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Am 19.Oktober verabschiedete das neue indonesische Parlament ein Gesetz, das die Entlassung Osttimors aus
dem indonesischen Staatsverband anerkennt. Damit scheint der Weg zu einer formalen Unabhängigkeit Osttimors frei. Anlass für
uns, einen Blick auf die Geschichte des Konflikts und die Interessen des Westens zu werfen.
Die Teilung Timors geht auf die Zeit zurück, als die portugiesische
und die niederländische Kolonialmacht im riesigen, über 13.000 Inseln umfassenden Archipel ("Ostindien") zwischen
dem Indischen und dem Pazifischen Ozean um neue Territorien wetteiferten. Im 17.Jahrhundert wurde Portugal als führende
Kolonialmacht in der Region weitgehend von den Niederlanden abgelöst, die sich den Hauptteil der Inseln aneigneten, Portugal aber
erlaubten, die östliche Hälfte der Insel Timor zu behalten.
Koloniales Erbe
Im Zweiten Weltkrieg wurde das an Ölvorkommen reiche Niederländisch-Indien von Japan besetzt. Nach der Niederlage
Japans 1945 gelang es den Niederlanden nicht, ihre früheren Kolonien wiederzuerlangen, und es entstand 1949 die unabhängige
Republik Indonesien, wenngleich zwischen Indonesien und den Niederlanden bis Mitte der 50er Jahre militärische Auseinandersetzungen
um die Kontrolle der Insel Neuguinea fortdauerten. Der einzige Teil des Archipels, der unter direkter kolonialer Herrschaft blieb, war
Osttimor, das an Portugal zurückgegeben wurde, während der westliche Teil der Insel zu Indonesien gehörte.
Der Sturz der Diktatur in Portugal durch die sog. Nelkenrevolution im April
1974 führte zur Legalisierung der nationalistischen Bewegungen in Osttimor. Im September 1974 wurde die Revolutionäre Front
für die Unabhängigkeit Osttimors (Fretilin) gegründet. Ihre Gegner waren die Demokratische Union Timors (UDT), die
für die Fortsetzung des Kolonialstatus eintrat, und eine von Indonesien unterstützte Vereinigung (Apodeti), die die
vollständige Integration in das Nachbarland anstrebte. Als die UDT einen Putschversuch unternahm, organisierte die Fretilin einen
bewaffneten Aufstand. Die Niederlage der UDT führte zum Rückzug der portugiesischen Kolonialmacht und zur
Unabhängigkeitserklärung vom 28.November 1975 mit einer nationalistischen Regierung unter Führung der Fretilin.
Doch die Unabhängigkeit Osttimors war nur von kurzer Dauer. Eine
vom Imperialismus unterstützte Invasion durch Indonesien war lange vorher geplant. Im September 1974 war Australiens
sozialdemokratischer Premierminister Gough Whitlam mit Suharto zusammengetroffen und hatte öffentlich erklärt: "Ein
unabhängiges Timor ist ein nicht lebensfähiger Staat und eine potenzielle Gefahr für die Region." Nur wenige Tage vor
der Invasion, die am 7.Dezember 1975 stattfand, machten US-Präsident Gerald Ford und sein außenpolitischer Berater Henry
Kissinger einen dreitägigen Besuch in Jakarta. Sicher wurde dabei über Osttimor gesprochen und für die Invasion
grünes Licht gegeben.
Die Reaktion der westlichen Regierungen auf die indonesische Invasion
bestand darin, sie zu ignorieren. Die britische Labour-Regierung bspw. genehmigte unmittelbar nach der Invasion den Verkauf von acht
Kampfflugzeugen (produziert von der damals staatlichen British Aerospace) an Indonesien.
Die fehlende Reaktion des Westens auf die brutale Besetzung Osttimors
durch die indonesische Armee steht im krassen Gegensatz zu seiner Haltung 1991, als der Irak unter Sadam Hussein in Kuwait einmarschierte,
die Imperialisten unter US-Führung Krieg bis zur Kapitulation des Landes führten und anschließend Wirtschaftssanktionen
verhängten, die für die irakische Bevölkerung verheerende Auswirkungen hatten und immer noch haben.
Im Falle Osttimors gab es keinen ernsthaften Versuch, Suharto zu zwingen,
seine Truppen zurückzuziehen. Die ganze Angelegenheit wurde unter den Teppich gekehrt.
Blutiger Bürgerkrieg
In den ersten zwei Monaten der indonesischen Invasion in Osttimor wurden laut Schätzungen etwa 60.000 Menschen getötet.
Im Juli 1976 wurde Osttimor offiziell die 27.Provinz Indonesiens. Die Fretilin organisierte Guerillagruppen in den Bergen und erhielt
Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung. Das Land befand sich nun im permanenten Bürgerkrieg.
Schätzungen zufolge sollen bis 1992 200.000 Osttimoresen von der
indonesischen Armee getötet worden sein. Ein weiterer Versuch der indonesischen Behörden, die lokale Bevölkerung zu
dezimieren, war die Einführung von Zwangssterilisationen für Tausende von Frauen.
Darüber hinaus wurden 150.000 Menschen von den extrem dicht
besiedelten Inseln Java und Bali - oft zwangsweise - nach Osttimor umgesiedelt. Diese Aktion war Teil des Programms der
"Transmigration", mit dem das indonesische Regime die zentrifugalen Kräfte unter den verschiedenen ethnischen Gruppen auf
den Inseln des Archipels schwächen wollte. Auf Kosten der einheimischen Bauern, die von der Armee von ihrem Land vertrieben
wurden, erhielten diese Siedler oft das fruchtbarste Land.
Dieses Programm erinnert stark an die Politik der "ethnischen
Säuberungen" im früheren Jugoslawien, nur das die imperialistischen Mächte im Falle Osttimors nicht einmal
symbolisch protestierten.
Was auf dem Spiel steht
Seit 34 Jahren - seit dem blutigen Putsch Suhartos 1965 und den anschließenden antikommunistischen Massakern - gibt es eine
fruchtbare Zusammenarbeit westlicher Staaten inkl. der BRD mit der indonesischen Armee. Deren wichtigste Funktion - vom Standpunkt des
Imperialismus - war in dieser Zeit die Sicherung der politischen Stabilität in einem riesigen Land, das einerseits das Potenzial aufweist,
eine ganze Region zu destabilisieren, und andererseits eine enorme Quelle des Profits für die westlichen Multis darstellt.
Man braucht nur einen Blick auf die Landkarte zu werfen, um zu begreifen,
warum sich Indonesien leicht in ein Pulverfass verwandeln kann: Es ist in eine riesige Anzahl von Inseln aufgespalten, die oft durch besondere
ethnische Gruppen bevölkert sind, und es gibt keinen Mangel an separatistischen Bewegungen, die entlang solcher ethnischer Trennlinien
entstanden sind. Darüber hinaus sind einige Inseln (Timor, Borneo, Neuguinea) auf verschiedene Staaten aufgeteilt - ein Erbe der
kolonialen Vergangenheit.
Timor. Für das indonesische Militär und die westlichen Multis gibt es gute Gründe, warum sie sicherstellen
wollen, dass ihre Ordnung auf der Insel gewahrt bleibt. Es gibt große Öl- und Erdgasvorkommen in der Timor-See zwischen der
Südküste Osttimors und Australien. Die Ölvorkommen der Timor-See sollen fünfmal so groß sein wie die
gesamten Ölreserven Australiens.
Aufgrund des Bürgerkriegs in Osttimor ist von diesem Öl
bisher nur sehr wenig gefördert worden, obwohl sich die australische Regierung um einen Vertrag mit Indonesien bemüht hatte, der
eine formale Anerkennung der indonesischen Besetzung Osttimors beinhaltete. Eine Reihe von Ölkonzernen ist bereits an der
Förderung in der Timor-See beteiligt oder hat Optionen darauf gekauft, darunter Shell, Chevron (USA), Elf (Frankreich), BHP
(Australien) und PT Astra, eine indonesische Gesellschaft, die Teil des Geschäftsimperiums des Suharto-Klans ist. Zweifellos sind sie
alle daran interessiert, dass der Konflikt in Osttimor so gelöst wird, dass die Nationalisten in Osttimor ihre Ansprüche auf die
Reichtümer der Timor-See nicht verwirklichen können.
Borneo. Auf der großen Insel Borneo gibt es weitgehend unerschlossene Ölvorkommen. Borneo ist auf drei Staaten
aufgeteilt: Indonesien, Malaysia und Brunei. Das Sultanat Brunei ist ein auf die Interessen des Shellkonzerns zugeschnittener Zwergstaat von
Gnaden des britischen Imperialismus mit einem britischen Militärstützpunkt auf seinem Territorium, von wo aus die britischen
Truppen nach Osttimor gesandt wurden.
Neuguinea. Eine weitere an Bodenschätzen reiche Insel ist Neuguinea, das durch eine künstliche Grenzziehung in die
indonesische Provinz Irian Jaya (Westpapua) und den unabhängigen, eng mit Australien verbundenen Staat Papua Neuguinea (PNG)
gespalten ist. In Westpapua ist seit 1977 die Befreiungsbewegung OPM aktiv, die für die Wiedervereinigung der beiden Hälften
der Insel eintritt. Von 1977 bis 1979 führte die OPM die erste Rebellion an, die jedoch zusammenbrach. Die Brutalität, mit der das
Regime die einheimische Bevölkerung behandelt, hat die OPM und ihren Widerstand jedoch bis heute am Leben erhalten. Insgesamt sind
seit 1977 43.000 Einheimische von den indonesischen Sicherheitskräften getötet worden.
Von Seiten Jakartas bestehen Pläne, in den nächsten zwanzig
Jahren bis zu 65 Millionen Menschen aus Java in Westpapua anzusiedeln, um die Gefahr der Lostrennung zu bannen. Der Einsatz für die
herrschende Klasse Indonesiens und die imperialistischen Multis ist dabei enorm hoch: Zum indonesischen Teil der Insel gehört das
Grasberg-Minengebiet, das im gemeinsamen Besitz der Konzerne Freeport (USA) und Rio Tinto Zinc (Großbritannien) ist. Es gibt dort
die größte Gold- und die zweitgrößte Kupfermine der Welt. Grasberg ist auch berüchtigt wegen der
katastrophalen Arbeitsbedingungen für die einheimischen Arbeiter und die Brutalität der Unternehmen: 1994/95 wurden bspw.
innerhalb von neun Monaten 37 papuanische Arbeiter von privaten Sicherheitskräften der Gesellschaften getötet.
Für die indonesischen Militärs und den Imperialismus stellt
sich in diesem Zusammenhang die Frage nach den Folgen einer wirklichen Unabhängigkeit für die Bevölkerung Osttimors:
Wird dies in anderen Teilen des Landes zentrifugale Kräfte freisetzen, mit dem Risiko, nicht nur die Stabilität Indonesiens, sondern
auch der Länder aufs Spiel zu setzen, die damit durch ethnische Bande verbunden sind wie Malaysia und sogar die Philippinen? Welche
Risiken bestehen für die Interessen des Imperialismus in der Region bei einem Auseinanderfallen Indonesiens?
Für die Osttimoresen gibt es keinen Grund, den imperialistischen
Mächten oder nationalistischen Führern wie Xanana Gusmao, die das Schicksal der Bevölkerung in die Hände der
UNO legen, zu vertrauen. Die Erfahrungen in Ex-Jugoslawien wie jüngst in Kosova zeigen, wie der Imperialismus vorgeht: wirkliche
Selbstbestimmung ist unter einem UN-Protektorat nicht zu erwarten.
Doch in ihrem Bestreben nach Unabhängigkeit verbindet die
Osttimoresen mit den anderen Bevölkerungsgruppen Indonesiens, dass sie Jahrzehnte unter der Herrschaft einer räuberischen
Klasse und der blutigen Diktatur ihrer Armee gelitten haben. Dies könnte eine gemeinsame Grundlage bilden, die Völker
Indonesiens um den Kampf für die sozialen Interessen der Armen zu vereinen, und nicht nur mit der Forderung nach mehr Freiheit, die die
Studenten 1998 mobilisierte. Das Auftauchen neuer radikaler politischer Kräfte wie der Demokratischen Volkspartei (PRD) in
Indonesien oder der Sozialistischen Partei Timors (PST) ist ein ermutigendes Zeichen für eine solche Entwicklung.
Hans-Günter Mull
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