Sozialistische Zeitung |
Am 13. und 14.November versammeln sich die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit,
ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung in Brüssel wieder zu ihrer jährlichen europaweiten Koordination. Nach
ihrer Konsolidierung durch die Schaffung eines Netzwerks, das mit der zweiten Großdemonstration Ende Mai in Köln seine
Aktionsfähigkeit unter Beweis gestellt hat, müssen sie sich diesmal neuen Herausforderungen stellen: den enttäuschten
Erwartungen in sozialdemokratische Regierungen und der Fortsetzung der konservativen Sparpolitik mit neuen Akzenten.
Als die Euromärsche sich vor drei Jahren gebildet haben, hatten sie
ein einfaches Ziel: auf den Missstand hinzuweisen, dass die Entwürfe für das Vertragswerk von Amsterdam mit keinem Wort auf
die Massenerwerbslosigkeit und die verbreitete soziale Ausgrenzung in Europa eingingen.
Erwerbsloseninitiativen und linke Gewerkschaftsgruppen trafen sich
deshalb am Rande der EU-Gipfel in Turin und Florenz, um geeignete Protestaktionen zu verabreden. Sie sollten die europäische
Öffentlichkeit aufrütteln und auf den Skandal hinweisen, dass das Europa, das da geplant wurde, zwar eine Wirtschafts- und
Währungsunion vorsah, die sozialen Probleme aber vollkommen ignorierte.
So einfach war die Botschaft, und die kam rüber. Gestützt auf
die Streiks in Frankreich im öffentlichen Dienst und den davon ausgehenden Aufschwung der Erwerbslosenbewegung in mehreren
europäischen Ländern gaben die Märsche dieser Bewegung europaweit eine Stimme und ein Gesicht und formulierten in
einem einfachen Dreischritt, wie die Erwerbslosigkeit aus ihrer Sicht zu überwinden sei: radikale Arbeitszeitverkürzung; ein
Mindesteinkommen, das ein Leben in Würde ermöglicht; öffentliche Beschäftigungsprogramme. Die
sozialdemokratisch geführte Regierung Frankreichs fühlte sich unter Druck gesetzt; sie griff zwar nicht diese Forderungen auf,
setzte aber ein Beschäftigungskapitel im Vertrag und einen gesonderten Beschäftigungsgipfel ein Vierteljahr später in
Luxemburg durch.
Seitdem wird in der EU Beschäftigungspolitik gemacht, aber welche?
Der Prozess von Luxemburg
Das Beschäftigungskapitel im Amsterdamer Vertrag formulierte das
Ziel der EU-offiziellen Beschäftigungspolitik: Es soll in der EU ein hoher Beschäftigungsgrad geschaffen und eine koordinierte
Beschäftigungsstrategie ausgearbeitet werden, die mit den wirtschafts- und währungspolitischen Vorgaben kompatibel - d.h. ihnen
untergeordnet ist. Gleichzeitig wurde jedem Ansinnen, EU-weite Beschäftigungsprogramme einzurichten, eine Abfuhr erteilt - auch der
französische Premier Lionel Jospin ging in Amsterdam mit einem entsprechenden Vorschlag baden.
Beschäftigungspolitik bleibt weiterhin die Aufgabe der
Nationalstaaten. Weil ihre Wirtschaftspolitik jedoch vereinheitlicht und die Beschäftigungspolitik Haushalts- und
Stabilitätskriterien untergeordnet wird, hat die EU damit ein Instrument geschaffen, indirekt auch auf die Arbeitsmarktpolitik der
Einzelstaaten einzuwirken.
Der "Prozess", der dies bewirkt, wurde auf dem
Beschäftigungsgipfel in Luxemburg vereinbart. Die Einzelstaaten sind nunmehr angehalten, im ersten Halbjahr eines jeden Jahres
nationale Aktionspläne für eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu erarbeiten und der EU-Kommission vorzulegen. Diese sichtet das
Material und präsentiert im 3.Quartal eines jeden Jahres einen eigenen Kommissionsbericht - die "beschäftigunsgpolitischen
Leitlinien" (siehe Artikel auf dieser Seite).
Im 4.Quartal gibt der Europäische Rat auf dieser Grundlage
Empfehlungen aus, die das Ziel verfolgen, die Beschäftigungspolitik der Mitgliedsländer einander anzupassen. Ohne dass die EU-
Kommission irgendeinen beschäftigungswirksamen Beschluss fällen würde, arbeitet sie damit doch als
Regulierungsbehörde, die tatsächlich Vorschriften macht und Druck ausübt.
In Luxemburg wurde auch beschlossen, nach welchen Kriterien sich
Beschäftigungspolitik in der EU richten soll, der Reihe nach sind es: die Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit der
Erwerbslosen; die Stärkung ihre Unternehmergeistes; die Stärkung ihrer Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen des
Arbeitsmarkts; die Erhöhung von Chancengleichheit.
Anders als bei der klassischen Arbeitsmarktpolitik geht es hierbei nicht
darum, dem Erwerbssuchenden den Arbeitsplatz zu vermitteln, der seiner Qualifikation und seinen bisherigen Leistungen angemessen ist,
sondern umgekehrt den Erwerbssuchenden an die Bedingungen anzupassen, die gerade auf dem Arbeitsmarkt vorherrschen.
"Vollbeschäftigung" zu schaffen liegt damit nicht mehr in
der Verantwortung der Unternehmer oder des Staates, ist auch nur noch indirekt ein Ziel staatlicher Politik. Vielmehr ist es die Schuld des
Einzelnen, wenn er nicht willens oder in der Lage ist, jeden Job anzunehmen, der ihm geboten wird. Die neoliberale Doktrin, dass es
Arbeitslosigkeit eigentlich nicht gibt, nur ein zu wenig marktgängiges Angebot an Arbeitskräften, ist hier passgenau mit der SPD-
Parole "Arbeit, Arbeit, Arbeit!" (zu jeder Bedingung und jedem Preis).
Kombilohnmodelle, Arbeitszwang und Schaffung von Billigjobs sind die
Schlagworte für diese neue Arbeitsmarktpolitik; was in Großbritannien als workfare vorexerziert wurde, muss in Ländern
wie Deutschland gesetzlich und auf Verwaltungsebene noch durchgesetzt werden. In Hessen, im Saarland und in NRW wurden
"Modellversuche" dazu gestartet.
Wie das Beispiel MacDonalds in Köln zeigt (siehe SoZ
20/99) verändert sich auch die Rolle der Arbeitsämter; diese sind angehalten, in Erwerbslosen nunmehr von vornherein eher
Schmarotzer als Notleidende zu sehen. Es gibt sogar Versuche, Gemeinden, die mit ihren Mitbürgern so nicht umspringen wollen und
selber Arbeitsplätze zu schaffen suchen, dies entweder über die Haushaltspolitik (Stichwort: Verschuldung) oder direkt (Stichwort:
unlautere Subventionierung) zu untersagen.
Der Kölner Prozess
Auf dem Kölner EU-Gipfel wurde diesem Ansatz eine neue
Dimension hinzugefügt: die Einbindung der Gewerkschaften in das europäische Pendant des Bündnisses für Arbeit.
Der "Sozialpakt" ist ein Gremium aus Europäischem Rat, EU-Kommission, Unternehmerverband, Europäischer
Gewerkschaftsbund und… der Europäischen Zentralbank.
Sein Zweck ist auch nicht allein die Schaffung von Beschäftigung,
sondern "die Koordinierung von sozialen, finanziellen, wirtschafts- und steuerpolitischen Maßnahmen". Die Gewerkschaften
werden damit nicht als Sozialpartner angesprochen, die den Faktor Arbeit und dessen Interessen vertreten, sondern als gesellschaftlich
einflussreiche Organisationen, die das Gesamtpaket aus Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik mittragen und gegenüber
ihren Mitgliedern durchsetzen sollen.
In Köln wurde auch ein Prozess angestoßen, der im ersten
Halbjahr 2000, wenn Portugal den Vorsitz führt, in einen gesonderten EU-Sozialgipfel münden soll: nämlich die
Zusammenführung von Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Es geht darum, dass die bestehenden Sozialsysteme in der EU
"beschäftigungsfreundlich" gemacht, d.h. die Alten, Kranken, Erwerbslosen, Behinderten, Obdachlosen usw. möglichst
lange von der Inanspruchnahme von Sozialleistungen ferngehalten werden. Im einzelnen fordert die EU-Kommission:
- eine höhere Erwerbstätigenquote (also mehr Arbeitszwang
für Vorruheständler, Jugendliche, Langzeitarbeitslose);
- die Kopplung von sozialen Leistungen an die Verfügbarkeit
für den Arbeitsmarkt;
- die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters;
- die Umstellung der Rentenversicherungen auf private Vorsorge; - es ist
angestrebt, nur noch eine Mindestrente auszuzahlen; Vorruhestand soll nur noch unter Inkaufnahme entsprechenden Rentenverlusts möglich
sein;
- die enge Koordination und Zusammenarbeit von Arbeitsverwaltung und
Sozialverwaltungen;
- die Senkung der Abgabenlasten für Unternehmer.
Die sozialen Sicherungssysteme gelten hier nicht mehr als Hilfe in der Not,
die die abhängig Beschäftigten aus ihren Beiträgen finanzieren und auf die sie einen Anspruch haben. Sie werden
umfunktioniert zu einem Instrument, die allseitige Verfügbarkeit von Lohnabhängigen für die kapitalistische Verwertung
herzustellen. In allen Bereichen der Sozialversicherung soll der Staat nur noch für eine "Mindestsicherung" aufkommen,
ähnlich der Armenfürsorge aus der Anfangszeit des Kapitalismus, die nur den Zweck verfolgte, die Menschen daran zu hindern, vor
Hunger zu sterben.
Bündnisse
Die Euromärsche stellt diese Entwicklung vor neue
Herausforderungen. Die Erwerbslosen werden mit neuen Angriffen konfrontiert, die darauf abzielen, sie selbst für die Erwerbslosigkeit
verantwortlich zu machen. Weil die Regierungspolitik einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens aufzubauen versucht, dass "gespart
werden muss" und jede(r) angehalten sei, seinen/ihren Beitrag dazu zu leisten, wird damit auch die Entsolidarisierung der
Erwerbstätigen gegenüber den Erwerbslosen befördert.
Das Sparpaket der Schröder-Regierung ist selber ein Ausdruck
gezielter Spaltungspolitik: die steuerlichen Vergünstigungen, die dort für untere Einkommen vorgesehen sind, können
für BezieherInnen sozialer Leistungen gar nicht wirksam werden, weil sie keine Steuern zahlen.
Ein anderes Instrument ist das Bündnis für Arbeit, und es hat
bereits gewirkt: anders als im vergangenen Jahr unterstützt der DGB in diesem Herbst nicht den Aufruf der Erwerbslosenverbände
für Aktionen gegen das Sparpaket anlässlich des Weltspartags. Die Erwerbslosen werden diesmal nur von einigen
Einzelgewerkschaften unterstützt und auch das, steht zu befürchten, wird weitgehend Papier bleiben.
Andererseits machen die Beispiele Citibank und MacDonalds auch
klar, dass Billiglohn und Arbeitszwang nur zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Der Ansatz der Märsche, ein gemeinsames Netz
von Erwerbslosen, sozialen Initiativen und Gewerkschaften gegen Arbeitslosigkeit aufzubauen, erweist sich prinzipiell als richtig und als
ausbaufähige Grundlage, um der Spaltung eine gemeinsame Abwehrfront entgegenzusetzen.
Der europäische Aktionstag gegen Billiglohn und Arbeitszwang am
10.Dezember bietet die Möglichkeit, diese Zusammenarbeit vor Ort zu stärken. Die Anti-Sparaktionen Ende Oktober wiederum
bieten die Gelegenheit zu gemeinsamen Mobilisierungen mit den Rentnern.
Angela Klein
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