Sozialistische Zeitung |
Die "Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik", bekannt unter dem Namen
"Memorandum-Gruppe", erstellt jedes Jahr ein alternatives Wirtschaftsgutachten, um der herrschenden Meinung neoliberaler
Gutachter und Wirtschaftstheoretiker etwas entgegenzusetzen. In diesem Herbst hat sie außer der Reihe ein Sondermemorandum erstellt,
das sich in zum Teil beißender Schärfe mit dem Wirtschafts- und Finanzkurs der SPD-Grünen-Regierung auseinandersetzt.
Eine so deutliche Kritik äußern zu müssen, hatte die Gruppe selber nach dem Regierungswechsel wohl nicht erwartet.
Insbesondere der Rücktritt von Lafontaine und das Schröder-Blair-Papier machten klar, dass die neoliberale Politik unter anderem
Vorzeichen weiter verfolgt würde.
Die Lektüre des Sondergutachtens lohnt sich auch für radikale
Linke, die sich in Gewerkschaften, Betrieben oder auf politischer Ebene mit der Schröder-Fischer-Regierung auseinandersetzen
müssen. Der Titel "Arbeit, Umwelt, Gerechtigkeit - Beschäftigungspolitik statt Sparbesessenheit" mag manchem zu
traditionell und "keynesianisch" klingen. Die Kritik am Regierungskurs fällt jedoch bemerkenswert klar aus, sie fügt
sich sehr wohl in die "praktische Kritik" an der Regierung auf der Straße. Einige Auszüge mögen das belegen.
Der versprochene Kurswechsel
Unter dieser Überschrift heißt es: "An die Stelle einer
gesamtwirtschaftlichen Perspektive für mehr Beschäftigung, soziale Gerechtigkeit und ökologischen Umbau ist allgemeine,
blinde und in jeder Hinsicht schädliche Sparwut getreten. Vertreter der Regierung versteigen sich sogar zu der Behauptung, dass die
Staatsverschuldung der größte Skandal in der Gesellschaft sei. Vor der Wahl hatten sie allerdings noch zutreffend festgestellt, dass
der grösste Skandal die anhaltende Massenarbeitslosigkeit sei. Diesen Perspektivwechsel halten wir für wirklich skandalös.
Er wird auch nicht dadurch besser, dass Schulden als Erblast für die Kinder und Enkel stigmatisiert werden. Denn die allgemeine
Sparbesessenheit ruiniert Wachstum und Beschäftigung; sie untergräbt den sozialen Zusammenhalt und vererbt den Kindern und
Enkeln eine schwache Wirtschaft, eine marode Infrastruktur und letztlich eine zerrüttete Gesellschaft.
Die Regierung könnte auch mit Recht behaupten, dass manche ihrer
sozialen Einschnitte härter sind als die ihrer Vorgänger. Insgesamt besteht die Gefahr, dass die unsoziale Angebotspolitik der
früheren Regierung im Kern fortgesetzt wird, mit teilweise veränderter Rhetorik ... mit einzelnen Abschwächungen, aber auch
mit Maßnahmen des Sozialabbaus, die von der alten Regierung trotz mehrerer Versuche nicht durchgesetzt werden konnten."
Die "Bilanz nach einem Jahr" lautet für die
Wissenschaftler: "beschäftigungspolitischer Stillstand". Dabei ist auch interessant, dass sie das bisher einzig greifbare
politische Instrument der Arbeitsmarktpolitik, das Jugendbeschäftigungsprogramm "Jump", sehr kritisch bilanzieren. "So
gelang es zwar vorübergehend, die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen unter zwanzig Jahren um rund 25.000 zu senken. Dies war aber nur
ein vorübergehender Effekt, da die Laufzeit der Maßnahmen auf maximal ein Jahr festgelegt wurde. Waren im Juni noch 82.000
Jugendliche arbeitslos, so ist dieser Wert durch das Auslaufen vieler Maßnahmen bereits im Juli wieder auf 119.000 angestiegen.
Darüber hinaus haben von gut 70.000 eingeleiteten Maßnahmen ... nur knapp 5000 ein betriebliches Arbeitsverhältnis
geschaffen..."
Ökosteuer
Die Kritik an der Umweltpolitik stellen die Wissenschaftler unter das
Motto "Unter dem Diktat der Wirtschaftsverbände", und belegen das an dem bekannten Verhältnis, in dem Betriebe und
Private zur Ökosteuer herangezogen werden: Der "Ansatz der Ökosteuer, alle Verursacher zu belasten, [wurde] auf eine
zusätzliche Verbrauchssteuer für Haushalte reduziert, die vor allem diejenigen zusätzlich trifft, die durch die Verwendung
des Ökosteueraufkommens für die Reduzierung der Rentenversicherungsbeiträge nicht profitieren - also RenterInnen,
Arbeitslose und StudentInnen". Sie habe deshalb "keine ökologische Lenkungsfunktion". "Der Atomausstieg wird
durch eine nur noch als erpresserisch zu bezeichnende Politik der Stromkonzerne, die mit Wirtschaftsminister Müller einen geschickten
Lobbyisten in der Regierung haben, vereitelt."
In der Verkehrspolitik kritisieren sie "die unmittelbare und
erfolgreiche Direktive des Vorstandsvorsitzenden des VW-Konzerns zum Abstimmungsverhalten der deutschen Regierung in
Brüssel", die "den Zeitpunkt der kostenlosen Rücknahmeverpflichtung um vier Jahre auf das Jahr 2006
verschoben" hat. "Ein zweites unentschuldbares Manko in der Verkehrspolitik ist die Tatenlosigkeit, mit der der Vertiefung der
Krise bei der Deutschen Bahn zugesehen wird. Dabei geht es ... um den nur noch als skandalös zu bezeichnenden weiteren drastischen
Personalabbau bei der Bahn und um die fehlende Wende in der Verkehrspolitik des Bundes und der EU, die die Wettbewerbsnachteile des
Schienenverkehrs prinzipiell beseitigen müsste."
Umverteilung
Die Umverteilung wird fortgesetzt, stellt das Sondermemorandum fest,
"die Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung bei Beziehern von Arbeitslosenhilfe damit gerechtfertigt, den Druck auf die
Annahme von (billiger) Erwerbsarbeit zu erhöhen". "Das Bündnis für Arbeit knüpft an den
ordnungspolitischen Vorstellungen der konservativ-liberalen Regierung an, setzt aber an die Stelle der Konfrontation zwischen Kabinett und
Kapital einerseits und Gewerkschaften andererseits die korporatistische Integration. Auf diese Weise sollen politische Widerstände
überwunden werden, die einer radikalen Umsetzung der Angebotspolitik bislang immer im Wege standen ... Während bei
Unternehmen und Beziehern von Vermögenseinkommen die Nettoeinkommen durch Steuerentlastungen erhöht werden sollen, um die
‚Investitionsneigung der gesellschaftlichen ‚Leistungsträger zu erhöhen, soll die Kürzung bei
Lohnersatzleistungen sowie die Ausweitung der Niedriglohnbeschäftigung umgekehrt die ‚Erwerbsneigung der Arbeitslosen
fördern."
Die Autoren kritisieren die Fortsetzung der Angebotspolitik und die
Sparpolitik, weil dadurch die Arbeitslosigkeit erhöht und die "Gerechtigkeitslücke" vergrößert
würde. Insbesondere an den Kürzungen im Haushalt des Ministeriums für Arbeit (Riester) lässt sich das nachweisen.
Dabei steht die "Rentenpolitik im Dienste der Haushaltssanierung", wie auch die "Alterssicherung vor dem
Systemwechsel". Dabei wird vor allem auf den geplanten Abschied von der paritätischen Finanzierung hingewiesen, die dann nicht
"eine Konsolidierung der Alterssicherung, sondern eine Umverteilung seiner Kosten zu Lasten der Beschäftigten und zugunsten der
Unternehmen" ist.
Die Absenkung der Rentenerhöhung auf die Preissteigerungsrate und
die Absenkung des Bundeszuschusses summieren sich über den Zeitraum 2000-2003 auf 26 Milliarden Mark, die den Rentnern, gemessen
am geltenden Recht, aus der Tasche gezogen werden. Dazu kommen noch einmal rund 22,5 Milliarden Mark, die die Arbeitslosen zur
Sparpolitik im gleichen Zeitraum beitragen sollen - zum Teil durch Anwendung der niedrigeren Anpassungssätze auf Arbeitslosengeld,
Arbeitslosenhilfe und Unterhaltsgeld sowie Anpassung der Sozialhilfe-Regelsätze, zum Teil durch Abschaffung der originären
Arbeitslosenhilfe. "Nicht ohne bittere Ironie" ist für die Autoren auch der Umstand, "dass ausgerechnet diejenigen, die
in der Vergangenheit vehement gefordert hatten, die Lücken in der Alterssicherung zu schließen, die durch unstete
Erwerbsverläufe - allem voran Arbeitslosigkeit - aufgerissen werden, jetzt ihren ganz eigenen Beitrag dazu leisten, dass diese
Lücken künftig noch größer ausfallen. Denn nach dem Willen der Bundesregierung sollen die Renten- und
Pflegeversicherungsbeiträge für Langzeitarbeitslose statt nach 80% des Bemessungsentgelts in Zukunft nur noch nach der
tatsächlich gezahlten Arbeitslosenhilfe bemessen werden. Hierdurch will der Bund mehr als 17 Mrd. DM einsparen. Für die
Langzeitarbeitslosen bedeutet dies allerdings eine weitere drastische Absenkung ihrer Altersvorsorgeleistung: für jedes Jahr, in dem sie
arbeitslos sind, würde ein um 40% bis über 60% niedrigerer Wert als bei geltender Rechtslage in die Rentenberechnung
eingehen."
Alternativen
Mit einer ausführlichen Kritik der Steuerreformpläne beendet
die Memorandum-Gruppe den analytischen Teil, um dann noch einmal knapp gefasst ihre Alternativen darzustellen. Dabei wird der
Schwerpunkt auf eine andere Steuerreform gelegt, deren erste Schritte vor allem in der Einführung der Vermögenssteuer, der
Begrenzung des Ehegattensplittings und der Umwandlung der zu erhöhenden Kinderfreibeträge in einen existenssichernden
Grundfreibetrag bestehen soll.
"Im Widerspruch zur Behauptung von der Alternativlosigkeit der
Einsparpolitik durch die rot-grüne Bundesregierung steht die Tatsache: Allein durch die massive Einschränkung des Ehegatten-
Splittings sowie die Einführung der Vermögenssteuer für private Haushalte könnten weit mehr als 30 Mrd. DM
jährlich an Zusatzeinnahmen für die öffentlichen Haushalte gewonnen werden. Auf das staatliche Schrumpfungsprogramm,
das gesamtwirtschaftlich schädlich wirkt und die Gerechtigkeitslücke weiter ausweitet, könnte also verzichtet werden",
endet das alternative Gutachten.
Zur Beurteilung der kritischen Arbeit der Wissenschaftlergruppe sollte
nicht hauptsächlich danach gefragt werden, welche Begrenzungen und Illusionen bestehen bleiben, sondern wie nützlich für
die Debatte und die Kritik an der Regierung und wie förderlich für die weitere Bewegung gegen den Sozialabbau dieses Gutachten
ist. Dazu sollte man es dann auch verwenden.
Adam Reuleaux