Sozialistische Zeitung |
Wie schätzen Sie die innenpolitischen Auswirkungen der NATO-Bombardierungen in Jugoslawien ein? Wurde Milosevic
letztlich doch geschwächt, wie man angesichts der Demonstrationen der letzten Wochen meinen könnte, oder hat er seine
Machtbasis verbreitern können, wie Oppositionelle während des Kriegs warnten?
Dragomir Olujic: Zunächst würde ich sagen, dass
Milosevic und seine Regierung am meisten von den NATO-Luftangriffen profitiert haben. Die Folgen der Luftangriffe sind ganz andere als die
NATO damals als ihre Ziele deklarierte. Erklärtes Ziel war, die jugoslawische Armee zu treffen, das Regime zu schwächen und
die Kriegsverbrechen an den Kosovo-Albanern zu verhindern. Erreicht wurde stattdessen, dass Milosevic gestärkt wurde. Der politische
Abstand zwischen der Bevölkerung und der Regierung ist geringer geworden. Die serbische Gesellschaft hat sich vereinheitlicht. Alle
sogenannten oppositionellen Parteien standen dem Regime während der Luftangriffe zur Seite, nahmen teilweise sogar noch radikalere
nationalistische Positionen ein. Am treffendsten hat Arkan* die Situation beschrieben, als er erklärte: "Jetzt sind wir alle
Milosevic."
Auch die humanitäre Katastrophe im Kosovo wurde nicht verhindert,
sondern verschlimmert. Entgegen allen Beteuerungen hat die NATO die serbische Kriegsmaschinerie nicht entscheidend geschlagen. Parallel zu
den Bombardierungen der NATO haben die serbische Polizei, die Armee und die paramilitärischen Einheiten etwa zehntausend
namentlich bekannte Kosovo-Albaner umgebracht. 7000 Albaner sitzen bis heute in serbischen Gefängnissen. Es handelt sich dabei
hauptsächlich um junge Menschen.
Aber zeigen nicht die Demonstrationen der letzten Wochen, dass die Unzufriedenheit in Serbien wächst?
Die sogenannte Opposition, also Vuk Draskovics Serbische
Erneuerungsbewegung und Goran Djindjics Demokratische Partei, hat in meinen Augen ihre Glaubwürdigkeit schon vor dem
Kosovokrieg verloren. In ihrer Haltung zur Kosovofrage unterscheiden sie sich nicht wesentlich von der Regierung. Das zeigt sich gerade jetzt
wieder bei den aktuellen Demonstrationen. Die Parole dort lautet: "Milosevic - du hast Serbien verraten und verkauft". Eine Kritik
am brutalen Vorgehen gegen die Kosovo-Albaner ist nicht zu hören.
Vuk Draskovic war während des Krieges Mitglied der Regierung und
hat mit keinem Wort das Vorgehen der jugoslawischen Armee im Kosovo verurteilt, im Gegenteil. Auch nach dem Krieg hat er sich nie von den
Verbrechen distanziert. Ein serbischer Soldat sei zu solchen Grausamkeiten gar nicht fähig, sagt er.
Auch Goran Djindjic ist ein guter Rhetoriker. Er vertritt dieselbe Position,
kleidet sie aber in elegantere Worte. Bei Djindjic muss man auch im Hinterkopf haben, dass er sich am Ende des Bosnienkriegs mit Radovan
Karadzic, dem serbisch-nationalistischen Führer in Bosnien-Herzegovina, verbrüdert hat. Karadzic war für unzählige
Kriegsverbrechen verantwortlich, und jeder wusste das. Das haben sich die Leute gemerkt.
Die Opposition hat sich selbst besiegt. Zunächst durch ihre Rolle bei
den Demonstrationen gegen den Wahlbetrug im Winter 1996/97 und dann durch ihre Politik auf lokaler Ebene. Sie hat nämlich keines der
Wahlversprechen gehalten, die sie der Bewegung gegeben hat. Teilweise waren ihre Leute schlimmer als die Sozialistische Partei von
Milosevic. Das Versagen der Opposition ist ein Grund dafür, warum sich in Serbien so wenig Menschen mit Politik beschäftigen
und aktiv einsetzen wollen. Der wichtigste Grund ist allerdings die schlimme soziale Lage in Serbien.
Dennoch konnte die Opposition teilweise bis zu hunderttausend Menschen mobilisieren ...
Ja, aber bei der Demonstration am 21.August, der ein wichtiger
orthodoxer Feiertag ist, hat sich der desolate Zustand der Opposition deutlich gezeigt. Etwa 80.000 bis 100.000 Teilnehmer kamen zur
Demonstration. Zuerst trat Prof. Mladjen Dinkic von der G17 (eine Gruppe von liberalen Wirtschaftsexperten) auf die Bühne, dann folgte
Djindjic und zum Schluss Draskovic. Alle drei widersprachen sich völlig in ihren Redebeiträgen. Zur nächsten
Großdemonstration, die einen Monat später stattfand, kamen nur noch 20.000 Menschen.
Die Opposition in Serbien ist keine wirkliche Alternative zu Milosevic, sie
konkurriert lediglich mit ihm um die Macht. Sie hat nicht einmal die nationalistische Kriegspolitik glaubwürdig verurteilt. Sie behauptet
nur, sie könne dasselbe wie Milosevic schneller und besser machen.
Wenn die gesellschaftliche Kritik am Vorgehen gegen die Kosovo-
Albaner ausbleibt, hat dann die ultranationalistische Partei von Vojislav Seselj von der Unzufriedenheit profitiert?
Seselj und seine Leute in der Regierung sind nur die Vollstrecker von
Milosevics Politik. Als nach dem Ende der NATO-Angriffe Zehntausende Serben aus dem Kosovo nach Serbien flohen, dachten viele, diese
Leute wären Wasser auf die Mühlen von Seseljs aggressivem Nationalismus. Tatsächlich hat Seselj die Leute aber links
liegen lassen.
Sehen Sie neben dem Versagen der bürgerlichen Opposition auch Ansätze für eine basisdemokratische linke
Opposition?
Es gibt in Serbien einige kleinere Parteien, wie die
Sozialdemokratische, die ich für eine wirkliche Opposition halte. Sie haben aber keinen Zugang zu den Medien und sind deshalb
weitgehend unbekannt. Und es gibt noch eine dritte Kraft, nämlich Basisorganisationen, die während der Luftangriffe entstanden
sind, zum Beispiel in Cacak, Nis und Kraljevo. Diese Organisationen sind sowohl gegen das Regime als auch gegen die Opposition eingestellt.
Ihr Problem ist, wie sie über die lokale Ebene hinaus wirken können. Sollte ihnen dies gelingen, wären sie die einzige
Chance für ein zukünftiges demokratisches Serbien.
Gleich zu Anfang der Luftangriffe haben außerdem 50
Nichtregierungsorganisationen und die Gewerkschaft Nesavisnost die Jugoslawische Allianz gegründet. Sie haben jeden Tag die von
serbischen Einheiten im Kosovo begangenen Kriegsverbrechen veröffentlicht, sich aber auch strikt gegen die NATO-Angriffe gewandt,
weil sie alles nur noch schlimmer machten, wie sie betonten. Es handelt sich hierbei nicht um politische Gruppen im eigentlichen Sinn, sondern
um Organisationen, die besondere Interessen vertreten, wie die gewerkschaftlichen Forderungen der Arbeiter, und sich darauf
beschränken. Dieses Bündnis konnte deshalb nicht zu einem politischen Faktor werden.
Sie haben die schlimme soziale Siuation in Jugoslawien erwähnt. Wie schätzen Sie das Ausmaß der
Zerstörungen durch die NATO-Angriffe ein?
Die soziale Situation hatte sich ohnehin stetig verschlechtert. Die
Luftangriffe haben dies lediglich beschleunigt. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Viele Arbeiter sind zwangsbeurlaubt, weil es keine Rohstoffe
mehr gibt, um zu produzieren. Durch die Zerstörung der Raffinerien und Brücken sind weitere Menschen arbeitslos geworden.
600.000 Menschen müssen sich in Volksküchen ernähren. Die serbische Wirtschaft arbeitet mit 10-15% ihrer
Kapazität. Das einzige. was wirklich funktioniert, sind Post, Polizei und internationale Organisationen. Die Gehälter werden nicht
gezahlt, und in den Läden gibt es kaum etwas zu kaufen. Durchschnittlich kommen die Löhne acht Monate zu spät. Ich habe
mein letztes Honorar im März bekommen. Vor den Angriffen lebten 62% der Bevölkerung unter dem Existenzminimum, jetzt sind es
69%.
Wie ging die Regierung medial mit den Kriegszerstörungen um?
Die jugoslawischen Medien haben versucht, die Zerstörungen
schlimmer darzustellen, als sie wirklich sind. Die Zahl der zivilen Opfer lag nach meinen Informationen bei etwa 500 Personen,
hauptsächlich Leute, die nach einer Bombardierung ein bestimmtes getroffenes Gebäude anschauten und dann von einer zweiten
Angriffswelle überrascht wurden. So wie die serbischen Medien die Zerstörungen übertrieben haben, haben sie auch
versucht, die Erfolge der jugoslawischen Armee zu übertreiben. Nach amtlichen Angaben hat die jugoslawische Armee 160 NATO-
Flugzeuge abgeschossen. Tatsächlich gibt es keine Beweise dafür, dass mehr als zwei Flugzeuge zerstört wurden. Diese
beiden Flugzeugwracks wurden aus allen möglichen Perspektiven gefilmt und fotografiert. Warum die anderen angeblich abgeschossenen
nicht?
Denken Sie, dass es zu einer Unabhängigkeit des Kosovo kommen wird?
Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß. Wie die Dinge jetzt stehen,
ist die Okkupation des Kosovo durch die serbische Armee durch eine andere Form der Okkupation ersetzt worden, durch die internationale
Besatzung. Um das mal praktisch zu beschreiben: Die Fabriken im Kosovo sind den albanischen Arbeitern zweimal weggenommen worden.
Zuerst durch die serbische Staatsmacht Anfang der 90er Jahre, als das Autonomiestatut aufgehoben und die bis dahin selbstverwalteten Betriebe
durch serbische Unternehmensleitungen übernommen wurden. Dann durch die Privatisierung der Betriebe, die anschließend von
Milosevic und seiner Clique betrieben wurde.
KFOR und Unmik sind jetzt damit beschäftigt, den albanischen
Arbeiter die Rückkehr in ihre Betriebe zu ermöglichen, aber sie geben ihnen die Betriebe nicht zurück, die bleiben
privatisiert, Das heißt, sie erkennen die Tatsachen an, die das serbische Regime geschaffen hat. Deshalb haben die Bergarbeiter in
Trpeca bereits mehrfach gegen KFOR und Unmik demonstriert.
Die "internationale Gemeinschaft", insbesondere die USA und
der IWF, hält die albanische Bewegung unter Kontrolle. Hasim Thaci wurde von ihnen als Kontrahent zu Adem Demaci aufgebaut.
Demacis Politik - so wenig ich auch mit ihr einverstanden bin - war dennoch die Politik einer unabhängigen Bewegung. Thaci ist einfach
nur eine Marionette der USA.
Die einzige Kraft, die nicht ohne weiteres unter der Kontrolle der
internationalen Organisationen steht, sind die albanischen Gewerkschaften. Nach meiner Einschätzung werden UNO und NATO weiter
daran arbeiten, die Bewegung der albanischen Gewerkschaften zu zerstören, um sie ganz aus der Öffentlichkeit zu beseitigen. Ich
denke allerdings, dass sich auch andere politische Sektoren darauf besinnen, eine wirkliche Unabhängigkeit zu fordern. Sollte dies
geschehen, würde die KFOR/Unmik wahrscheinlich auf den serbischen Vorschlag der ethnischen Kantonisierung des Kosovo eingehen.
Dann würden wir ein zweites Dayton erleben, also eine De-facto-Aufteilung des Kosovo nach ethnischen Kriterien.
Sie haben als serbischer Oppositioneller, der die nationalistische Politik Milosevics im Kosovo stets denunziert hat und in Serbien in
der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung engagiert ist, kürzlich ein vielleicht einmaliges Experiment unternommen. Sie
haben gemeinsam mit Bajram Mustafa von der albanischen Bergarbeitergewerkschaft aus Kosovoska Mitrovica gemeinsam eine
Veranstaltungstour durch England und Schottland unternommen. Wie waren Ihre Erfahrungen? Als ich Bajram Mustafa vor wenige
Wochen im Kosovo traf, sagt er mir noch, dass eine Zusammenarbeit mit Serben für ihn ausgeschlossen sei…
Es war eine schöne Tour. Wir haben zehn Veranstaltungen
gemacht, zu denen jeweils 50 bis 100 Leute kamen. Viele Albaner, die die Treffen besuchten, haben mir danach gesagt, sie hätten nie
gedacht, dass es so etwas noch einmal geben könnte. Bajram und ich haben uns prima verstanden.