Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 11.11.1999, Seite 4

Stell dir vor, hier ist Sozialismus…

Schauplatz Ostberlin am 4. November 1989. Rund eine halbe Million Menschen, viele sprechen gar von einer Million, haben sich rund um den Alexanderplatz versammelt. Der Zug der Demonstranten ist so lang, dass die Kundgebung beginnt, als sich die letzten Teilnehmer noch gar nicht auf den Weg machen konnten. Sie alle eint an jenem Tag ein Ziel - die lautstarke Forderung nach politischen Veränderungen in der DDR. In der polizeilichen Anmeldung für die Demonstration durch die Veranstalter, Berliner Theaterleute, steht in der Spalte Thema: Für die Inhalte der Artikel 27 und 28 der Verfassung. Sie besagen unter anderem: "Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln … Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Dieses Recht wird durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis beschränkt. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht…"
Dass die Realität anders aussieht, ist einer der Gründe für diese Demonstration. Es ist zu diesem Zeitpunkt noch offen, wie sich die Staatsmacht verhalten wird. Die Montagsdemonstrationen in Leipzig mit dem Ruf "Wir sind das Volk" sind zwar friedlich verlaufen. Die Ordnungskräfte für den Protestzug in Berlin tragen trotzdem Armbinden, auf denen steht: "Keine Gewalt". Am Beginn der Veranstaltung liegt Spannung in der Luft. Als die ersten Plakate mit Forderungen nach Veränderung in der DDR in die Höhe gehalten werden und die Volkspolizisten zusehen, greift eine erwartungsvolle Stimmung um sich: "Stell dir vor, hier ist Sozialismus und keiner geht weg", steht auf einem der vielen Plakate. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass fünf Tage später die Mauer fallen wird.

Schauplatzwechsel: 3. November 1999, Berliner Abgeordnetenhaus. "Nichts in der DDR-Verfassung war wert, vom vereinigten Deutschland übernommen zu werden", sagt der Theologe Richard Schröder. Er zählt zu den Gründern der Ost-SPD, die zunächst SDP hieß, und war ihr Fraktionsvorsitzender in der am 18.März 1990 frei gewählten Volkskammer der DDR. Eben jener Volksvertretung, die einige Monate später den Beitritt des Landes nach Artikel 23 des Grundgesetzes beschloss. Dafür habe es gute Gründe gegeben, erklärt Schröder Berliner Schülern auf der Veranstaltung im Abgeordnetenhaus. Sie sind zwischen 15 und 19 Jahre alt und kennen die Ereignisse vor zehn Jahren überwiegend aus Geschichtsbüchern und aus Erzählungen ihrer Eltern. Sie geben sich nicht mit den politischen Allgemeinplätzen von Schröder und dessen Mitdiskutanten Wolfgang Schäuble und Hans-Dietrich Genscher zufrieden und fragen kritisch nach: "Warum trat die DDR so schnell der BRD bei? Gab es in der Volkskammer Überlegungen zu Reformen innerhalb des Landes anstelle eines Beitritts? Wie ist bei der Vereinigung auf die Bedürfnisse der DDR-Bürger Rücksicht genommen worden? Gab es eine Chance, sozialistische Ideen mit einzubringen?"
Es können ihre Eltern gewesen sein, die bei jener beeindruckenden Demonstration am 4.November mit dabei waren. Ein Teil von ihnen hatte damals Hoffnungen auf die Reform des Systems, auf einen Neuanfang innerhalb von Werten wie Demokratie, Menschenwürde und Freiheit. Seit dem 9.November 1989 und mehr noch dem 3.Oktober 1990 haben viele von ihnen ihre Biografien neu schreiben müssen. Sie haben sich den Verhältnissen angepasst und damit auch versucht, sich den Geruch von Braunkohle und Trabbiabgasen aus der Nase zu treiben. "Habt ihr damals nur den Konsum gewählt?", lautet einer der Vorwürfe ihrer Kinder. "Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt", sagt trotzig ein Mädchen zu Schäuble. Der belehrt sie umgehend: "Die DDR war kein Land. Wir haben alle immer in Deutschland gelebt."
Rechtsabbiegepfeil, Broiler statt Huhn und Auto statt Wagen - zehn Jahre nach dem Ende der DDR ließe sich das Erbe auf einige dieser Artikel abladen. Die PDS? Für viele noch immer die Hoffnung, den sozialistischen Versuch vor dem Untergang zu bewahren. Vor zehn Jahren gab es dafür auf dem Alexanderplatz gute Ansätze. Sie sind seitdem nicht mehr geworden.
Andrea Marcinski
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