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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 11.11.1999, Seite 9

Memorandum gegen Sparpolitik

Die "Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik", bekannt unter dem Namen "Memorandum-Gruppe", erstellt jedes Jahr ein alternatives Wirtschaftsgutachten, um der herrschenden Meinung neoliberaler Gutachter und Wirtschaftstheoretiker etwas entgegenzusetzen. In diesem Herbst hat sie außer der Reihe ein Sondermemorandum erstellt, das sich in zum Teil beißender Schärfe mit dem Wirtschafts- und Finanzkurs der SPD-Grünen-Regierung auseinandersetzt. Eine so deutliche Kritik äußern zu müssen, hatte die Gruppe selber nach dem Regierungswechsel wohl nicht erwartet. Insbesondere der Rücktritt von Lafontaine und das Schröder-Blair-Papier machten klar, dass die neoliberale Politik unter anderem Vorzeichen weiter verfolgt würde.
Die Lektüre des Sondergutachtens lohnt sich auch für radikale Linke, die sich in Gewerkschaften, Betrieben oder auf politischer Ebene mit der Schröder-Fischer-Regierung auseinandersetzen müssen. Der Titel "Arbeit, Umwelt, Gerechtigkeit - Beschäftigungspolitik statt Sparbesessenheit" mag manchem zu traditionell und "keynesianisch" klingen. Die Kritik am Regierungskurs fällt jedoch bemerkenswert klar aus, sie fügt sich sehr wohl in die "praktische Kritik" an der Regierung auf der Straße. Einige Auszüge mögen das belegen.

Der versprochene Kurswechsel
Unter dieser Überschrift heißt es: "An die Stelle einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive für mehr Beschäftigung, soziale Gerechtigkeit und ökologischen Umbau ist allgemeine, blinde und in jeder Hinsicht schädliche Sparwut getreten. Vertreter der Regierung versteigen sich sogar zu der Behauptung, dass die Staatsverschuldung der größte Skandal in der Gesellschaft sei. Vor der Wahl hatten sie allerdings noch zutreffend festgestellt, dass der grösste Skandal die anhaltende Massenarbeitslosigkeit sei. Diesen Perspektivwechsel halten wir für wirklich skandalös. Er wird auch nicht dadurch besser, dass Schulden als Erblast für die Kinder und Enkel stigmatisiert werden. Denn die allgemeine Sparbesessenheit ruiniert Wachstum und Beschäftigung; sie untergräbt den sozialen Zusammenhalt und vererbt den Kindern und Enkeln eine schwache Wirtschaft, eine marode Infrastruktur und letztlich eine zerrüttete Gesellschaft.
Die Regierung könnte auch mit Recht behaupten, dass manche ihrer sozialen Einschnitte härter sind als die ihrer Vorgänger. Insgesamt besteht die Gefahr, dass die unsoziale Angebotspolitik der früheren Regierung im Kern fortgesetzt wird, mit teilweise veränderter Rhetorik ... mit einzelnen Abschwächungen, aber auch mit Maßnahmen des Sozialabbaus, die von der alten Regierung trotz mehrerer Versuche nicht durchgesetzt werden konnten."
Die "Bilanz nach einem Jahr" lautet für die Wissenschaftler: "beschäftigungspolitischer Stillstand". Dabei ist auch interessant, dass sie das bisher einzig greifbare politische Instrument der Arbeitsmarktpolitik, das Jugendbeschäftigungsprogramm "Jump", sehr kritisch bilanzieren. "So gelang es zwar vorübergehend, die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen unter zwanzig Jahren um rund 25.000 zu senken. Dies war aber nur ein vorübergehender Effekt, da die Laufzeit der Maßnahmen auf maximal ein Jahr festgelegt wurde. Waren im Juni noch 82.000 Jugendliche arbeitslos, so ist dieser Wert durch das Auslaufen vieler Maßnahmen bereits im Juli wieder auf 119.000 angestiegen. Darüber hinaus haben von gut 70.000 eingeleiteten Maßnahmen ... nur knapp 5000 ein betriebliches Arbeitsverhältnis geschaffen..."

Ökosteuer
Die Kritik an der Umweltpolitik stellen die Wissenschaftler unter das Motto "Unter dem Diktat der Wirtschaftsverbände", und belegen das an dem bekannten Verhältnis, in dem Betriebe und Private zur Ökosteuer herangezogen werden: Der "Ansatz der Ökosteuer, alle Verursacher zu belasten, [wurde] auf eine zusätzliche Verbrauchssteuer für Haushalte reduziert, die vor allem diejenigen zusätzlich trifft, die durch die Verwendung des Ökosteueraufkommens für die Reduzierung der Rentenversicherungsbeiträge nicht profitieren - also RenterInnen, Arbeitslose und StudentInnen". Sie habe deshalb "keine ökologische Lenkungsfunktion". "Der Atomausstieg wird durch eine nur noch als erpresserisch zu bezeichnende Politik der Stromkonzerne, die mit Wirtschaftsminister Müller einen geschickten Lobbyisten in der Regierung haben, vereitelt."
In der Verkehrspolitik kritisieren sie "die unmittelbare und erfolgreiche Direktive des Vorstandsvorsitzenden des VW-Konzerns zum Abstimmungsverhalten der deutschen Regierung in Brüssel", die "den Zeitpunkt der kostenlosen Rücknahmeverpflichtung um vier Jahre auf das Jahr 2006 verschoben" hat. "Ein zweites unentschuldbares Manko in der Verkehrspolitik ist die Tatenlosigkeit, mit der der Vertiefung der Krise bei der Deutschen Bahn zugesehen wird. Dabei geht es ... um den nur noch als skandalös zu bezeichnenden weiteren drastischen Personalabbau bei der Bahn und um die fehlende Wende in der Verkehrspolitik des Bundes und der EU, die die Wettbewerbsnachteile des Schienenverkehrs prinzipiell beseitigen müsste."

Umverteilung
Die Umverteilung wird fortgesetzt, stellt das Sondermemorandum fest, "die Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung bei Beziehern von Arbeitslosenhilfe damit gerechtfertigt, den Druck auf die Annahme von (billiger) Erwerbsarbeit zu erhöhen". "Das Bündnis für Arbeit knüpft an den ordnungspolitischen Vorstellungen der konservativ-liberalen Regierung an, setzt aber an die Stelle der Konfrontation zwischen Kabinett und Kapital einerseits und Gewerkschaften andererseits die korporatistische Integration. Auf diese Weise sollen politische Widerstände überwunden werden, die einer radikalen Umsetzung der Angebotspolitik bislang immer im Wege standen ... Während bei Unternehmen und Beziehern von Vermögenseinkommen die Nettoeinkommen durch Steuerentlastungen erhöht werden sollen, um die ‚Investitionsneigung‘ der gesellschaftlichen ‚Leistungsträger‘ zu erhöhen, soll die Kürzung bei Lohnersatzleistungen sowie die Ausweitung der Niedriglohnbeschäftigung umgekehrt die ‚Erwerbsneigung‘ der Arbeitslosen fördern."
Die Autoren kritisieren die Fortsetzung der Angebotspolitik und die Sparpolitik, weil dadurch die Arbeitslosigkeit erhöht und die "Gerechtigkeitslücke" vergrößert würde. Insbesondere an den Kürzungen im Haushalt des Ministeriums für Arbeit (Riester) lässt sich das nachweisen. Dabei steht die "Rentenpolitik im Dienste der Haushaltssanierung", wie auch die "Alterssicherung vor dem Systemwechsel". Dabei wird vor allem auf den geplanten Abschied von der paritätischen Finanzierung hingewiesen, die dann nicht "eine Konsolidierung der Alterssicherung, sondern eine Umverteilung seiner Kosten zu Lasten der Beschäftigten und zugunsten der Unternehmen" ist.
Die Absenkung der Rentenerhöhung auf die Preissteigerungsrate und die Absenkung des Bundeszuschusses summieren sich über den Zeitraum 2000-2003 auf 26 Milliarden Mark, die den Rentnern, gemessen am geltenden Recht, aus der Tasche gezogen werden. Dazu kommen noch einmal rund 22,5 Milliarden Mark, die die Arbeitslosen zur Sparpolitik im gleichen Zeitraum beitragen sollen - zum Teil durch Anwendung der niedrigeren Anpassungssätze auf Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Unterhaltsgeld sowie Anpassung der Sozialhilfe-Regelsätze, zum Teil durch Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe. "Nicht ohne bittere Ironie" ist für die Autoren auch der Umstand, "dass ausgerechnet diejenigen, die in der Vergangenheit vehement gefordert hatten, die Lücken in der Alterssicherung zu schließen, die durch unstete Erwerbsverläufe - allem voran Arbeitslosigkeit - aufgerissen werden, jetzt ihren ganz eigenen Beitrag dazu leisten, dass diese Lücken künftig noch größer ausfallen. Denn nach dem Willen der Bundesregierung sollen die Renten- und Pflegeversicherungsbeiträge für Langzeitarbeitslose statt nach 80% des Bemessungsentgelts in Zukunft nur noch nach der tatsächlich gezahlten Arbeitslosenhilfe bemessen werden. Hierdurch will der Bund mehr als 17 Mrd. DM einsparen. Für die Langzeitarbeitslosen bedeutet dies allerdings eine weitere drastische Absenkung ihrer Altersvorsorgeleistung: für jedes Jahr, in dem sie arbeitslos sind, würde ein um 40% bis über 60% niedrigerer Wert als bei geltender Rechtslage in die Rentenberechnung eingehen."

Alternativen
Mit einer ausführlichen Kritik der Steuerreformpläne beendet die Memorandum-Gruppe den analytischen Teil, um dann noch einmal knapp gefasst ihre Alternativen darzustellen. Dabei wird der Schwerpunkt auf eine andere Steuerreform gelegt, deren erste Schritte vor allem in der Einführung der Vermögenssteuer, der Begrenzung des Ehegattensplittings und der Umwandlung der zu erhöhenden Kinderfreibeträge in einen existenssichernden Grundfreibetrag bestehen soll.
"Im Widerspruch zur Behauptung von der Alternativlosigkeit der Einsparpolitik durch die rot-grüne Bundesregierung steht die Tatsache: Allein durch die massive Einschränkung des Ehegatten- Splittings sowie die Einführung der Vermögenssteuer für private Haushalte könnten weit mehr als 30 Mrd. DM jährlich an Zusatzeinnahmen für die öffentlichen Haushalte gewonnen werden. Auf das staatliche Schrumpfungsprogramm, das gesamtwirtschaftlich schädlich wirkt und die Gerechtigkeitslücke weiter ausweitet, könnte also verzichtet werden", endet das alternative Gutachten.
Zur Beurteilung der kritischen Arbeit der Wissenschaftlergruppe sollte nicht hauptsächlich danach gefragt werden, welche Begrenzungen und Illusionen bestehen bleiben, sondern wie nützlich für die Debatte und die Kritik an der Regierung und wie förderlich für die weitere Bewegung gegen den Sozialabbau dieses Gutachten ist. Dazu sollte man es dann auch verwenden.

Adam Reuleaux

Das Memo kann bestellt werden bei: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Postfach 330447, 28334 Bremen.


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