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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 28.10.1999, Seite 7

Die SED in der ‘Wende‘ 1989

Nach SPD und KPD hat auch beider Erbin 1946 in der sowjetischen Besatzungszone, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, vor der Geschichte versagt. Die Sozialdemokratie hatte 1914 mit dem aggressiven, kriegstreiberischen deutschen Imperialismus paktiert und ihm nach der militärischen Niederlage geholfen, seine Herrschaft zu retten. Die stalinistisch deformierte KPD gab 1933 gleich der SPD die Errungenschaften der Arbeiterbewegung dem Faschismus preis. Die SED trug nach dem Zweiten Weltkrieg zwar wesentlich zur Entnazifizierung, zur Entmachtung von Großkapital und Junkertum und Schaffung eines sozial orientierten Staates im neuen Osten Deutschlands bei, unternahm aber trotz gegenteiliger Beteuerungen nichts, um dort auch demokratische Verhältnisse durchzusetzen. Infolge dieses Versäumnisses war sie 1989 außerstande zur politischen Revolution, die allein noch Chancen für die Rettung der DDR oder für einen einheitlichen und zugleich progressiven deutschen Staat mit sich gebracht hätte. Vielmehr öffneten Politbüro und Zentralkomitee der SED am 9.November dem bundesdeutschen Imperialismus das Einfallstor.
Gleichzeitig mit dieser bitteren Erkenntnis ist festzuhalten, dass es in allen Situationen Genossinnen und Genossen gab, die sich dem Abwärtstrend in der Politik der jeweiligen Führung widersetzten und Gegenvorschläge unterbreiteten. Hier werden aus aktuellem Grund die SED-Opposition zur Zeit der "Wende" und ihr Ringen mit der damaligen Parteispitze dargestellt. Ohne sich immer dessen bewusst zu sein, folgte die Opposition einer Traditionslinie von SozialistInnen und KommunistInnen, die in der Vergangenheit stets erneut am diktatorisch-stalinistischen Entwicklungsweg Kritik geübt hatten und dafür von der Führung gemaßregelt worden waren. In den späten 80er Jahren breiteten sich in der SED ernste Zweifel und aufmüpfige Stimmungen aus, ohne dass der Apparat dies - entgegen früheren Zeiten - sonderlich behinderte. Der Opposition von 1989 kam zugute, dass die SED-Spitze in der Sowjetunion keinen nennenswerten Rückhalt mehr hatte und selbst erbittert gegen von dort ausgehende Glasnost- und Perestroika-Tendenzen focht. Ungeachtet martialischer Gebärden und einer für das kleine Land gewaltigen Zahl Bewaffneter glichen die staatstragende Partei und ihre Führung einem gelähmten Koloss.

Reformer in den letzten Jahren der SED
Von Dezember 1988 bis Frühjahr 1989 erwogen sogar Teile der Führung eine politische Auflockerung und Reformen in der DDR. Erich Honecker gab damals die Parole von der "Dialektik von Kontinuität und Erneuerung" aus und sagte, "sozialistische Demokratie" im Land müsse "erlebbar gestaltet werden". Allerdings sollte das nach seiner Meinung und der des Zentralkomitees auf typisch deutsche Art gründlich vorbereitet geschehen.
Zuerst, wurde festgelegt, müssten Genossen Gesellschaftswissenschaftler die im "Realsozialismus" wirkenden Widersprüche erforschen und eine "Konzeption des modernen Sozialismus" erarbeiten, dann sollte der für 1990 anberaumte XII.Parteitag der SED darüber befinden. In elitären Kreisen, von denen der um das Projekt "Moderner Sozialismus" unter Prorektor Professor Dieter Klein sowie Professor Michael Brie an der Humboldt-Universität Berlin der wichtigste war, führte der Beschluss zu verschiedenen Ausarbeitungen und teilweise heftigen Diskussionen. Doch das geschah im stillen Kämmerlein, nichts durfte darüber nach außen dringen. Das Endergebnis waren rund 100 Studien, die auf den SED-Führungsetagen in Panzerschränken gestapelt, aber selten auch nur überflogen oder gar gelesen wurden.
Die Führung hatte sich inzwischen von kurzzeitig wirksam gewesenen "Aufweichungstendenzen" wieder befreit. Das gefälschte Kommunalwahlergebnis vom Mai 1989 als Stütze im Nacken und die blutige "Abrechnung mit dem Klassenfeind" auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens im Juni desselben Jahres als Vorbild im Blick, orientierte sie auf Unnachgiebigkeit gegenüber den verstärkt hervortretenden Bürgerrechtlern, vor allem aber darauf, den 40.Jahrestag der DDR-Gründung am 7.Oktober als bombastische, jeden Rahmen sprengende Kette von Festivitäten zu zelebrieren.
Die Lage in der Republik war unterdes durch wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten, Versorgungsengpässe, allgemeine Unzufriedenheit und - seit Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich im August 1989 - einen rasch anschwellenden Strom vornehmlich junger Leute, oft ganzer Familien, über Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen in die BRD gekennzeichnet.
Innerhalb der SED bildete sich damals eine Legende, die bis heute geglaubt wird. Demnach war die Schweigsamkeit des Politbüros, das in Abwesenheit des erkrankten bzw. in Urlaub befindlichen Honecker unter Wirtschaftsdiktator Günter Mittag amtierte, den alarmierenden Vorgängen gegenüber hauptverantwortlich für alle weitere Unbill. In der Tat war die faktische Ein-Mann-Herrschaft an der Spitze der SED so weit gediehen, dass bei Nichtanwesenheit des Generalsekretärs des ZK keine Entscheidungen mehr getroffen wurden und Mittag jede dem entgegengesetzte Initiative pflichtgemäß abblockte. Zweifellos hat diese Tatenlosigkeit auch politisch geschadet. War aber der Generalsekretär im Amt, wie das vor und nach der "Schweigsamkeitsperiode" der Fall gewesen ist, wurde es keineswegs besser. Honecker goss in der Regel Öl aufs Feuer und richtete dadurch noch größeren Schaden an. So, als er öffentlich die DDR-Bürgern verhasste Möglichkeit heraufbeschwor, die Mauer könnte noch 50 oder 100 Jahre stehen bleiben, wenn sie gebraucht würde. So, als er am 1.Oktober eine ADN-Meldung über den Transport DDR-Ausreisewilliger aus Prag in Sonderzügen über Dresden in die Bundesrepublik mit dem dummdreisten Kommentar versah, diese Bürger hätten "durch ihr Verhalten die menschlichen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen."
In den SED-Organisationen hatten die Wahlfälschungen im Mai mit Zynismus vermischte Empörung und die Solidarisierung mit Chinas Führern Besorgnis hervorgerufen. Brutale Polizei- und Staatssicherheitsattacken um den 7.Oktober herum, vornehmlich in Dresden und Berlin, lösten an der Parteibasis teils Entsetzen, teils ohnmächtige Wut über die eigene Obrigkeit aus. Spontan fasste die übergroße Mehrheit innerhalb der SED den Entschluss, der Führung fortan nicht mehr gegen ihre Widersacher im Volk beizustehen.
Die Situation in den sächsischen Metropolen war besonders prekär. In Dresden wegen der schon erwähnten Sonderzüge, auf die jüngere Bürger aufzuspringen versuchten, um mitfahren zu können, und wegen des bis zur Straßenschlacht eskalierenden Einsatzes der Sicherheitskräfte hiergegen. In Leipzig wegen der schon erreichten Stärke der Bürgerrechtsbewegung und der Absicht maßgeblicher Kräfte der Partei- und Staatsführung, diese Bewegung gerade hier zu treffen und niederzuschlagen. Dazu sollten, wie es in einem von Honecker unterzeichneten Befehl hieß, die in der Stadt massierten Bewaffneten aus Polizei, Kampfgruppen, Volksarmee und Staatssicherheit "offensiv vorgehen".
Führende Funktionäre der Bezirksleitungen suchten hingegen deeskalierend auf die Lage einzuwirken. Im Einvernehmen mit dem ersten SED-Bezirkssekretär Hans Modrow nahm Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer den Dialog mit der Bürgerbewegung auf. Die Mitglieder der SED-Bezirksleitung Leipzig Roland Wötzel, Jochen Pommert und Kurt Meyer riefen in bedrohlicher Lage gemeinsam mit Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, dem Theologen Dieter Zimmermann und dem Kabarettisten Bernd Lutz Lange Demonstranten und Sicherheitskräfte zu beiderseitiger Gewaltlosigkeit auf, was befolgt wurde.
Generell entscheidend für die weitere Entwicklung in der gesamten Republik waren die Entschlossenheit der Parteimitgliedschaft, der Bürgerrechtsbewegung gegenüber Gewehr bei Fuß zu bleiben, und die gleichartige Haltung der zahlreich anwesenden Sowjetstreitkräfte im Land. Hierdurch sah die SED-Spitze sich veranlasst, den zitierten Honecker-Befehl zum "offensiven Vorgehen" durch einen anderen zu ersetzen, der Gewaltanwendung und Schusswaffengebrauch verbot. Die mit 70.000 Teilnehmern, unter ihnen Bürgerrechtler und Genossen, bislang größte Leipziger Montagsdemonstration am 9.Oktober 1989 markierte den Durchbruch zur Demokratisierung der DDR von unten.
Diese Bewegung konnte weder durch das Kommuniqué des Politbüros des ZK vom 11.Oktober mit seiner darin bekundeten Dialogbereitschaft, noch durch die Palastrevolution vom 17. und 18.Oktober gegen Honecker, Mittag und den obersten Verhinderer der Verbreitung wahrheitsgetreuer Nachrichten, Joachim Herrmann, gestoppt oder eingeengt werden. Egon Krenz, der Honecker in der gleichzeitigen Eigenschaft des Generalsekretärs, des Staatsratsvorsitzenden und des Vorsitzenden des Verteidigungsrats ablöste, war von Anfang an diskreditiert: als oberster Wahlleiter der DDR bei den gefälschten Kommunalwahlen im Mai sowie als Leiter einer Delegation, die nach dem Blutbad in Peking die chinesischen Führer hofierte. Bloße Hinnahme der inzwischen durch die Demonstrationen in der DDR gewandelten Situation, die er der eigenen Partei als Verdienst gutschrieb, und Reformversprechen reichten nicht aus, ihn populär zu machen.

Wer öffnete die Grenze?
Für die SED-Opposition war charakteristisch, dass sie die Bürgerrechtler, die unter der Losung "Wir sind das Volk" die Straße erobert hatten, gewähren ließ. Am 4.November 1989 nahm sie zusammen mit ihnen an der größten freien Demonstration und Kundgebung der DDR-Geschichte in Berlin teil, die massiv die verfassungsmäßig garantierten Rechte einklagte. Zur Kooperation zwischen ihr und dem linken Flügel der Bürgerrechtsbewegung kam es dennoch nicht, obwohl z. B. bei einer Leipziger Montagsdemonstration im September die "Internationale" gesungen, bei der vom 9.Oktober ein "Zusammenschluss aller demokratischen Kräfte" und das "aktive Handeln der Reformkräfte in der SED" verlangt wurden und auch führende Bürgerrechtler sozialistische Reformen in der DDR propagierten.
Am 8.November traten Teile der Berliner Parteimitgliedschaft offen dem Zentralkomitee der SED entgegen. Bei einer von den Parteiorganisationen der Humboldt-Universität, der Akademie der Wissenschaften und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften getragenen, durch das DDR-Fernsehen live ausgestrahlten Manifestation vor dem ZK- Gebäude forderten sie erstmals einen Sonderparteitag statt der von oben zugestandenen Parteikonferenz, der allein eine neue, nicht diskreditierte Führung zu wählen in der Lage war. Damit leiteten sie die mehrere Etappen umfassende Wandlung der SED zur nichtstalinistischen demokratischen Partei ein. Die alte Führung unter Krenz aber parierte schon den ersten schweren Hieb mit einem verhängnisvollen Selbstbefreiungsschlag, der Öffnung der Westgrenzen. Damit wurde nicht nur ihr eigenes Erneuerungsprogramm hinfällig, das trotz mancher Gewundenheiten über eine baldige Rückkehr zum vorangegangenen Zustand diverse brauchbare Passagen enthielt, sondern auch die weitere Existenz des DDR-Staats.
Nicht geheimnisvolle Verschwörer in West und Ost, die KGB- Gruppe "Lutsch", der ehemalige stellvertretende Staatssicherheitsminister Markus Wolf oder Rechtsanwalt Gregor Gysi hatten diesen Zustand herbeigeführt, wie bürgerliche und nach eigener Einschätzung kommunistische Autoren weismachen wollen*, das tat vielmehr die Führung der SED. Einesteils über einen längeren Zeitraum hinweg, in dem sie den DDR-Bürgern das Interesse am staatlichen Eigentum und den Hang zum Sozialismus austrieb und die Parteiorganisationen zu unselbständigen, von oben dirigierten Gebilden "erzog", die schwer wieder zu eigenem Denken und Handeln zurückfanden. Anderenteils indem sie durch die unerwartete Öffnung der Westgrenzen nach 28 Jahren strenger Abschottung half, die deutsche Frage auf der Grundlage des Bonner imperialistischen Strickmusters, zum Schaden weiter Bevölkerungskreise, zu lösen. Die SED-Basis erwies sich außerstande, dies zu verhindern. Sie machte sich dadurch mitschuldig am Resultat.
Zu den Fehlern der Partei in der damaligen Übergangsperiode vom Pseudosozialismus zum vollendeten Kapitalismus gehört auch, dass sie den übereilten Ausschluss der bisherigen Führung aus der SED zuließ oder betrieb, statt deren Mitglieder, wie statutenmäßig geboten, strengen Parteiverfahren zu unterziehen. Mit Ausnahme eines kurzen Verhörs mussten sie sich nicht, wie vordem Hunderttausende GenossInnen, für ihre Taten rechtfertigen, die vielmals bösartiger und dem Sozialismus feindlicher waren als die schlimmsten nachweisbaren Vergehen einiger Erstgenannter.
Der von der Basis erzwungene Außerordentliche Parteitag der SED im Dezember 1989 wies neben der Wahl eines neuen, nicht politbürokratischen Vorstands und der Namensänderung in SED-PDS noch andere wichtige Neuerungen auf, vor allem den für definitiv erklärten Bruch mit dem Stalinismus als System, bei gleichzeitigem Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus, zur Gleichberechtigung aller Mitglieder und zur Meinungsvielfalt, schließlich auch zur Existenz unterschiedlicher Gruppen und Plattformen in der Partei. Der Kongress legte derart den Grund für eine Entwicklung, in der sich die Partei des Demokratischen Sozialismus trotz vieler Misshelligkeiten und Fehler im Laufe der Zeit zur mitgestaltenden Kraft in Ostdeutschland, stärksten linken Gruppierung der Gesamt-BRD und einzigen bundesdeutschen Oppositionspartei wider einen neuen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg - den gegen Serbien 1999 - mauserte.
Um die PDS zur konsequent linkssozialistischen Partei heranzubilden, insbesondere also die Gefahr einer Sozialdemokratisierung im schlechtesten Sinn und der Einverleibung ins staatstragende Parteiensystem von ihr abzuwenden, werden Sozialisten und Kommunisten noch viel zu tun haben. Das hängt auch mit Versäumnissen der einstigen SED-Opposition in ihrem insgesamt gerechtfertigten Kampf wider Politbürokratie und Parteiapparat zusammen.
Manfred Behrend

Manfred Behrend ist Historiker und Journalist. Arbeiten zur Parteiengeschichte, vor allem zur CSU, zum Neofaschismus und zu Fragen der Arbeiterbewegung. Veröffentlichungen im Neuen ISP Verlag, Köln, und im trafo-verlag, Berlin.

* Siehe hierzu insbesondere: Ralf Georg Reuth/Andreas Bönte, Das Komplott. Wie es wirklich zur deutschen Einheit kam, München/Zürich 1995, sowie Eberhard Czichon/Heinz Marohn, Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf. Ein Report, Köln 1999.


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