Sozialistische Zeitung |
Bereits im Mai hast du beim EU-Gegengipfel in Köln auf dem internationalen Workshop des Chemiekreises die finanzielle Krise
in Brasilien geschildert. Wie sieht die Lage im September 1999 aus?
Die Krise in Brasilien hat sich nun vor allem zu einer politischen Krise entwickelt. Die ökonomischen Probleme haben die Regierung
veranlasst, Maßnahmen zu ergreifen, die zu Differenzen bei der sie stützenden politischen Basis, und - noch entscheidender - zu
einem Verschleiß gegenüber der Bevölkerung geführt haben. Mehr als die Hälfte bewerten die Regierungspolitik
als schlecht bis sehr schlecht und nur 14% unterstützen sie. Dies hat politische Krisen zu Folge und führte z.B. zur Entlassung des
Entwicklungsministers.
Auch die öffentlich ausgetragenen Differenzen zwischen den Ministerien führten zur Wiederbelebung der Massenbewegungen. Der
Streik der Lkw-Fahrer vor einigen Wochen; der Marsch der 100.000 in Brasilia; die Aktionen der katholischen Kirche - wie der Schrei der
Ausgeschlossenen (Grito dos excluidos) am 7.September - sind Ausdruck dieser Belebung. Diese Kampagnen wirken auf die Regierung, sie
unterminieren ihre Fähigkeit zu regieren und führen zur weiteren ökonomischen Instabilität, die wiederum die
politische Krise nährt.
Ende August hat der Beirat der CUT einen Generalstreik und den Rücktritt des Präsidenten gefordert. Wie bewertest du die
gefassten Beschlüsse?
Die Entscheidungen spiegeln zum einen die Veränderung der politischen Landschaft in Brasilien wider. Sie beruhen aber vor allem auf
einem starken Druck von unten, der auch die Basis der Mehrheitsströmung Articulacao einschließt. Die Begrenzung auf die vom
CUT-Vorstand verfolgte Strategie, die Regierung nur zu kritisieren und zu einem Kurswechsel zu bewegen, konnte nicht beibehalten werden.
Unabhängig davon sind die Beschlüsse, sowohl der Generalstreik als auch die Rücktrittsforderung, sehr wichtig. Sollten sie
umgesetzt werden, könnten sie den Widerstand der brasilianischen Arbeiter in einen Kampf gegen den Neoliberalismus im Allgemeinen
weiterentwickeln. Daher ist jetzt unsere zentrale Aufgabe, die Beschlüsse mit Leben zu füllen.
Am 26.August fand der Marsch der 100.000 statt. Es waren nicht ganz so viele Demonstranten, eher 80.000. Lula, der Ehrenvorsitzende der
Arbeiterpartei (PT), sprach in seinem Beitrag vom Vollmond auf der beschwerlichen Busreise, die die meisten die Nacht vorher auf sich
genommen hatten, und wie gut es sei, dass alles friedlich verlaufen ist. Politische Alternativen habe ich vermisst. Wie schätzt du die
politische Bedeutung des Marschs ein?
Der Marsch war außerordentlich wichtig. Erstens, weil er eine Veränderung bei den Arbeitern ausdrückte: sie sind bereit,
etwas gegen die Regierung zu unternehmen. Es war eine große, belebende und radikale Demonstration - die am meisten gerufene
Forderung war "Weg mit dem Präsidenten Fernando Henrique Cardoso". Zweitens festigt sie das Vertrauen in die
fortschrittlichen Kräfte im Land und war ein Signal für die Fortsetzung des Kampfes. Drittens war sie wichtig, weil sie die
Regierung im Visier hat und damit auch die neoliberalen Inhalte der Regierungspolitik in Frage stellt.
Die Reden von Vicentinho, dem Vorsitzenden der CUT, der nicht einmal den gerade beschlossenen Generalstreik erwähnte, und auch die
des Ehrenvorsitzenden Lula spiegeln die Strategie der PT-Mehrheit wider. Sie wollen die Regierung nicht absetzen, sondern sie sich nur
verausgaben lassen, um sich selbst für den Wahlkampf im Jahre 2002 vorzubereiten. Diese hartnäckig verfolgte Strategie
drückt sich im Festhalten an den formalen Regularien, im Diskurs ihrer führenden Leute und im Fehlen einer konsistenten
Orientierung für die Weiterführung der Kämpfe aus.
Was werden die nächsten Kämpfe sein?
Die nächsten geplanten Aktivitäten sind zum einen der Generalstreik Ende Oktober, zum anderen die Aktionen im Zusammenhang
mit den Lohnrunden bei den Metallern, den Erdölarbeitern, den Chemiebeschäftigten, sowie den Bankangestellten. Bei den
Tarifverhandlungen dieser Branchen wird es zweifellos zu wichtigen Mobilisierungen und Streiks kommen, die sich auch gegen die Regierung
richten werden.
Nicht nur in Brasilien gibt es zunehmend Kritik an neoliberaler Regierungspolitik und Widerstand in der Bevölkerung. Wie siehst du
die Lage in anderen Ländern Südamerikas?
Die politische Lage Brasiliens fügt sich in eine allgemeine politische Instabilität und ein Anwachsen von Widerstand im gesamten
Südamerika ein. In Kolumbien gibt es eine Sackgasse zwischen der Regierung und den bewaffneten Aufständischen, die verbunden
mit der ökonomischen Krise das Land in eine der tiefsten Krise seiner Geschichte gestürzt hat. Es gibt ein Aufflammen der
städtischen Arbeiterkämpfe, z.B. beim Generalstreik am 31.August.
Diese Krise und die politische Instabilität dehnen sich - wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau - ebenfalls auf Argentinien,
Brasilien, Bolivien usw. aus. Das ist ein klarer Ausdruck für die Verschärfung der sozialen Auseinandersetzungen in der gesamten
Region und letztendlich auch der wahre Grund für die nordamerikanischen Offensive, die eine militärische Intervention mit den
Verhältnissen in Kolumbien zu rechtfertigen versucht. Die USA haben Sorge, die politische Kontrolle in der Region zu verlieren und mit
ihr die Möglichkeit, die Kontinuität des neoliberalen Projekts in Südamerika zu gewährleisten. Auch aus diesem Grund
ist der Kampf gegen eine nordamerikanische Intervention in Kolumbien unser aller Kampf.