Sozialistische Zeitung |
Der Jubel über den Fall der Mauer aus Stein und Stacheldraht war vor zehn Jahren gewaltig. Unbemerkt
blieb, dass in den zehn Jahren danach eine unsichtbare Mauer zwischen Ost und West erhalten blieb. Das geht aus einer Untersuchung des
Londoner Instituts Economist Intelligence Unit (EIU) hervor. Der "Wachstumsschub in Osteuropa wird auch in den zehn nächsten
Jahren ausbleiben", lautet die Prognose der britischen Wissenschaftler. Einige Länder werden nicht einmal die Einbrüche des
Mauerfall-Jahres 1989 wieder wett machen. Das Bruttoinlandsprodukt in den neun wichtigsten vom "Sozialismus" befreiten Staaten
beläuft sich zehn Jahre danach im Schnitt auf nur zwei Drittel des Niveaus vor dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion. Nur Polen
produzierte rund ein Fünftel mehr als vor einer Dekade.
An Wachstumsbranchen nennt das Londoner Institut die schleppende
Umsetzung von Reformen, Finanzprobleme und das Aufflammen von politischen Konflikten. Der Eintritt einiger Ost-Länder in die
Europäische Union werde ihnen zwar mittelfristig Vorteile bringen, kurzfristig jedoch "Anpassungskosten" verursachen.
Bis zum Jahre 2009 würde Polen mit 4,6% und Ungarn mit 4,3% die
höchsten Zuwachsraten erzielen. Bulgarien würde aber mit einem Plus von 3,8% im Jahre 2009 erst wieder die Leistung von 1989
(!) erreichen. Ungarn, die tschechische Republik und die Slovakei haben bereits wieder den Stand von 1989 erreicht. Russland allerdings
werde im Jahre 2009 erst wieder 79% des Bruttoinlandsprodukts vom Jahr des Mauerfalls 1989 erwirtschaften und die Ukraine sogar nur 50%.
In ihrer in Le Monde Diplomatique (November 1999)
veröffentlichten tiefschürfenden Analyse über den "Wandel in Osteuropa und die Totgewichte der alten
Gesellschaften" vertritt Catherine Samary die Auffassung: "Der Parteienpluralismus und der Fall der Mauer waren für
Osteuropa zweifellos ein Gewinn. Dagegen lassen sich die Mauern des Geldes nicht so leicht niederreißen. Die wirklich bedeutsamen
Themen - etwa ethische Fragen, oder Alternativkonzepte - werden nicht angesprochen. Denn das vorherrschende liberale Denken setzt die
Entpolitisierung der Wirtschaft als Notwendigkeit voraus. Als wären die liberalen Wirtschaftsprinzipien nicht politisch, wenn sie
Zwangskollektivierung durch Zwangsprivatisierung ersetzen; oder die Diktate des ‚wissenschaftlichen Sozialismus durch die angeblich
universell wirksamen ‚Gesetze eines kapitalistischen Marktes, der den gesellschaftlichen Zerfall beschleunigt: oder die
Bürokratie und die staatlichen Monopole durch einen privatisierten Staat, der von einer monopolistisch organisierten Mafia
abhängig ist; oder die Bevorzugung des Sozial- und Kulturbudgets durch Militärausgaben, damit man die zunehmende Unordnung
dieser regressiven ‚Ordnung eindämmen kann."
Seltsamerweise geht das Londoner Wirtschaftsinstitut, das für die
Oststaaten nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion eine äußerst pessimistische Prognose aufzeigt, mit keinem
Sterbenswörtchen auf die politischen und sozialen Gefahren ein, die eine solche Entwicklung heraufbeschwören würde.
Auch hier wiederum ist es Catherine Samary, die uns mit ihrer Analyse nicht im Stich lässt, wenn sie schreibt:
"Der wirtschaftliche, gesellschaftliche, ökologische und
politische Schaden, den das ehemalige System angerichtet hat, wird unentwegt registriert und bemessen. Aber mit welchem Maßstab und
nach welchen Kriterien? Und wer hat das Recht, Art und Ausmaß der notwendigen Veränderungen zu bestimmen? Wenn die alte
Vollbeschäftigung schlecht war, soll dann die neue Arbeitslosigkeit gut sein? Was ist gewonnen, wenn es keine Schlangen mehr vor den
Geschäften gibt, aber unerschwingliche Waren in den Schaufenstern liegen? Wenn die Ausweitung von Markt und Geld letzten Endes
nicht dazu führt, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich besser mit Waren und Dienstleistungen versorgen kann, sondern nur einer
Minderheit zugute kommt, die sich noch mehr Wertpapiere und Luxusgüter kaufen kann, dann steuern wir auf soziale Unruhen zu, die
energische Rechtsextremisten, die der ‚kosmopolitischen Globalisierung feindlich gegenüber stehen, zu ihren Zwecken
ausnützen können."
Allerdings, fügt sie sogleich hinzu, gebe es solche Probleme nicht nur
in den Ländern der "Transformation", sondern weltweit. Denn wir sitzen alle im gleichen Boot der neoliberalen
Globalisierung. Durch "Euroland" werde dieser Prozess sogar beschleunigt.
Es bleibt uns deshalb nicht erspart, gegen den Köhlerglauben
anzugehen, dass die Verteidigung des eigenen "nationalen Standorts" Schutz biete gegen die Gefahren, die durch Fusionen,
feindliche Übernahmen, die globalisierte Weltwirtschaft heraufbeschworen werden. Globalisierung kann auf zweifache Weise erfolgen.
Entweder über gnadenlosen Wettbewerb, in dem die Starken, die Mächtigen siegen und die Schwachen "ausgrenzen",
wie das beschönigend heißt. Oder aber als solidarischer Akt, der die politische Entscheidung erforderlich macht, bei den
Superreichen Mittel abzuschöpfen, um allen ein menschenwürdiges Leben auf unserem Erdball ermöglichen zu können.
Aus einem Bericht der UNO vom Jahre 1998 geht hervor: Würde
man den 225 reichsten Milliardären auf unserer Welt nur 4% ihres Vermögens abschöpfen, könnten mit diesem Mitteln
problemlos die Grundbedürfnisse der Weltbevölkerung an Nahrung, Bildung, Trinkwasser und Gesundheit gedeckt werden.
Jakob Moneta
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