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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.21 vom 14.10.1999, Seite 4

Beschleunigte Halbwertzeit

Vieles von dem, was Oskar Lafontaine über die ersten Monate von "Rot-Grün", über die Intrigen der Schröder-Hombach-Clique und über die Macht des alten Staatsapparats schreibt, dient der Aufklärung.
Nehmen wir das Beispiel Krieg und Frieden. So egozentrisch große Teile des Buchs zu sein scheinen, so gibt es dort doch auch Passagen, die Lafontaines Image als jemand, der alles anders gemacht hätte, ankratzen. So bestätigt Lafontaine im Wesentlichen, dass die US-Regierung bereits im Oktober 1998, noch vor der Vereidigung der SPD- Grünen-Bundesregierung, das Ja der führenden Köpfe von Rot-Grün zu einem Kosovo-Krieg ohne UN-Mandat abverlangte. Schröder, Fischer und Lafontaine gaben dieses prinzipielle Ja zum Angriffskrieg. Lafontaine ließ sich nur bestätigen, dass für eine letzte Entscheidung der Bundestag befragt werden müsste (was dann real nicht stattfand). Dennoch war auch Lafontaine in diese Entscheidung eingebunden, was sicherlich erklärt, dass seine Kritik an diesem Aspekt der Schröder- Politik eher dezent ausfällt. Das war im übrigen seit dem 1.Mai 1999 bekannt, als Lafontaine auf der DGB-Demo in Saarbrücken, mitten während des Krieges, keine eindeutige Kritik am NATO-Krieg übte.
Das Verfahren, mit dem dieses Ja zum Krieg von Rot-Grün eingeholt und umgesetzt wurde, entspricht dem Bild, das in einer marxistischen Klippschule von der parlamentarischen Demokratie gezeichnet wird: Die neue Regierung ist erst gewählt und noch nicht im Amt; die Führungsmacht USA will eine Vorabzusage für ein deutsches Ja zum Angriffskrieg. All dies wurde noch von Rühe, über seine "Buddys", seine alten Kumpel in Washington, eingestielt. Und so funktioniert es auch: allein über zusagen von Spitze (in den USA) zu Spitze (in der BRD). Ohne Einschaltung der Parteigremien. Ohne Einschaltung des Parlaments. Und, besonders brisant: Zu einem Zeitpunkt, wo gerade das Holbrooke-Milosevic-Abkommen vereinbart wurde, wonach 2000 OSZE-Beobachter im Kosovo zur Befriedung beitragen sollten. Diesem Test auf eine friedliche Lösung wurde weder in Washington noch in Bonn eine ernsthafte Chance eingeräumt.
Eine Frage allerdings wird völlig unzureichend im Buch behandelt und nicht in der Öffentlichkeit debattiert: Warum scheiterten Lafontaine und eine gemäßigte Reformpolitik wirklich? Waren es wirklich in erster Linie die Intrigen, die Lafontaine zu Fall brachten? Warum obsiegte Schröder, obwohl er, laut Lafontaine, "es nicht kann"? Lafontaines Erklärungen sind da eher hilflos. Immerhin hatte er als Parteivorsitzender und als Finanzminister mit weit ausgebautem Ressort eine erhebliche Macht hinter sich. Auch überzeugt nur zum Teil, dass Lafontaine "es satt" hatte und seinen persönlichen Frieden wollte. Das passt nicht zu ganz zu seinem Ehrgeiz. Er muss schon gefühlt haben, dass der Spielraum für die von ihm gewünschte gemäßigte Reformpolitik nicht gegeben war, dass er auf mittlere Sicht verlieren würde. Nicht weil Schröder/Hombach so gut, sondern weil andere Mächte im Spiel waren.
Hier hilft ein Blick in die Geschichte. Als 1969 die erste SPD- geführte Regierung antrat, dauerte die Reformpolitik knapp fünf Jahre - bis zum Rücktritt Willy Brandts 1974 und zum Beginn der Kanzlerschaft Helmut Schmidts. 1998 hielt sich der Reformansatz unter Lafontaine und Riester nur fünf Monate. Die Gründe sind nicht in den Personen zu suchen (im Gegenteil: Brandt wäre ein Rückzug aus persönlichen Motiven weit eher zuzutrauen gewesen als Lafontaine). Vielmehr liegen die Ursachen für die radikal verkürzte politische Halbwertzeit dieser Reformansätze auf zwei anderen Ebenen:
- Zum einen auf der materiellen Ebene. 1969 gab es gerade mal 250000 Erwerbslose; weniger als ein Zehntel der Zahl, die heute allein in den alten Ländern ohne Job ist. Und 1969 machte die öffentliche Schuld gerade mal 16% des Bruttoinlandsprodukts aus. Heute sind es mit 2300 Milliarden Mark 62% des BIP. Der materielle Spielraum für eine Reformpolitik ist aus bürgerlicher Sicht radikal eingeschränkt.
- Zum zweiten aber, und das ist entscheidend: 1969ff. gab es massiven Druck von unten, der den Reformkurs stärkte bzw. die Regierenden immer wieder dazu zwang, einen nicht allzu unternehmerfreundlichen und gewerkschaftsfeindlichen Kurs einzuschlagen. Es gab die Ausläufer der Studentenrevolte. Es gab "wilde" (nicht gewerkschaftlich kontrollierte) Streiks 1969 und 1973. Und es gab eine aktive Tarifpolitik der Gewerkschaften.
1998/99 gab es und gibt es die Erwartungen von Millionen SPD- Grünen-Wählerinnen und -Wählern, dass eine fortschrittliche Reformpolitik umgesetzt wird. Doch Bewegungen, Druck von unten, gibt es in dieser Richtung nicht. Das hat letzten Endes dazu beigetragen, dass die Hoffnungen in Rot-Grün so schnell enttäuscht wurden.
Winfried Wolf
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