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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 25.11.1999, Seite 4

Chancenlos

Kinder im Krieg niedriger Intensität

Es ist Krieg: in Mexiko wie in vielen anderen Regionen der Welt. Die meisten sind interne, nicht erklärte Kriege, "leise" Kriege, weil sie nicht von der veröffentlichten Meinung wahrgenommen werden, viele werden auch "Krieg niedriger Intensität" genannt. Die Kriege der Gegenwart richten sich in erster Linie gegen die Zivilbevölkerung, vor allem gegen Kinder. In diesem Jahrhundert stieg die Zahl der Opfer unter den Zivilisten von 5 auf mittlerweile 90%. Kinder - so UNICEF - geraten dabei nicht etwa zufällig ins Kreuzfeuer, sondern sind oft absichtlich Zielscheibe militärischer Angriffe.
Auch in Mexiko sind es vor allem Kinder, die vom Krieg niedriger Intensität in Chiapas und von der Militarisierung in vielen anderen ländlichen und damit vor allem von Indígenas bewohnten Gebieten betroffen sind. Militärische, paramilitärische und verstärkte Polizeigewalt trifft sie vor dem Hintergrund der strukturellen Gewalt der Verelendung, des prekären alltäglichen Überlebenskampfes, der marktorientierten Zerschlagung des Gemeindeeigentums an Land.
Ungeachtet der Rhetorik der mexikanischen Regierung, setzen die Herrschenden in der Praxis auf eine militärische, repressive "Lösung" der bewaffneten Konflikte in Chiapas, Oaxaca und Guerrero, den Bundesstaaten mit der höchsten Indígena-Bevölkerung.
Der Aufbau und die Ausrüstung paramilitärischer Banden ist Teil der militärischen Strategie, um die soziale Unterstützung vor allem der Zapatistas in Chiapas zu unterminieren, ein Klima von Terror und Gewalt zu erzeugen, bewaffnete Gruppen zur Kontrolle in den zapatistischen Gebieten "zur Hand" zu haben und somit die zapatistische Befreiungsorganisation EZLN immer weiter einzukreisen.
Das Auftauchen der Revolutionären Befreiungsarmee (EPR) in Guerrero und Oaxaca diente als Begründung für die Militarisierung in diesen Regionen, für militärische und polizeiliche Operationen, für Verhaftungen, Verschwindenlassen und Vertreibung ganzer Dorfgemeinschaften.
Überall ähneln sich militärische und polizeiliche Operationen: Besetzung der Dörfer, Hausdurchsuchungen und damit verbunden Zerstörung oder Raub der vorhandenen Arbeitsmittel, Schlachten oder Raub der wenigen Haustiere, Einschüchterungen, Verhaftungen, physische und verbale Gewalt. Und immer sind Kinder Zeugen und oft auch Opfer.
Die Angst vor der (para)militärischen Gewalt und dem sich wiederholenden Terror hat allein in Chiapas 10.000 Menschen, unter ihnen mehr als 5000 Kinder zur Flucht gezwungen. "Wir wissen nicht mehr, wohin wir eigentlich gehören, denn dies hier ist nicht unsere Gemeinde, aber zurück können wir auch nicht, da ich Todesdrohungen bekommen habe", beschreibt Alonso Méndez, einer der Flüchtlinge, das Gefühl der "Entwurzelung".
Der Prozess der Vertreibung bzw. Flucht zerstört - so Onécimo Hidalgo und Gustavo Castro in einer der wenigen Untersuchungen über die Auswirkungen der militärischen Gewalt in Chiapas - die für die Indigena-Bevölkerung wichtigen Gemeindestrukturen und -beziehungen. Der Verlust der vertrauten Umgebung, die ständige Angst und Unsicherheit, die Strapazen der Flucht und die Situation in den Flüchtlingslagern sind vor allem für Kinder, aber auch die Erwachsenen traumatische Erfahrungen, die die seelische Gesundheit schwer belasten. Mit "große Sorgen", "Nervosität", "Angstzuständen", "großer Traurigkeit", versuchten Erwachsene ihre vorherrschenden Gefühle zu beschreiben.
Kinder erleben all diese Probleme ganz ähnlich. Was bei ihnen anders ist - so die Psychologin Simone Lindorfer in ihrem Aufsatz "Wenn die Welt keine Sicherheit mehr bietet" - ist ihre noch nicht abgeschlossene intellektuelle, emotionale und seelische Entwicklung sowie ihr noch eingeschränktes Sprachvermögen. Dadurch stehen ihnen auch weniger Möglichkeiten zur Verfügung, das Erlebte in einen bestehenden Lebenszusammenhang zu integrieren. Oft zeigen sie regressives Verhalten. Vor allem jüngere Kinder werden "sprachlos", sie sprechen nicht mehr oder nur noch selten und oft weigern sie sich zu essen. Es ist, als ob dies ihr einziger machtvoller Protest gegen eine Welt ist, die ihnen keine Sicherheit und Geborgenheit bieten kann.
Für die Indígenas bedeutet die Flucht bzw. Vertreibung und die damit verbundene Zerstörung der Gemeindestrukturen und -beziehungen neben der permanenten Angst, der Traurigkeit und dem Gefühl der Ohnmacht und Verletzbarkeit auch den Verlust der Identität. In der Indígena-Kultur, so Hidalgo und Castro, ist die Identität eng mit Erde und Mais als Haupternährungsquelle verbunden, aber auch mit der Rolle und Funktion, die jede(r) innerhalb der Gemeindestrukturen einnimmt.
Der Verlust dieser identitätsprägenden Elemente bedeutet für die betroffenen Indigena-Familien eine Bedrohung, deren Ausmaß und Folgen noch nicht untersucht wurden. Klar ist nur, dass sich in Chiapas, ähnlich wie in anderen Kriegs- und Konfliktgebieten, die erfahrene Gewalt und Aggressionen innerhalb der Familien widerspiegeln und vielfach auch reproduzieren. Darüber hinaus erschweren die Unsicherheit und Ungewissheit über das, was kommen wird und der Schmerz über das Verlorene die gemeinsame Aufarbeitung des Erlebten.
Auch in anderen Regionen Mexikos zeigen Kinder, die Zeugen und Opfer von Gewalt und Vertreibung wurden, ähnliche Symptome wie die chiapanekischen Kinder: Angstzustände, permanentes Weinen, Schlafstörungen, Nervosität, Apathie, Mißtrauen, Reizbarkeit und Wachstumsstörungen. "Sie weinen viel, nässen sich ein, spielen nicht mehr, sprechen kaum noch und wachen nachts schreiend und zitternd auf", beschrieb eine Frau das Verhalten ihrer Kinder.
Für die Kinder und Jugendlichen auf dem Balkan forderte vor kurzem der Leiter der Flüchtlingsambulanz des Universitätskrankenhauses Eppendorf auf dem Kongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Art "seelischen Marshallplan". Denn, so seine Begründung, "Kinder, die mit ansehen mußten, wie ihre Eltern gefoltert, wie ihre Verwandten ermordet wurden, die unter den Strapazen der Flucht und der damit verbundenen Angst leiden mußten - diese Kinder sind durch den Krieg psychisch schwer geschädigt und haben ihr Leben lang mit diesen Eindrücken zu tun, wenn sie nicht aufgearbeitet werden." Materielle Unterstützung für den Aufbau von Kindergärten und Schulen reicht nicht aus, denn die Hilfe muss tiefer gehen, muss Psychologie und Psychiatrie mit einschließen.
Auch für die Kinder in Chiapas, Guerrero, Oaxaca und in anderen militarisierten Konfliktgebieten Mexikos, die nicht im Mittelpunkt der veröffentlichten Meinung stehen, geht es um beides: materielle Hilfe und Hilfe für die Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse in ihren Dorfgemeinschaften. Doch Simone Lindorfer hat Recht, wenn sie immer wieder betont: "Traumatisierte Menschen sind nicht krank, sie verhalten sich im Grunde genommen normal in einer abnormalen Situation. Was krank ist, sind Strukturen, die Traumatisierung verursachen. Wenn sie nicht in Angriff genommen werden, bleibt Traumaarbeit auf den frustrierenden Aspekt der Oberflächenreparatur ohne Garantieschein beschränkt, weil nicht an den Ursachen gearbeitet wird."
Jutta Klaß
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