Sozialistische Zeitung |
Wie schätzen Sie die Massenabschiebung ein?
Maude Cols: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass allen Roma, die am 5.Oktober abgeschoben wurden, mit
unauslöschlicher Tinte eine Nummer auf dem Arm angebracht wurde. Darüber hat die Presse geschwiegen. Es handelte sich um
eine Kodenummer, wie früher bei den Nazis!
Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Im Juni dieses Jahres
haben die Roma im Lütticher Bezirk Coronmeuse, wo es ein Roma-Lager gab, auch alle eine Nummer bekommen. Ein Diebstahl wurde
dort zum Vorwand genommen, alle Lagerbewohner zu verhaften. Das ist allein schon ein Skandal. Wenn ich morgen einen Diebstahl begehe,
werden ja auch nicht meine ganze Familie, meine Nachbarn oder gar mein ganzes Dorf verhaftet. Aber im Fall der Roma wird
gewöhnlich die ganze Gemeinschaft mit kriminalisiert.
Aber das ist nicht alles. Nach der Verhaftung wurden Männer, Frauen
und Kinder voneinander getrennt. Das jüngste war ein Baby von einem Monat. Alle bekamen ein Armband mit einer Nummer um das
Handgelenk gebunden. Bei den Kleinsten, auch dem Säugling, wurde das Armband um den Bauch gebunden. Wenn es erst einmal fest
saß, bekam man es nur sehr schwer wieder los.
Die Kinder wurden dann in einem Bus der Gendarmerie eingeschlossen -
an einem sehr heißen Tag. In diesem Bus wurden sie sechs Stunden lang festgehalten, ohne auch nur ein Glas Wasser zu bekommen.
Während die Kinder weinten und schrien, weil sie Durst hatten und von ihren Eltern getrennt worden waren, machte der sie bewachende
Gendarm eine rassistische Bemerkung, die auch die anwesenden Journalisten gehört hatten. Das Zentrum für Chancengleichheit hat
darauf den Beamten angezeigt. Doch so weit ich weiß, haben weder das Zentrum noch die Liga für die Menschenrechte noch die
Bewegung gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (BRAX) eine Anzeige wegen der nummerierten Armbänder
eingereicht.
Darüber hinaus wurden die Roma, auch die Kinder, wie Kriminelle
fotografiert: ein Foto im Profil von links, eins von rechts und ein Foto von vorn. Ferner wurden von allen Fingerabdrücke abgenommen.
Und nicht nur von einem Finger, nein von allen zehn! Kodenummern, Fotos, Fingerabdrücke... das erinnert doch stark an die Methoden
der Nazis.
Die Methoden, die jetzt bei der Abschiebung angewandt wurden, sind also nicht neu?
Im Grunde ist es die Fortsetzung der Politik, die von der alten Regierung vertreten wurde. Der frühere Innenminister Vanden
Bossche hatte für den 12. bis 19.Februar 1999 eine Kommission nach Tschechien und in die Slowakei entsandt. Offiziell sollte die
Kommission die Lage der Roma in diesen Ländern erkunden. Eine Woche scheint mir eine recht kurze Zeit für eine ernsthafte
Untersuchung. Ich glaube, dass diese Kommission dort in Wirklichkeit ein Abkommen für die Rückführung der Roma in diese
Länder geschlossen hat. Dabei wurden die dortigen Regierungen unter Druck gesetzt: Im Falle der Weigerung, ein solches Abkommen zu
schließen, sollten tschechische und slowakische Bürger nicht mehr ohne Visum nach Belgien einreisen dürfen.
Die Abschiebung ist also Teil eines Plans, der seit Monaten vorbereitet
wurde. Vanden Bossche wollte 3296 aus Osteuropa stammende Roma abschieben. Diese Zahl ist sehr genau! Er hat sie selbst am 5.Februar im
Parlament bekannt gegeben. Dabei sprach er nicht direkt von Roma, sondern von "Asylbewerbern aus vier Ländern
Osteuropas": Rumänien, Bulgarien, Tschechien und die Slowakei. Da von einigen Ausnahmen abgesehen fast alle Flüchtlinge
aus diesen Ländern Roma sind, war klar, welche Gruppe der Minister meinte. [Der jetzige Innenminister] Duquesne macht also da
weiter, wo sein Vorgänger aufgehört hat. Wobei er die Repression noch verstärkt.
Die jüngste Abschiebung hat noch einmal deutlich gemacht: dieses
Land vertritt eine erschreckend repressive Flüchtlingspolitik. Die Ausweisung von Menschen ohne Papiere ist eine Schande. Aber
darüber hinaus zeigt dieser Fall auch, dass es eine Spezialbehandlung für Roma gibt: die Kennzeichnung mit unauslöschlicher
Tinte hat es bei der Abschiebung anderer Flüchtlinge nicht gegeben.
Auf welche Weise werden die Roma in Belgien diskriminiert?
Die Diskriminierungen sind für sie eine alltägliche Erfahrung. Nehmen wir das Beispiel von Coronmeuse. In
Lüttich haben die Behörden für die Roma keinen Lagerplatz vorgesehen. Nach den EU-Richtlinien muss den Roma aber ein
Standplatz zugewiesen werden, andernfalls müssen die Behörden "wildes Kampieren" tolerieren. Da die
Behörden in Lüttich es nicht lange "tolerieren" wollten, taten sie alles, um den Roma die Lebensbedingungen
unerträglich zu machen. So weigerte man sich, den Abfall zu entsorgen. Die Menschen mussten in ihrem eigenen Müll leben. Das
Problem wurde zwar inzwischen gelöst, aber die Roma mussten für die Müllbeseitigung 12.000 Franken bezahlen. Auch das
Wasser wurde ihnen abgestellt.
Häufig stellen wir fest, dass die Roma Standplätze zugewiesen
bekommen, die völlig heruntergekommen sind und erst einmal gesäubert werden müssen. Das sind oft wahre
Müllhalden. Die Geschichten über die angeblich unhygienische Lebensweise der Roma stellen die Realität auf den Kopf. Die
Behörden haben dann manchmal noch die Dreistigkeit zu behaupten, dass die Roma einen anderen Lebenstil haben als die Belgier und
deshalb besser verschwinden sollen. Erst gibt man ihnen nur einen Müllplatz zum Leben und dann wird das dann zum Anlass genommen,
sie zu vertreiben.
Doch wo sollen sie hingehen, wenn ihnen die Gemeinden kein
Grundstück zur Verfügung stellen? In Belgien ist es nicht erlaubt, länger als 24 Stunden auf öffentlichen Wegen zu
kampieren. Darüber hinaus gibt es ein Gesetz, das es Eigentümern verbietet, Gelände zu verleihen, und die Städte sind
sowieso verbotenes Terrain für die Roma.
Außerdem gibt es die Kontrollen: Viele behaupten, die Roma
wären unkontrollierbar. Nichts ist weniger wahr. Man weiß alles über sie. Sie werden täglich kontrolliert. In Verviers
wurden sie verpflichtet, sich jeden Tag in der Gemeindeverwaltung zu melden. Tatsächlich sind die Roma die am besten kontrollierte
Bevölkerungsgruppe Europas. In der enormen Kartei, die Produkt des Schengener Abkommen ist, gibt es eine besondere Kategorie
für Kriminelle, für "Subversive" und… für Roma. Die Tatsache, zu den Roma zu gehören, macht einen
schon verdächtig. Schätzungsweise sind sogar eine Million Romakinder in dieser Kartei erfasst, mit Foto und
Fingerabdrücken. Welchen Sinn hat das? Normalerweise kann doch keiner mit Fingerabdrücken von Kindern etwas anfangen. Von
daher scheint mir ein längerfristiger Plan dahinter zu stecken. Die Kinder von heute werden bald die erwachsenen Roma von morgen
sein…
Handelt es sich nicht darum, diese Menschen zu zwingen, die herrschende sesshafte Lebensweise anzunehmen?
Die Methode der Nazis war einfach: ein Drittel wurde assimiliert, ein Drittel ausgewiesen, ein Drittel wurde vernichtet. Und
eigentlich sind diese drei Elemente heute wieder da, auch die Vernichtung: während des Krieges in Ex-Jugoslawien fanden wirkliche
Massenmorde an Roma statt. Nach einer Studie des Europarats machten die Roma einen beträchtlichen Anteil der Opfer des Krieges in
Bosnien aus.
Natürlich sind alle Mörder gleich schlimm, wer auch immer
das Opfer ist. Aber über die Verbrechen an den Roma wird gewöhnlich nicht gesprochen oder geschrieben. Auch im Konflikt im
Kosovo wurden Roma ermordet und deportiert. Sie wurden beschuldigt, die serbische Armee unterstützt zu haben. In Wirklichkeit waren
sie Opfer beider Lager, denn einige von ihnen wurden gezwungen, die Schmutzarbeit für serbische oder albanische Extremisten zu
machen. In Wirklichkeit hatten die Roma kein Interesse an diesem Krieg. Roma stellen keine territorialen Forderungen.
In Tschechien und in der Slowakei gibt es Gruppen von Skinheads, die vor
Morden an Roma nicht zurückschrecken und von den Behörden geschützt werden. In Rumänien gibt es wirkliche
Pogrome gegen die Romabevölkerung. Dort werden bereits ganze Dörfer niedergebrannt. Man muss sich darüber im Klaren
sein, dass man diese Menschen, wenn man sie in diese Länder abschiebt, möglicherweise in den Tod schickt. Was wird unsere
Regierung sagen, wenn bekannt wird, dass einige der abgeschobenen Roma Opfer von Mordanschlägen geworden sind? Wird sie die
Ahnungslose spielen?
Wie reagiert die Roma-Gemeinde auf die Abschiebung?
Alle Roma, auch die mit einem belgischen Pass, sind darüber erschrocken. Die belgischen Roma haben immer noch Angst
vor den Behörden dieses Landes. Viele von ihnen sind davon überzeugt, dass eine echte Entnazifierung in der belgischen
Verwaltung nicht stattgefunden hat. Die Beamten, die damals Roma, Juden oder Widerstandskämpfer nach Mechelen oder Breendonck
deportiert haben, haben nach der Befreiung ihre Posten behalten. Da die Diskriminierung der Roma nach dem Krieg nicht verschwunden ist,
haben viele bis heute Angst vor den Behörden. Mit der jüngsten Massenabschiebung wird diese Angst nur noch größer
werden.
Aus: "Rood" (Brüssel), Jg.32, Nr.19, 15.10.1999.
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