Sozialistische Zeitung |
Großbritannien 1912: Der 14-jährige Marinekadett Ronnie Winslow wird eines furchtbaren
Verbrechens bezichtigt: er soll 5 Shilling unterschlagen haben. Er wird von der Schule, die zugleich Kadettenanstalt ist, verwiesen, nachdem
eine völlig parteiische Untersuchung durchgeführt wurde.
Dieser scheinbar kleine Zwischenfall entwickelt sich zu einer Staatsaffäre, die ganz Grossbritannien mehrere Monate in Atem hält.
Der Film des Amerikaners David Mamet, der auf einem authentischen Fall beruht und nach dem Theaterstück von Terence Rattigan von
1946 gedreht wurde, bezieht seinen Reiz daraus, gesellschaftliche Missstände an einem speziellen Fall zu thematisieren. Dabei gelingt es
dem Regisseur, die Atmosphäre eines bürgerlichen Haushalts des beginnenden 20.Jahrhunderts vor uns lebendig werden zu lassen.
Die bürgerlichen Konventionen und ihre Infragestellung werden thematisiert. So ist Arthur Winslow ein konservativer Patriarch, der
über seine Familie mit milder Autorität herrscht.
Diese Autorität wird von seinem ältesten Sohn Dickie milde und von seiner Tochter Catherine , die engagierte Suffragette und
Sozialistin ist, radikal in Frage gestellt. Aber erst sein jüngster Sohn Ronnie, der zu Unrecht der Schule verwiesen wurde und
hartnäckig seine Unschuld beteuert, veranlasst den alten Winslow selbst dazu, Autoritäten in Frage zu stellen.
Denn in Großbritannien herrschte damals der Grundsatz, dass die Krone kein Unrecht begehen kann und ein Prozess gegen den Staat nur
auf Grund eines Gnadenakts der Krone erlaubt werden kann. Indem Winslow nun die Entscheidung der königlichen Admiralität in
Frage stellt, stellt er dieses uralte Rechtsprinzip in Frage. Das verleiht dem Fall seine Brisanz.
Arthur Winslow geht an diesen Fall heran wie ein britischer Michael Kolhaas. Er will diese Sache auf jeden Fall durchfechten. Während
aber der deutsche Kolhaas durch sein ausgeprägtes Rechtsgefühl zum Räuber und Mörder wird, wird beim Briten
Winslow ein emanzipatorischer Prozess in Gang gesetzt. Er, der vorher ein sanfter und gesprächsbereiter, aber doch autoritärer
Patriarch war, erkennt zunehmend die Freiheit seiner Frau, seiner Kinder und seiner Dienstboten an.
Durch den Sieg im Prozess wird Englands Rechtssystem auf den Kopf gestellt. Der alte Spruch Let right be done erhält
einen neuen und konkreten Inhalt. Der Fall beschäftigt sogar das Parlament. Selbst der Staranwalt Sir Robert Morton, der sich bisher
durch Klagen gegen unliebsame Gewerkschaftsführer einen Namen gemacht hat, vertritt zum ersten Mal die Sache des "kleinen
Mannes" gegen die Mächtigen. Außerdem interessiert sich der konservative Morton, der das Frauenstimmrecht ablehnt,
plötzlich für die Feministin Catherine Winslow…
David Mamet machte sich ursprünglich als Drehbuchautor einen Namen, er schrieb unter anderem das Script für Wag the Dog. Seit
1987 ist er auch als Regisseur tätig und drehte das kleine Meisterwerk Haus der Spiele. Mit Winslow Boy ist ihm ein Film gelungen, der
auf überzeugende Art und Weise den langsamen emanzipatorischen Prozess in einem Land im Spiegel einer Familie darstellt. Im Jahr
1999 ist dieser Film über das Jahr 1912 deshalb interessant, weil dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist, denn der
Unterschied zwischen oben und unten in der Gesellschaft existiert noch immer und kann wohl nur revolutionär überwunden
werden.
Man merkt dem Film an, dass er nach einem Theaterstück gedreht wurde, denn er ist etwas zu dialoglastig. Den SchauspielerInnen gelingt
es jedoch durchweg, die Charaktere differenziert und glaubwürdig darzustellen.
Andreas Bodden