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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 25.11.1999, Seite 3

Gesundheitsreform 2000

Die englische Krankheit

Essen. Freundlich aber ein wenig verwundert bleibt der Herr stehen. "Ich versteh‘ nicht, wogegen Sie hier protestieren. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus und bin sehr gut behandelt worden!" Die Krankenschwester hinter dem ÖTV-Infostand, aufgestellt direkt gegenüber der Krupp-Klinik in Essen, geht zunächst in die Defensive. "Wir wollen ja nur, dass das so bleibt, dass die Gesundheitsreform von Frau Minister Fischer die Arbeitshetze nicht weiter verschärft."
Übermüdete Ärzte, Pflegekräfte im Laufschritt - da weiß auch der frisch Entlassene seine kleinen Geschichten zu erzählen. "Erst hieß es ja: hinten anstellen, 6-8 Monate Wartezeit bis zum OP-Termin. Da habe ich Ihnen meine Zusatzversicherung gezeigt. Und plötzlich fragten die mich dann ganz anders: ‚Wann passt es Ihnen dennn?‘ Nur drei Wochen später lag ich auf dem OP-Tisch beim Professor und kriegte meine neue Hüfte." Ein wenig betreten schaut die gewerkschaftliche Aktivistin von ihrem Gesprächspartner zu dem Spruchband über dem Aktionsstand. Da lesen wir: "Rundumversorgung für die Masse, nicht nur für die erste Klasse!"
Ortswechsel London. Mitte Oktober kündigte die britische Blair- Regierung an, sie wolle eines ihrer fünf zentralen Wahlversprechen nochmal überdenken - die Verkürzung der Wartelisten im staatlichen Gesundheitswesen um 100.000. Offenbar sind alle Versuche gescheitert, allein mit adminstrativen Mitteln dieses Erbe der rigiden Sozialamputationen während der Thatcher-Ära wieder halbwegs in den Griff zu bekommen.
Die Verantwortlichen in den Kliniken haben trotz der beschränkten Mittel auftragsgemäß die zum Teil jahrelangen Wartelisten der Patienten abgebaut. Sie haben sich dazu schlicht nur noch auf die minderschweren Fälle konzentriert und aufwendige Eilfälle, mit Herzerkrankungen oder Tumorverdacht, zurückgestellt. Mit dramatischen Kosequenzen für einige der Schwerkranken. Und die aufgeschobenen Behandlungen kamen schließlich oft teurer.
Ortswechsel Berlin. Der freie Blick über den Ärmelkanal, auf die Folgen einer Rationierungspolitik im Gesundheitswesen mit allen im Gefolge auftretenden irrwitzigen Verzerrungen und sozialen Elend, dieser Blick ist offenbar verstellt für die "rot-grünen" Gesundheitsstrategen im Ministerium der Grünen Andrea Fischer.
Was sie vollmundig "Gesundheitsreform 2000" tauften, wird zerfleddert von der Opposition und dem Bundesrat zu weiterem Stückwerk. In einer Reihe mit den zahlreichen Umstruckturierungen und Reformen der vergangenen 15 Jahre wird sie auch deren Schicksal erleiden. Ein bis zwei Jahre lang werden die Krankenkassen Überschüsse bei den Einnahmen vermelden; dann werden die Akteure vor Ort sich, ihre Investitionen und Patientenbehandlungen auf die neuen Lage umgestellt haben. Und wir werden erneut dem Trommelfeuer ausgesetzt: explodierende Kosten, streichende Kassen, drohende Erhöhung der Beitragssätze…

Reden wir über‘s Geld
Das Gerede von einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen wird durch das andauernde Nachplappern nicht wahrer. Der Anteil der gesetzlichen Krankenversichung (GKV) am Volkseinkommen (dem Bruttoinlandsprodukt [BIP]) bleibt seit zwei Jahrzehnten nahezu unverändert. Durch die massiven Kürzungen und Selbstbeteiligungen wurde er sogar von 6,7% in 1996 auf 6,2% im vergangenen Jahr gedrückt.
Wahr ist, die Einnahmen der Krankenkassen hängen nicht am stetig steigenden allgemeinen Wohlstand, sondern an der viel deprimierenderen Entwicklung der Löhne und Gehälter. Schlimmer noch - die gesetzlichen und die Ersatzkassen sind Zwangsversicherungen nur für uns, die nicht über ein bestimmtes Einkommen hinausgelangen, über die "Bemessungsgrenze". Wer die Lage in unseren Geldbeuteln aufmerksam mitverfolgt, weiß: Hier explodiert nichts; wir haben es zu tun mit einer Krise bei den Einnahmen. Die sinkende Lohnquote am Volkseinkommen, binnen 16 Jahren von 76,9 auf 68,2%, trifft uns und die Krankenkassen.
Über diese Folgen der neoliberalen Umverteilungspolitik will die Gesundheitsministerin weder selbst reden noch andere lassen. Die grüne Reformerin schwor ihre in sozialen Fragen eh nicht übermäßig sensiblen Parteifunktionäre im April zum Auftakt der Diskussion um das Gesetzvorhaben in Buchformat auf das Verschweigen ein: Deshalb "dürfen wir zur Zeit keine Diskussion über die Frage beginnen, wie wir zusätzlich Geld in das Gesundheitssystem bringen". Zukünftige Zuwächse sollen sich weder am Bedarf noch am medizinischen Fortschritt orientieren, sondern allein an der Entwicklung der Löhne und Renten.
Weil er ebenfalls viel Geld im Auge hat, schwebt Michael Heise, Chefanalyst der DG-Bank, eine grundlegende Reform des Gesundheitswesen vor - mit ganz anderer Schieflage. Ende Oktober berichtetet er der Presse, weil es zunehmend alte Menschen gäbe würde deren Bedarf und Nachfrage nach Medikamenten zukünftig drastisch steigen. "Überzogene staatliche Reglementierungen" hemmen die deutsche Pharmaindustrie. Die würde begehrlich hinüber schauen - nein, nicht in Tony Blairs überfüllte Hospitäler - hinüber auf den US-Markt, wo Präsident Clinton bis heute sein Versprechen eines umfassenden Krankenschutzes nicht umgesetzt hat. Dort, so Heise, würden die Bedürfnisse und die Zahlungsbereitschaft der Menschen über das Angebot im Gesundheitssektor entscheiden. Dort, so prognostiziert der oberste Volkswirt der DG-Bank, würden darum die Arzneiumsätze um knapp ein Zehntel steigen - jährlich. In Europa könnten die Pharmakonzerne ein Plus von 5-6% im Jahr erwarten - lediglich.
Neben solchen Mitnahmen der Aktionäre bei Bayer und Ratiopharm explodieren auch die Leistungszahlen, welche die niedergelassenen Ärzte und die Krankenhäuser den Kassen quartalsweise in Rechnung stellen. Im Jahre 1990 wurden 13,8 Millionen Fälle in den Kliniken behandelt. Die durchschnittlichen Verweildauer der Patienten wurde von 15,3 auf 11 Tage verkürzt. So schaffte man trotz Bettenabbau und Krankenhausschließungen 1997 schon 15,5 Mio. Behandlungen.

Was droht?
Zwei Teilprojekte der Gesundheitsreform werden offenbar in den kommenden Monaten in den parlamentarischen Hürden hängen bleiben. Uns muss hier nicht scheren, was dabei den Ausschlag gibt: Ob der dieser Regierung eigene Dilettantismus, die Intrigen des sozialdemokratischen Mitspielers Dreßler, die populistische Blockadepolitik der Christdemokraten oder die auseinander driftenden Länderinteressen im Bundesrat. Die Monistik und das Globalbudget sind jedoch nur vorläufig vom Tisch.
Mit dem Durchsetzen der "Monistik" würde die Verantwortung für die flächendeckende und umfassende Gesundheitsversorgung vollständig von der Politik auf die Krankenkassen übergehen. Man hofft, sich damit das lästiger werdende Zukunftsthema vom Hals zu schaffen. Das "Globalbudget" würde die bisherige Deckelung der einzelnen Krankenhäuser ablösen. Die Klinikmanager stöhnen zwar unter der bisherigen Praxis. Denn die Kassen lassen sich trotz steigender Fallzahlen kaum Zuwächse für das einzelne Haus abhandeln. Doch wenn die vielen kleinen Budgets plötzlich aufgehoben würden, wenn alle Krankenhäuser für den Verteilungskampf um die eigene Portion aus dem globalen großen Finanztopf mobilisieren würden, wenn die Kassen dabei den Schiedsrichter machten, dann gäbe es mindestens so viele Verlierer wie Gewinner.
Drei weitere Teilprojekte der Gesundheitsreform, so plant es die frustrierte Gesundheitsminsterin jetzt, sollen mit der einfachen Regierungsmacht umsetzbar sein. Zunächst die Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung. Hierdurch will man Doppeldiagnostik und Hotelleistungen der Krankenhäuser einsparen. Das klingt nach gesundem Menschenverstand - und wird wohl wieder mal danebentreffen. Denn das Leistungsspektrum und seine Kosten werden aus den stationären in den ambulanten Bereich nur verlagert, weg von den zumindest vordergründig gemeinnützigen Krankenhäusern und hin zu den durchaus eigennützigen niedergelassenen Ärzten. Und die haben sich schon mit dem ambulanten Operieren weite Verdienstfelder erschlossen.
Zum zweiten werden zahlreiche neue Fallpauschalen definiert werden. Seit drei Jahren bestehen etliche Pauschalen für chirurgische und orthopädische Standardverfahren: Ein neues Hüftgelenk bringt da 10.667 DM und 4 Pfennige, unabhängig davon, wie viele Wochen die Patientin danach noch auf Station gepflegt wird oder ob es Komplikationen gibt. Auch dies führt nicht unbedingt zu gesundem Sparen: Für den mit modernster "Schlüssellochtechnik" entfernten Blinddarm gibt es knapp 4000 DM; für das in der Hälfte der Fälle genauso erfolgreiche konservative Zuwarten bei der Blinddarmreizung mit einem Eisbeutel und Beobachtung gäbe es jedoch nur den normalen Tagessatz. Über ähnliche Fehlsteuerungen berichteten wir zu Beginn aus Großbritannien.
Zum dritten die Qualitätssicherung. Die einzige nennenswerte Qualitätsmaßnahme im Gesundheitswesen war das Verfahren zur Pflegepersonalbemessung PPR, das Fischers Vorgänger Seehofer unter dem Eindruck des Pflegenotstands 1992 durchsetzte. Da wurden die verordneten Behandlungen der Ärzte nach dem dafür notwendigen Pflegeaufwand bewertet und dokumentiert. Am Jahresende mussten die Kassen tiefer in die Tasche greifen, um die Personalschlüssel um zehntausende Stellen nachzubessern.
Doch schon 1995, mit der Deckelung der Budgets der Krankenhäuser, wurde diese Regelung gestrichen. Seitdem können die Klinikärzte notwendige Maßnahmen anordnen, für deren korrekte Durchführung auf den Stationen das Pflegepersonal fehlt.
Es gibt bisher keinerlei Anzeichen, das aus dem Bundesministerium diesmal ähnlich einschneidende Impulse kommen werden. Denn wenn in den wirtschaftlichen Randzonen Deutschlands die Qualität der Krankenversorgung verfällt, wenn die Wartelisten anwachsen, wenn Kranke unversorgt bleiben, weil sich Behandeln nicht mehr "rechnet", dann wird man davon auf den Berliner Regierungsbänken gar nicht so genau wissen wollen.
Tobias Michel
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