Sozialistische Zeitung |
Am 22.September hat der auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Vorsitzende der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, angekündigt, die PKK beabsichtige, eine Friedensdelegation zu entsenden, die mit der
türkischen Seite die Bedingungen für eine Waffenübergabe durch die Guerilla aushandeln solle. Im Prinzip sei die Guerilla
bereit, die Waffen niederzulegen, um sich in eine "demokratische Republik" zu integrieren, die jedoch noch geschaffen werden
müsse. Dies sei u.a. die Aufgabe der Friedensdelegation, präzisierte Öcalan wenige Tage später.
Am 1.Oktober war es schließlich soweit. Aus Südkurdistan
kommend, sollte die Guerillagruppe im Beisein der Anwälte und zahlreicher MedienvertreterInnen in einem symbolischen Akt ihre
Waffen übergeben und fortan als Ansprechpartnerin für die Beteiligung an einem Friedens- und Demokratisierungsprozess zur
Verfügung stehen.
Vergeblich hatten die Anwälte in den Vortagen versucht, staatliche
Garantien für die Delegation zu erhalten. "Sie können jederzeit auftauchen", hatte einer der Anwälte zuvor
gegenüber der Presse erklärt, "aber wenn wir nicht teilnehmen dürfen, werden sie nicht kommen. Wir erwarten eine
Antwort der staatlichen Autoritäten." Die blieb jedoch aus.
Stattdessen überzog der türkische Staat das Land mit einer
erneuten Repressionswelle und begann eine weitere Militäroffensive in Südkurdistan. 5000 Soldaten stießen rund 80
Kilometer tief auf irakisches Territorium vor und griffen dort mit schwerem Kriegsgerät Stellungen der auf dem Rückzug
befindlichen Guerillaeinheiten an. Man nehme die Friedensbekundungen der PKK nicht ernst, schließe Verhandlungen mit den Rebellen
kategorisch aus und werde diese verfolgen, "bis der letzte Terrorist neutralisiert ist", ließ die Armeeführung begleitend
zur Invasion verlauten.
"Es sieht so aus, dass der türkische Generalstab auf seiner
Linie des Krieges statt des Friedens, der Kapitulation statt der Freiheit, der Unterdrückung und Zerstörung statt der Demokratie
beharrt", konterte der Präsidialrat der PKK.
"Wir handeln opferbereit für Frieden und Demokratie, aber wir
lehnen die Kapitulation ab. Wir haben die Kapitulation in der Vergangenheit abgelehnt, lehnen sie weiterhin ab und werden sie auch in Zukunft
ablehnen."
Stattdessen fordert der Präsidialrat einen "würdigen
Weg" des Friedens.
Die türkische Regierung verschärfte die Repression auch im
Westen der Türkei. Gleichzeitig nahmen auch in der zweiten Septemberhälfte die Stimmen zu, die sich öffentlich für
einen Friedensprozess stark machen. VertreterInnen von 223 Nichtregierungsorganisationen, Berufsverbänden, Parteien,
Menschenrechtsgruppen, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Handelskammern aus den kurdischen Provinzen traten mit einer
"Deklaration für Frieden und Demokratie" an die Öffentlichkeit.
"Wir verteidigen die gerechte, friedliche und demokratische
Lösung unserer geschwisterlichen Probleme. Wir fordern, dass die Waffen schweigen, dass kein geschwisterliches Blut von Kurden und
Türken mehr fließt und dass die gemeinsamen Leiden gelindert werden. Wir erklären der Öffentlichkeit, dass wir jede
friedliche gewaltfreie Initiative, die zur Lösung unserer Probleme ergriffen wird, unterstützen", heißt es in der
Erklärung, die einen Friedensplan in sieben Schritten vorlegt.
Der zum Besuch des italienischen Außenministers Lamberto Dini auf
Bewährung zum achten Mal aus der Haft entlassene prominente politische Gefangene Ismail Besikci kritisierte in einer
Presseerklärung: "Vom Gesichtspunkt der Meinungs- und der Pressefreiheit ist dieses Amnestiegesetz eine Schande. Welche
Vorbedingungen fordert das Gesetz? Dass man drei Jahre lang weder denkt noch schreibt. Menschliches Denken aber kann nicht
unterdrückt werden."
Auch der ehemalige Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Akin
Birdal, dem pünktlich zum Besuch von Ministerpräsident Ecevit in den USA eine dreimonatige Haftunterbrechung aus
Gesundheitsgründen zuteil wurde, forderte sofort nach seiner Entlassung eine Generalamnestie und erklärte, trotz seiner Freilassung
verweile sein Herz bei Esber Yagmurdereli, bei Leyla Zana und den 10.000 weiteren politischen Häftlingen.
Die Gefängnisrevolte
Gerade für die politischen Gefangenen wurden die letzten Wochen zu
einer verlustreichen Kraftprobe mit der staatlichen Repression. Im Ulucer-Gefängnis in Ankara ermordeten am 26.September
Angehörige von Spezialeinheiten der "Jandarma" elf Häftlinge und verletzten mehr als achtzig Gefangene, teilweise
schwer.
Eine Durchsuchungsaktion, die einen von den Gefangenen gegrabenen
Tunnel entdeckt habe, sei auf bewaffneten Widerstand gestoßen, lautete die offizielle Erklärung. Der Tunnel war jedoch bereits vor
drei Monaten entdeckt worden. Es gab auch keine Opfer auf Seiten der "Jandarma". Diese beschlagnahmte lediglich Holzgewehre,
die einige Gefangene mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft für ein Theaterstück angefertigt hatten.
In Wahrheit sollten die Gefangenen in einer großangelegten Aktion in
Einzelzellen zwangsverlegt werden. Auf einer Pressekonferenz der AnwältInnen der Angehörigen der Ermordeten hieß es
dazu unter Berufung auf Augenzeugen:
"Sie haben mit der Operation um 4 Uhr morgens begonnen. Die
Gefangenen wurden weder vorgewarnt, noch gab es irgendwelche Aufforderungen an sie. Die Operation war genau geplant, auch wer dabei
getötet und wer in welches Gefängnis zwangsverlegt werden sollte. Zuerst wurden Löcher in das Dach des
Gefängnisses gerissen, durch die Handgranaten und Gasbomben geworfen und Schaum eingespritzt wurde. Von den Wachtürmen
aus wurde auf die Gefangenen geschossen. Die Gefangenen begannen, zum Zweck der Selbstverteidigung Barrikaden zu errichten. Kräfte
eines Spezialteams gingen rein, schlugen die Gefangenen mit Eisenstangen, Knüppeln und Waffen. Danach schleppten Soldaten vier
Häftlinge gewaltsam von den anderen weg und brachten sie ins Bad, wo sie sie nackt auszogen und folterten. An den Folterungen an
diesen bewusst ausgewählten vier Gefangenen waren die Gefängnisdirektoren und ein Schließer beteiligt. Nach
achtstündiger Folter wurden die vier erschossen. Die anderen Gefangenen verließen zwischen 10.30 und 12 Uhr die Zellen. Dabei
schlugen die Soldaten mit Eisenstangen und Knüppeln auf sie ein. Vier weitere erlitten tödliche Verletzungen. Zahlreichen
Gefangenen mit Schusswunden wird nach wie vor die medizinische Behandlung verweigert. Ärzte, die die in Krankenhäuser
verlegten Verletzten behandeln wollten, wurden von den Bewachern daran gehindert." Die Behörden hinderten Angehörige
und VerteidigerInnen auch daran, der Autopsie der Leichen beizuwohnen.
Daraufhin griff die Gefangenenrevolte auf neun weitere Haftanstalten
über. Dort wurden insgesamt 114 Gefängniswärter als Geiseln genommen. Protestdemonstrationen wurden mit Gewalt
aufgelöst. Unter den mehr als 130 Verhafteten befanden sich auch zahlreiche Anwälte und Mitglieder des IHD. Das Büro des
Menschenrechtsvereins wurde von Polizeieinheiten überfallen und mehr als zwei Stunden besetzt.
Erst nach fast einer Woche konnte der Gefangenenaufstand unter
Einschaltung neutraler Vermittler beendet werden. Die Gefangenen erhielten die Zusicherung einer gerichtlichen Untersuchung des Massakers.
In der steigenden Repression zeigt sich die Angst der Generäle vor
dem drohenden Verlust der Kontrolle über die öffentlichen Forderungen nach Demokratisierung. "Elf Menschen wurden
ermordet, um zu zeigen, dass die durch das Erdbeben überforderte Regierung immer noch da ist, dass sie töten kann, wenn sie es
wünscht", klagte Akin Birdal. Auch Abdullah Öcalan sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus und wies
darauf hin, dass die "bitteren Ereignisse erneut die Notwendigkeit gezeigt haben, Probleme auf friedlichem Wege und durch Dialog zu
lösen".
Jenen Dialog sollte die Friedensdelegation voranbringen, die am 1.Oktober
in Geleyesin nahe der irakischen Grenze eintraf. Doch statt eines Verhandlungspartners erwartete sie die Abführung nach Van, wo sie
vier Tage lang verhört und anschließend dem Haftrichter vorgeführt wurde.
Vertreter des türkischen Staates erklärten, die Delegation
werde behandelt wie "ganz normale Terroristen", die sich bestenfalls von dem jüngst verabschiedeten
"Reuegesetz" Gebrauch machen könnten. Die Gruppe erklärte später: "Dass wir uns ergeben haben, sollte
nicht als Kapitulation oder Reue missverstanden werden."
Knut Rauchfuss
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