Sozialistische Zeitung |
Puntland nannten die Ägypter ein Staatsgebiet im heutigen Somalia, mit dem sie schon im 3.Jahrtausend
v.u.Z. Handelsbeziehungen pflegten. Wie überall auf dem afrikanischen Kontinent findet sich auch am Horn von Afrika, in
Äthiopien, Eritrea, Somalia und Djibuti eine lange mündliche Erzähltradition. Die Übertragung der Geschichten in
Schriftsprachen ist nicht einfach. Denn am Horn von Afrika werden noch heute über 80 verschiedene Sprachen gesprochen. Die meisten
besitzen keine Schriftform.
Literatur konnte unter diesen Bedingungen nur schwer entstehen. Die ersten schriftlichen Dokumente der äthiopischen Kultur reichen zwar
ins 12.Jahrhundert zurück. Aber erst 1908 erschien ein erster Roman in Amharisch, einer Sprache, die von etwa 20% der Äthiopier
gesprochen wird. Für Somali, seit Jahrhunderten in arabischer Schriftform aufgezeichnet, wurde 1972 ein lateinisches Alphabet
eingeführt. 1974 kam ein erster Roman auf Somali heraus. Mit diesen, zum Teil sehr jungen Schriftsprachen, waren allerdings nur wenige
Leser zu erreichen. Deshalb schreibt Nuruddin Farah, der bekannteste somalische Schriftsteller, auf englisch.
Du sitzt nachdenklich, mit gequälten Zügen und schmerzverzerrter Miene; du sitzt Stunde um Stunde, starrst schlaflos in das Dunkel
und lauschst auf das leise Schnarchen, das aus dem Nebenzimmer herüberdringt. Und du beschwörst eine Vergangenheit. Und aus
eben dieser Vergangenheit taucht ein Mann auf, ein Mann, der in einen weiten, ungeflickten Umhang voller Löcher gehüllt ist, jedes
Loch groß wie ein Fenster - und jedes Fenster groß wie das Geheimnis, an das du dich klammerst, als wäre es die einzige
Seele, die du je besessen. Und jeden Gedanken, der dir durch den Kopf geht, stellst du in Frage, zweifelst du an.
So beginnt der Roman Maps von Nuruddin Farah, das 1992 auch auf Deutsch erschien. In Maps schildert Farah das Schicksal von Askar,
dessen Mutter bei seiner Geburt stirbt und der von Misra aufgezogen wird, mit der ihn eine tiefe Zuneigung verbindet. Die Liebe zu dieser Frau
zerbricht, als Misra beschuldigt wird, einen unentschuldbaren Verrat begangen, nämlich ein Lager somalischer Freiheitskämpfer an
die feindlichen äthiopischen Truppen verraten zu haben. Die Verzweiflung über diesen angeblichen Verrat raubt Askar den
Schlaf:
Es kam ihn Schwäche an aus Mangel an Energie, er ging hölzern umher wie seine Seele. Wieder weigerte er sich zu essen, klagte,
sein Speichel schmecke nach Blut. Seine Augen waren blutunterlaufen vor Schlaflosigkeit. Bis an den Rand der Besessenheit
"hörte" er in seiner Fantasie den lauten Widerhall von Pistolen- und Gewehrschüssen, sah er Männer, Frauen und
Kinder stürzen und unter dem Mündungsfeuer sterben. Sechshundertunddrei Menschen!
Askar wird nicht herausfinden, ob Misra wirklich zur Verräterin geworden ist. Sicher weiß er nur, dass sie sich in einen
Äthopier verliebt hatte. Zur Unzeit, mitten im Krieg zwischen Somalia und Äthiopien. Misra wird zwar von niemandem der
beschuldigten Tat überführt. Aber sie wird dennoch von unbekannten, selbsternannten Rächern ermordet.
Der Terror des Krieges ist eines der Hauptthemen von Nuruddin Farah. In Maps reißt der Krieg die Protagonisten des Romans
auseinander, der zwischen Somalia und Äthiopien um die somalisch-sprachige, aber dem äthiopischen Staatsgebiet zugeschlagene
Provinz Ogaden tobt. In dem Roman Wie eine nackte Nadel stehen die Kämpfe innerhalb Somalias zwischen den handelnden Personen.
Farah selbst musste vor dem somalischen Diktator Siyad Barre ins Ausland fliehen.
In jeder Gemeinschaft, ob man sie nun Clan nennt oder Community, gibt es ein paar Leute, die sagen: Wir sind die Besten. Ich will hier der
Chef sein. Die Leute, die in Somalia ständig im Kampf miteinander liegen, sind bewaffnete Banden und kämpfen um die Macht. Sie
sind an der Macht interessiert. Auf sonst nichts kommt es ihnen an; jede Gruppe, jede Familie, jede Gemeinschaft hat zu den Waffen gegriffen.
Es sind alles Leute unter Waffen, die die Interessen ihrer Führer durchsetzen wollen. Wenn jemand anders, und sei es der eigene Cousin,
gerade mal die Führung innehat, wird er trotzdem bekämpft. Der bekannte Clanführer Adid zum Beispiel kämpfte gegen
seine eigenen Verwandten, er tötete viele von ihnen. Warum er das tat? Sicher nicht, weil es Clan-Solidarität gibt. Es geht um die
Macht. Und jeder, der auch an Macht interessiert ist, wird getötet.
Das sagt Farah über den Bürgerkrieg im Somalia der 90er Jahre, der nach Barres Sturz entbrannte. Die Gier nach Macht
prägt allerdings nicht nur die gesellschaftliche Wirklichkeit Somalias. Nach Ansicht Farahs ist die Grundintention der Mächtigen
überall dieselbe: an der Macht zu bleiben. Die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Macht am Horn von Afrika haben Nuruddin
Farah ins Exil getrieben. Hunderttausende aus Somalia, aus Äthiopien oder Eritrea mussten ebenso ihr Land verlassen.
Flucht ist ein immer wiederkehrendes Thema in der zeitgenössischen Literatur der Länder am Horn von Afrika. Flucht vor den
verbrannten Träumen von Gleichberechtigung und Demokratie, von Gerechtigkeit, Sozialismus und Frieden. Nicht nur Nuruddin Farah
befasst sich damit; Flucht ist ebenso Thema der Erzählungen z.B. von Messeret Chekol und Megdelawit Dedjene Hilletwork aus
Äthiopien, die in deutscher Übersetzung im Sammelband Die Sonnenfrau veröffentlicht sind. Darin geht es um die Flucht aus
der Armut auf dem Land in die vermeintlich reiche Stadt und um die Flucht vor einer der bewaffneten Parteien im Bürgerkrieg - Chekol
und Hilletwork lassen ihren Figuren nur noch ein schmales Fleckchen Hoffnung, auf dem sie überleben.
Auch das Mädchen Aman, so der Titel der Biografie einer Somalierin, erzählt von einer langen Flucht, die aus Somalia heraus
über Kenya bis nach Nordamerika führt. Die Lebensgeschichte von "Aman" haben Virgina Lee Barnes und Janice
Boddy aufgezeichnet.
Am nächsten Tag kamen wir in die Grenzstadt. Wir waren so nah an der Grenze - und wir konnten die Gebäude in Kenya sehen.
Während wir uns alles ansahen - zu Fuß -, trafen wir diese Frau, die wir von zu Hause kannten. Als ich sie sah, Allah! - mir war,
als würde ich meine Mutter sehen. Ich kannte ihre Tochter aus der Zeit, als ich Straßenmädchen in der Großstadt
gewesen war. Ihre Tochter war ein Mischling: halb Italienerin, halb Somali. Sie war nach Nairobi gegangen, und die Mutter versuchte, ein
Papier zu bekommen, damit sie auch nach Kenya gehen konnte. Zu der Zeit brauchte man eine Art Passierschein, einen Erlaubnisschein, um nach
Kenya hineinzukommen. Sie war schon seit drei Monaten in der Grenzstadt und wartete auf diesen Schein.
Viele Schriftsteller, die aus den Ländern am Horn von Afrika stammen, schreiben über Grenzerfahrungen und Flucht. So ist das
Mädchen Aman zuerst vor der Zwangsehe geflohen, die in vielen Gesellschaften Afrikas zum Alltag gehört, dann vor der Armut
und dem Krieg.
Auch Waris Dirie ist geflohen. Sie stammt aus einer somalischen Nomadenfamilie und machte nach ihrer Flucht eine ungewöhnliche
Karriere. Waris Dirie arbeitete lange Jahre als Model für internationale Modezeitschriften und auf den Laufstegen in aller Welt. In ihrer
Autobiografie Wüstenblume erzählt sie, wie sie im Alter von 13 Jahren einfach in die somalische Wüste fortrannte, um der
Zwangsehe mit einem alten Mann zu entgehen.
Dem 13-jährigen Mädchen Waris gelingt die unglaubliche Flucht. Sie schlägt sich bis nach Mogadischu zu Verwandten durch
und kommt schließlich als Haushaltshilfe in London unter. Dort beginnt ihre Karriere als Model und Schauspielerin. Ihre Herkunft aus
Somalia und die Rolle, die ihr als Frau zugeschrieben wurde, hat sie allerdings nie vergessen.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, und man konnte zwar schon die einzelnen Farben erkennen, jedoch noch keine Einzelheiten. Trotzdem
fiel mir auf, dass auf der schartigen Schneide der Klinge Blut klebte. Die Frau spuckte darauf und wischte sie an ihrem Kleid ab. Noch
während sie das tat, verdunkelte sich meine Welt. Meine Mutter hatte mir ein Tuch vor die Augen gebunden.
Dann spürte ich, wie mein Fleisch, meine Geschlechtsteile, fortgeschnitten wurden. Ich hörte den Klang der stumpfen Klinge, die
durch meine Haut fuhr. Ich verlor das Bewusstsein.
Als ich aufwachte, dachte ich, ich hätte es hinter mir, doch da begann erst der schlimmste Teil. Meine Augenbinde war weggerutscht, und
ich sah, dass die Mörderin eine Sammlung Dornen des Akazienbaums neben sich aufgehäuft hatte. Mit den Dornen stach sie mir
Löcher in die Haut, durch die sie einen festen, weißen Zwirn schob, um mich zuzunähen. An diesen Punkt bricht meine
Erinnerung ab.
Dieses grausame Erlebnis erlitt sie als fünfjähriges Mädchen. Heute arbeitet Waris Dirie als Sonderbotschafterin der UNO
gegen die Folter der rituellen Beschneidung. Auch Nuruddin Farah hat sich in seinen Romanen mit dieser Form der Kindesmisshandlung
auseinandergesetzt. Weil ihm das Thema außerordentlich wichtig ist, trägt er bei Lesungen eine entsprechende Passage aus seinem
Roman Maps vor:
Als ich an der Reihe war, befahl der Mann, der geholt worden war, mich zu beschneiden, ich solle mich niedersetzen; er bestand darauf, dass
ich einige Koranverse auswähle und läse, während er ginge, das Messer an einem Stein zu schleifen, den er mitgebracht
habe. Die Angst überwältigte mich - Angst vor dem Schmerz, Angst vor dem Alleinsein. Der klebrige Speichel in meinem Mund,
das Pochen der Angst in meinen Ohren, die Taubheit meines Körpers, wo immer ich ihn berührte: meine Beine, meine
Hände, meine Schenkel, mein Penis, was für ein Schmerz!
Dann befahl mir der Mann, aufzuschauen zu den Himmeln und meine Gedanken ganz auf das zu lenken, was meine Augen dort oben gerade
sähen. Die Wolkendecke war aufgerissen, und ich erspähte einen Vogel, der hoch und rasch auf die Öffnung im Himmel
zuflog. Ich konzentrierte mich auf den Flügelschlag des Vogels, fixierte ihn so lange, bis er nur noch ein Punkt in der himmlischen Ferne
war. Um meine Angst zu verbergen, verwandte ich all meine Energie auf diesen Blick nach dem Vogel, dessen Flug mich an ähnliche
Flüge meiner Fantasie erinnerte. Und ich flog, leicht wie eine Kinderfantasie, unempfänglich für die Wirklichkeiten, die mich
umgaben - und dann plötzlich, wie ein Buschfeuer, zack.
Es ist ein solch furchtbares Territorium, das Land des Schmerzes. Und ich musste es alleine durchqueren. Kann ich mich des Augenblicks noch
erinnern, als der Schmerz sich in meinem Körper einquartierte, in dem er dann einen Monat lang hauste? Er drang durch meine Leisten
ein. Das jedenfalls sagt mir meine Erinnerung. Ich entsinne mich, gedacht zu haben, ich hätte die Erscheinung des Vogels gesehen, und der
Rest der Welt sei klein geworden wie ein Stäubchen im Himmel - als der Mann die Vorhaut an meinem Glied straff zog und erst in
meinen Leisten, dann in allen anderen Teilen meines Körpers einen Schmerz erzeugte, einen Schmerz, so heftig, dass meine Ohren in
glühenden Flammen standen. Langsam breiteten sich die Flammen aus - dann fühlten meine Füße sich wie gefroren an,
meine Augen waren heiß von Tränen, meine Wangen feucht von meinem Weinen, und meine Kehle war trocken wie die
Wüste. Erst dann schaute ich hin und sah das Blut - einen See von Blut, in dessen Wassern ich schwamm, einen See, den ich
durchschwamm, um zum anderen Ufer zu gelangen, um ein Mann zu werden - ein für allemal.
Nuruddin Farah macht die Gewalt gegen Kinder und gegen Frauen mitverantwortlich für die Anfälligkeit afrikanischer
Gesellschaften für politische Gewalt.
Ich glaube, dass wir wegen unserer familiären Zustände in Somalia Diktatoren geradezu hervorbringen. Ich bin wirklich sicher,
dass wir autoritäre Charaktere aus den Familien heraus produzieren. Die Familie ist bei uns die Brutstätte der Autorität. Und
der Grund ist: wenn es innerhalb der Familie keinen Frieden und keine Verständigung gibt, zwischen den Eheleuten nicht, zwischen den
Eltern und den Kindern nicht, zwischen den Geschwistern nicht - dann setzt sich das bis zur gesellschaftlichen Spitze fort. Ich glaube nicht, dass
das Problem in Afrika eines der mangelnden Führungskräfte ist. Ich glaube, die diktatorischen Führer, die wir haben, werden
von unten her aufgebaut.
Wie viele afrikanische Schriftsteller benennt auch Naruddin kolonialistische und imperialistische Ausbeutung, ungerechte
Weltwirtschaftsordnung und das skrupelloses Schüren der Widersprüchen im Innern der Staaten durch Großmächte als
Ursachen für das Leid der Menschen. Und Farah kritisiert vehement die Abschottung Europas gegen die Folgen der europäischen
Politik.
Nun, die Sache, die mich wirklich nervt, ist die: wie ein Gebilde in der Größe der Europäischen Union sagen kann:
"Wir bewachen alle Eingänge nach Europa. Aber wir verlangen von den anderen Völkern, dass sie uns ihre Häuser
öffnen, ihre Türen, ihre Köpfe, ja, dass sie uns ihre Empfindungen öffen. Aber wir, wir erlauben niemanden, zu uns zu
kommen." Das ist weder fair noch gerecht.
Naruddin Farad gehört zu den Menschen, die auf den Austausch zwischen den Kulturen setzen. Er selbst hat in Indien, Italien und England
Philosophie und Literatur studiert, lehrt an verschiedenen Universitäten auf dem afrikanischen Kontinent und hält sich immer
wieder zu langen Studien- und Vortragsreisen in Europa auf. Um so ärgerlicher ist für ihn, dass sich Europa zwar maßgeblich
an der ökonomischen Ausbeutung des Kontinents beteiligt, aber seine Verantwortung für die afrikanischen Problemen leugnet. Er
kritisiert aber auch umgekehrt, wenn Afrikaner die Probleme ihrer Länder gegenüber "Fremden" verharmlosen.
Albrecht Kieser (Rheinisches JournalistInnenbüro)