Sozialistische Zeitung |
Oktober 1949. Die Volksrepublik China wird proklamiert, fast vierzig Jahre nach der ersten chinesischen
Revolution und dem Sturz der Mandschu-Dynastie. Zur Überraschung Stalins und zum großen Missvergnügen der
imperialistischen Mächte. Fünfzig Jahre danach wirft dieses historische Ereignis immer noch Fragen auf.
Von den 50er bis zu den 70er Jahren war es kaum möglich, die wahre
Bedeutung und internationale Tragweite der chinesischen Revolution zu ignorieren. Mittlerweile ist es zum guten Ton geworden, das
historische Ereignis auf Schattenspiele persönlicherAmbitionen,fraktionellerKämpfe und kommunistischer Komplotte zu reduzieren
oder sich über das schließliche Scheitern des maoistischen Regimes lustig zu machen, ohne zunächst seine Leistungen zu
beurteilen. Doch der Oktober 1949 war, ebenso wenig wie der Oktober 1917 in Russland, ein Staatsstreich. Die Geburt der Volksrepublik ist
das Werk von Millionen ebenso wie der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), das Resultat mehrerer Jahrzehnte
(konter)revolutionärer Kriege, vielfältiger sozialer Konflikte, von Kämpfen für die Einheit des Landes und seine
Unabhängigkeit.
Sprung ins Unbekannte
Die Proklamierung der Volksrepublik bestätigt den Sieg einer
Revolution. Wir könnten ohne dies anzuerkennen von dieser bahnbrechenden Erfahrung nicht herausgefordert werden, die schon von
ihrem Ursprung her für die Marxisten schwierige Fragen aufwarf. Eine Reihe Marxisten war schon sehr überrascht, dass der
Oktober 1917 in St.Petersburg stattfand und nicht erst in Berlin. Mit China und dem Osten einerseits, dann der Stalinisierung der
Kommunistischen Internationale andererseits tauchten die Revolutionäre buchstäblich ins Unbekannte.
Das Reich der Mitte befand sich in der Krise, doch mit welcher Revolution
ging es schwanger und von welchen sozialen Kräften würde die Revolution geführt? Nach der schrecklichen Niederlage von
19271 und dem Langen Marsch - dem strategischen Rückzug der Roten Armee bis an die nördlichen Grenzen des Landes -, welche
Entwicklung würde die - mittlerweile maoistische - KPCh einschlagen? Abgeschnitten von ihren städtischen Wurzeln,
ertränkt in der unermesslichen Weite des ländlichen Ozeans, in die Zange genommen von den konterrevolutionären Truppen
der Guomindang2 und der imperialistischen Intervention Japans - musste sie nicht zwangsläufig zu einer Bauernpartei
"degenerieren", mit dem beschränkten Horizont des Dorfes? Viele dachten so.
Doch die Partei vermochte eine strategische Vorstellung des Kampfes zu
bewahren, und mit dem errungenen Sieg orientierte sie sich wieder auf die Städte und schuf sich erneut eine proletarische Basis.
Warum hat sich die KPCh nicht in eine derart verrufene
"Bauernpartei" verwandelt? Um auf diese Frage zu antworten reicht es nicht aus, auf ihre städtischen Ursprünge und den
internationalen ideologischen Kontext einer Epoche zu verweisen, in der sich nationale Befreiung auf soziale Revolution reimte. Die KP
herrschte nicht bloß über die Bauernschaft, sie wirkte auch im Innern der ländlichen Welt, indem sie mit den Bauern und
für sie kämpfte - zumindest für bestimmte Schichten der Bauernschaft. Und dies besser, als es die bolschewistische Partei in
Russland verstand. Somit konnte ein Teil der Bauernschaft in einen landesweiten Kampf für eine soziale Umwälzung einbezogen
werden.
In einem sicher sehr spezifischen historischen Kontext hat die chinesische
Erfahrung erlaubt, die schon in Russland zur Zeit Lenins und Trotzkis begonnene Reflexion über die "Vielfalt des
revolutionären Subjekts" zu erneuern, über die inneren Triebkräfte eines Prozesses der permanenten Revolution3,
über das mögliche Verhältnis zwischen den demokratischen Forderungen und dem Hinüberwachsen sozialer
Kämpfe in eine antikapitalistische Richtung zu reflektieren.
Seitdem hat die Diskussion über das gesellschaftsverändernde
Potenzial der Bauernschaft nie aufgehört. Diese Debatte wurde durch eine Reihe von Siegen und Niederlagen in zahlreichen
Ländern der Dritten Welt sowie durch die Entwicklung des Weltmarkts und das zunehmende Gewicht der Nahrungsmittelindustrie der
imperialistischen Länder am Leben erhalten.
Partei der Revolution oder der Bürokratie?
Die chinesische Revolution illustriert die Komplexität der
Beziehungen zwischen einer kämpfenden politischen Partei und ihrer sozialen Basis bzw. ihrer sozialen Basen. Sie erhellt auch die
wahre Komplexität einer solchen Partei, die von einem neuartigen revolutionären Prozess geprägt ist: ein langandauernder
Volkskrieg mit der Bildung befreiter Gebiete, durch die sich bereits 1945 Hunderte Millionen Menschen unter kommunistischer Verwaltung
befanden.
Was war nun die KPCh im Moment des Sieges 1949: die Partei der
Revolution oder die Partei einer bereits in den riesigen befreiten Gebieten etablierten Bürokratie? Offensichtlich beides. Es handelt sich
um einen inneren Widerspruch, der zunehmend explosiv wurde, während das maoistische Regime im Laufe der aufeinander folgenden
Krisen seine soziale Basis bis zur Implosion der KPCh verlor: der Bruch mit der progressiven Intelligenz nach der Hundert-Blumen-Kampagne,
der Bruch mit ganzen Schichten der Bauernschaft (und mit einer bedeutenden Schicht von Kadern) nach dem katastrophalen Scheitern des
Großen Sprungs nach vorn, dann der Bruch innerhalb der historischen Führungsgruppe und schließlich, als Folge der
Beendigung der ersten Phase der Kulturrevolution, der Bruch mit einer ebenso jungen wie proletarischen Avantgarde und das
spektakuläre Auseinanderfallen der Partei in ihrer Gesamtheit. Der politische Tod Mao Zedongs geht so seinem physischen Ableben um
zehn Jahre voraus.
So spezifisch sie auch ist, die chinesische Erfahrung ist hier auch erhellend,
denn der Bürgerkrieg fand - anders als in Russland - lange vor dem Sieg der Revolution statt. Durch die Militarisierung der Gesellschaft
begünstigt entstand die Bürokratie im Laufe des revolutionären Kampfes und nicht erst nach der Errichtung des neuen
Regimes; innerhalb einer noch vollständig den Befreiungskampf führenden Partei, und nicht erst nach ihrem Verfall oder ihrer
Auszehrung. Die chinesische Erfahrung zeigt, dass der antibürokratische Kampf von Beginn an integraler Bestandteil des Programms der
Revolution sein muss.
Welche Modernisierung?
Der Begriff der "Modernisierung" erscheint in der politischen
Literatur als Synonym für die kapitalistische Durchdringung und Expansion. Man erkennt jedoch leicht (heute vielleicht noch besser als
früher), an welchem Punkt die Expansion des Markts und die Diktatur des Kapitals regressive und dauerhaft zersetzende Auswirkungen
auf die Gesellschaften der "Peripherie" haben.
Die chinesische Revolution hat für die notwendige Modernisierung
des Reichs der Mitte und des Chinas der war lords einen Weg angeboten, der eine Alternative zu dem von der Guomindang verkörperten
darstellte. Davon zeugen die ersten beiden großen Gesetze, die nach dem Sieg der Revolution verabschiedet wurden: das Gesetz
über die Landreform und das Ehegesetz.
Das Landreformgesetz spiegelt die Breite der Veränderungen wider,
die auf dem Lande stattfanden, wo die sozialen Gegensätze denen zwischen den Dörfern vorausgingen, wo die von den
Grundbesitzern und den Honoratioren ausgeübte Kontrolle zerschlagen wurde, wo sich die Mentalität, das Vokabular und die
kulturellen Bezugspunkte wandelten.
Das Ehegesetz spiegelt die Bedeutung des eigenen Engagements der Frauen
bei der Umwandlung der Gesellschaft wider, ein Kampf, der von den "Versammlungen der Bitterkeit" symbolisiert wurde, wo
gewalttätige Ehemänner von den Bäuerinnen angeklagt wurden. Dies ist ein weiterer Aspekt der Debatte über das
"revolutionäre Subjekt", als ein Prozess der Modernisierung, der sich nicht auf die Stadt und die Frauen der begüterten
Klassen beschränkt, sondern die ländliche Welt, China in seiner ganzen Tiefe, durchdringt und den Frauen der armen Bauernschaft
zugute kommt.
Pierre Rousset
Aus: Rouge, Nr.1844, 30.9.1999.