Sozialistische Zeitung |
Wie jeden Donnerstag begab sich Ahmet Taner Kislali auch am Morgen des 21.Oktober zu seinem Auto, das er
vor der Tür seines Hauses in einem Vorort der Stadt Ankara geparkt hatte. Doch bevor der als kemalistischer Hardliner bekannte
Professor und Journalist den Wagen wie gewohnt starten konnte, musste er an diesem Mogen noch eine Plastiktüte entfernen, die jemand
auf seiner Windschutzscheibe zurückgelassen hatte. Kislali griff nach der Tüte und starb noch im selben Moment, als die Bombe
explodierte.
Schuldige waren in der türkischen Öffentlichkeit schnell
gefunden. Der private Fernsehsender NTV vermeldete bereits nach kurzer Zeit, die "Große Östliche Islamische
Angriffsfront" habe sich zu dem Attentat auf den antiislamistischen Kritiker bekannt. Noch in dieser Woche, so wusste der
Nachrichtensender, habe Kislali die türkische Regierung für ihre Nachlässigkeit im Umgang mit dem Islamismus attackiert.
Kislali, Politikwissenschaftler und ehemaliger Kulturminister in den
späten 70er Jahren, der für die sozialkemalistische Tageszeitung "Cumhuriyet" schrieb, hatte sich in seinen letzten
Artikeln gegen Mehmet Kutlular, einen islamistischen Führer gewandt, der des Erdbeben vom August als Gottesstrafe bezeichnet hatte
und dafür derzeit wegen "Aufstachelung zum religiösen Hass" angeklagt ist. Mehr Beweise für die scheinbare
Verantwortung der islamistischen Gruppe an dem Attentat hatte der Sender nicht vorzuweisen. Ein Bekenntnis liegt bis heute von keiner Seite
vor.
Lediglich einige wenige mahnende Stimmen lassen sich in der
Presselandschaft vernehmen. So meldet die "Turkish Daily News" erste Zweifel an der islamistischen Verantwortung an: "Die
Ermordung von Professor Ahmet Taner Kislali ist ein weiterer Schlag gegen Demokratisierung, Frieden und Harmonie in diesem Land",
leitet Chefredakteur Ilnur Cevik seinen Leitartikel ein. Cevik weiss genau, er könnte der nächste sein, denn Ceviks Profil als
potenzielles Opfer, unterscheidet sich kaum von dem des kemalistischen Kollegen.
"Leider ist der Tod von Professor Ahmet Taner Kislali ein
Klassiker", legt Cevik den Finger in die Wunde staatlicher Glaubwürdigkeit. "Es ist immer dieselbe Geschichte. Erst suchen
sie sich eine Person, die als Säkularist bekannt ist und ein Leben lang für Atatürks Ideen gekämpft hat, heraus. Dann
bringen sie ihn oder sie um und beschuldigen die Islamisten", klagt er die staatlichen Mafiastrukturen an.
Und in der Tat scheint in diesem Attentat der Versuch zum Ausdruck zu
kommen, Geschichte zu wiederholen. So wurden bereits in der Vergangenheit verschiedentlich staatstragende Intellektuelle in staatlichem
Auftrag ermordet - immer dann, wenn es darum ging, Krisen des Kemalismus mit Hilfe der Vertiefung antikemalistischer Feindbilder zu
überwinden.
So wurden Anfang der 90er Jahre die Professoren Muammer Aksoy und
Bahriye Ucok ebenso von "unbekannten Tätern" ermordet, wie der ehemalige Herausgeber der Zeitung Hürriyet, Cetin
Emec, und der Journalist und Schriftsteller Ugur Mumcu. Speziell der Fall Ugur Mumcu gleicht dem Attentat gegen Kislali bis ins Detail. Und
KennerInnen der innenpolitischen Szenerie des Landes haben ein ähnliches Attentat bereits seit einigen Tagen vorhergesagt.
Nach jedem der genannten Intellektuellenmorde wurden islamistische
Gruppen beschuldigt und in jedem Fall verblieben die Täter bis heute im Dunkeln.
"Erst Jahre später", erinnert die "Turkish Daily
News", "begannen die Leute all das in Frage zu stellen und zu sagen, dass die Morde auf das Konto derer gehen, die die
Demokratisierung der Türkei verhindern und mit dem Regime der Ausplünderung, Korruption und Unregelmässigkeiten
fortfahren wollten, vorgeblich um die Republik zu schützen."
In diesen Wochen versuchen die kemalistischen Eliten im Gleichklang mit
den Verlautbarungen des Generalstabs, die islamistische Bedrohung erneut zu inszenieren und ins Zentrum des öffentlichen Interesses zu
rücken.
Der nächtliche Polizeiüberfall auf das Haus der
Parlamentsabgeordneten Merve Kavakci, der nach Erscheinen im Parlament mit einem Kopftuch die türkische Staatsbürgerschaft
aberkannt wurde; die Haftstrafe gegen den Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan, der auf einer öffentlichen
Kundgebung die falsche Poesie zitiert hatte; die Verhaftung des moderaten Islamisten Mehmet Kutlular, der das Edbeben vom August als
Gottesstrafe deklariert hatte - sie alle dienten der nur scheinbar stümperhaft vollzogenen Reetablierung der Lüge von der
islamistischen Gefahr.
Der Mord an Kislali spitzt diese Situation nun erheblich zu. Mit
massenhaften Beileidsbekundungen und Distanzierungserklärungen von Seiten der ins Kreuzfeuer der öffentlichen Anschuldigungen
geratenen IslamistInnen, kurdischen Organisationen, linken Parteien und demokratischen Gruppen sowie durch die massenhafte
gesellschaftsübergreifende Teilnahme an der Beerdigung Kislalis könnte ein weiteres Mal einer Bewegung, die gerade beginnt, die
überkommenen kemalistischen Prinzipien in Frage zu stellen, die Spitze abgeschlagen werden.
Kurz vor dem im November bevorstehenden Gipfel der OSZE in Istanbul
benötigt auch die türkische Aussenpolitik weitere Beweise, warum der Kampf gegen den sog. "Terrorismus" auf der
Seite der Menschenrechte keine Verbesserung der Situation zulässt.
Und denjenigen, die die Türkei mit Panzern und Hubschraubern
sowie Lizenzen zur Herstellung von Panzermunition und Schnellfeuergewehren zu versorgen gedenken, wird dieses Attentat neue Argumente
liefern, warum in der türkischen Regierung noch immer die vertrauensvolleren Verbrecher zu finden seien.
Knut Rauchfuss
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