplant begonnen.

Am 1.September erklärte Osman Öcalan, Mitglied des Präsidialrates der PKK und Bruder des in der Türkei zum Tod verurteilten PKK-Vorsitzenden, in einer Telefonkonferenz des kurdischen Fernsehsenders Medya-TV anlässlich des internationalen Friedenstags, es hätten bereits 25% der KämpferInnen die Türkei verlassen.
"Es gibt eine vorsichtige Annäherung der Weltgemeinschaft und der Türkei an diesen Friedensprozess", wertete Öcalan die jüngsten Entwicklungen, nicht ohne hinzuzufügen, dass die türkische Armee den Abzug deutlich behindere. In den vergangenen Wochen war es immer wieder zu Rückzugsgefechten gekommen, weil die türkische Seite keine Garantien für einen freien Abzug gewährt hatte.
Öcalan forderte die UNO, das Europaparlament und andere internationale Gremien auf, den Rückzug der Guerilla zu überwachen und den Friedensprozess in der Türkei voran zu bringen. "Mehr als überwachen sollten die Staaten der Europäischen Union und alle anderen Staaten unsere Bemühungen für Frieden und Demokratie unterstützen und uns bei der Transformierung unserer Kräfte in das politische und soziale Leben nach Möglichkeit helfen. Das würde eine große Unterstützung für den Frieden, aber auch für die Türkei sein", verlangte Öcalan. Er forderte die türkische Armee auf, ebenfalls die Waffen niederzulegen, Hacke und Spaten in die Hand zu nehmen und Kurdistan sowie die Erdbebenregion am Marmarameer wieder aufzubauen. Die PKK werde sich an den Aufbauarbeiten beteiligen.
Zwei Tage später und pünktlich vor dem EU-Außenministertreffen im finnischen Saariselkä meldete sich der türkische Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu zu Wort. Erstmalig reagierte damit die Armee unmittelbar auf eine Ankündigung der PKK. Tatsächlich seien Hunderte PKK-KämpferInnen aus der Türkei abgezogen, dementierte Kivrikoglu anders lautende Pressemeldungen.
"Sie haben akzeptiert, dass die Waffen sie nirgendwo hinführen. Sie denken über eine politische Lösung nach …bWichtig ist, dass sie ihre Waffen niederlegen und sich ergeben … Sie wollen keine Föderation. Was sie wollen, sind bestimmte kulturelle Rechte. Einige davon sind ohnehin schon garantiert. Kurdischsprachige Zeitungen und Musikkassetten sind erlaubt. Obwohl illegal, werden kurdischsprachige Radio- und Fernsehsendungen im Osten- und Südosten empfangen … Im Zuge des Fortschreitens des Demokratisierungsprozesses werden auch diese Rechte weiterentwickelt werden."
Auch die Wahl von 37 prokurdischen Bürgermeistern sei eine Realität, wurde Kivrikoglu in den türkischen Medien zitiert. Befragt zur Position des Generalstabs zum Todesurteil gegen den inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan verwies Kivrikoglu auf die Zuständigkeit von Justiz und Politik. "Welche Entscheidung auch immer sie treffen, sie wird Bestand haben."
Die Worte Kivrikoglus schlugen wie eine Bombe ein. "Die Türkei steht am Rand einer Lösung des 15 Jahre alten PKK- Problems", prophezeite der für seine guten Beziehungen zum Nationalen Sicherheitsrat bekannte Hürriyet-Chefredakteur Ertügül Özkök in seinem Leitartikel. "Zum ersten Mal hat der türkische Staat die kulturellen Rechte seiner kurdischen Bürger von selbst angesprochen … Der Staat sollte dieses Problem mit seinen eigenen Staatsbürgern auf eine friedliche Art lösen. Am Ende sollte niemand denken: ‚Ich bin besiegt worden‘, im Gegenteil, sie sollten das Gefühl haben: ‚Ich habe Frieden mit meinem Land und meinem Staat gemacht.‘"
Andere Kolumnisten zogen nach. Auch PKK-Kommandant Cemil Bayik erklärte für den Präsidialrat: "Die ins Auge gefasste Lösung ist der unseren sehr nahe."
Die Turkish Daily News zeigte sich deutlich skeptischer und hob auf die autoritären Inhalte der Rede Kivrikoglus ab. Zu recht, wie sich heute sagen lässt.
Kaum war die Entscheidung der EU-Außenminister gefallen, keine Bedingungen an die Aufnahme der Türkei in die Liste der BeitrittskandidatInnen zu knüpfen und den türkischen Außenminister Ismail Cem zum nächsten Treffen einzuladen, dementierte der Generalstab nach einer Woche die Äußerungen Kivrikoglus. Sie seien ihm durch die Medien untergeschoben worden.
Doch so einfach scheint sich die öffentliche Debatte um Frieden und Demokratie in der Türkei nicht mehr steuern zu lassen. Unmittelbar nach Kivrikoglu brach der Vorsitzende des obersten Berufungsgerichts der Türkei, Sami Selcuk, in seiner Rede zum Beginn des neuen juristischen Jahres sein Schweigen. Vor der versammelten Machtelite des Staates erklärte Selcuk unter Applaus:
"Ich muss eine scharfe Warnung aussprechen. Die Türkei kann und darf nicht mit einer Verfassung in das nächste Jahrhundert eintreten, deren Legitimität gegen Null geht … Erstens wurde die Verfassung nicht durch eine frei gewählte Regierung beschlossen, sondern durch Leute, die ausgewählt wurden, die Reihen eines geschlossenen Parlamentes zu füllen."
Als die Verfassung 1982 im Rahmen eines "fiktiven Referendums unter Drohungen" angenommen worden sei, habe die Bevölkerung die Wahl zwischen "Abstimmung oder Kugeln" gehabt. Insofern sei die damalige Zustimmungsrate von 93% nichts weiter als "eine Verhöhnung der Ehre des türkischen Volkes" gewesen.
Selcuk beklagte die hohe Zahl an Gewissensgefangenen: "Im Jahr 1997 wurden weltweit 180 Journalisten inhaftiert, 78 davon in der Türkei, womit wir an der Spitze lagen." Heutzutage sei die Türkei zwar ein Staat mit einer Verfassung, aber kein Verfassungsstaat.
Glaubt man den öffentlichen Bekundungen nach der Rede Selcuks, so sind sich nunmehr alle nahezu einig, niemals anders gedacht zu haben. Ministerpräsident Ecevit lobte die "wichtige Rede" und kündigte "konkrete Schritte" an. Der Verband der türkischen JournalistInnen unterstützte Selcuks Forderungen ebenso wie die Anwaltskammer in Ankara, die Gewerkschaftsföderation DISK, der Präsidialrat der PKK, der Vorsitzende der Wohlfahrtspartei Recai Kutan, Faschistenchef Devlet Bahceli und last but not least die DYP-Vorsitzende Tansu Ciller, die nun endlich zu der Meinung gefunden hat, die sie "schon seit zwei Jahren" vertrete.
Der einzige, der nicht zum Festakt des neuen Verfassungsjahres erschien, hält sich nach wie vor bedeckt: Generalstabschef Kivrikoglu.
Knut Rauchfuss


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