Sozialistische Zeitung |
Es ist Krieg: in Mexiko wie in vielen anderen Regionen der Welt. Die meisten sind interne, nicht
erklärte Kriege, "leise" Kriege, weil sie nicht von der veröffentlichten Meinung wahrgenommen werden, viele werden
auch "Krieg niedriger Intensität" genannt. Die Kriege der Gegenwart richten sich in erster Linie gegen die
Zivilbevölkerung, vor allem gegen Kinder. In diesem Jahrhundert stieg die Zahl der Opfer unter den Zivilisten von 5 auf mittlerweile
90%. Kinder - so UNICEF - geraten dabei nicht etwa zufällig ins Kreuzfeuer, sondern sind oft absichtlich Zielscheibe militärischer
Angriffe.
Auch in Mexiko sind es vor allem Kinder, die vom Krieg niedriger
Intensität in Chiapas und von der Militarisierung in vielen anderen ländlichen und damit vor allem von Indígenas
bewohnten Gebieten betroffen sind. Militärische, paramilitärische und verstärkte Polizeigewalt trifft sie vor dem
Hintergrund der strukturellen Gewalt der Verelendung, des prekären alltäglichen Überlebenskampfes, der marktorientierten
Zerschlagung des Gemeindeeigentums an Land.
Ungeachtet der Rhetorik der mexikanischen Regierung, setzen die
Herrschenden in der Praxis auf eine militärische, repressive "Lösung" der bewaffneten Konflikte in Chiapas, Oaxaca
und Guerrero, den Bundesstaaten mit der höchsten Indígena-Bevölkerung.
Der Aufbau und die Ausrüstung paramilitärischer Banden ist
Teil der militärischen Strategie, um die soziale Unterstützung vor allem der Zapatistas in Chiapas zu unterminieren, ein Klima von
Terror und Gewalt zu erzeugen, bewaffnete Gruppen zur Kontrolle in den zapatistischen Gebieten "zur Hand" zu haben und somit
die zapatistische Befreiungsorganisation EZLN immer weiter einzukreisen.
Das Auftauchen der Revolutionären Befreiungsarmee (EPR) in
Guerrero und Oaxaca diente als Begründung für die Militarisierung in diesen Regionen, für militärische und
polizeiliche Operationen, für Verhaftungen, Verschwindenlassen und Vertreibung ganzer Dorfgemeinschaften.
Überall ähneln sich militärische und polizeiliche
Operationen: Besetzung der Dörfer, Hausdurchsuchungen und damit verbunden Zerstörung oder Raub der vorhandenen
Arbeitsmittel, Schlachten oder Raub der wenigen Haustiere, Einschüchterungen, Verhaftungen, physische und verbale Gewalt. Und immer
sind Kinder Zeugen und oft auch Opfer.
Die Angst vor der (para)militärischen Gewalt und dem sich
wiederholenden Terror hat allein in Chiapas 10.000 Menschen, unter ihnen mehr als 5000 Kinder zur Flucht gezwungen. "Wir wissen
nicht mehr, wohin wir eigentlich gehören, denn dies hier ist nicht unsere Gemeinde, aber zurück können wir auch nicht, da
ich Todesdrohungen bekommen habe", beschreibt Alonso Méndez, einer der Flüchtlinge, das Gefühl der
"Entwurzelung".
Der Prozess der Vertreibung bzw. Flucht zerstört - so
Onécimo Hidalgo und Gustavo Castro in einer der wenigen Untersuchungen über die Auswirkungen der militärischen
Gewalt in Chiapas - die für die Indigena-Bevölkerung wichtigen Gemeindestrukturen und -beziehungen. Der Verlust der vertrauten
Umgebung, die ständige Angst und Unsicherheit, die Strapazen der Flucht und die Situation in den Flüchtlingslagern sind vor allem
für Kinder, aber auch die Erwachsenen traumatische Erfahrungen, die die seelische Gesundheit schwer belasten. Mit "große
Sorgen", "Nervosität", "Angstzuständen", "großer Traurigkeit", versuchten
Erwachsene ihre vorherrschenden Gefühle zu beschreiben.
Kinder erleben all diese Probleme ganz ähnlich. Was bei ihnen
anders ist - so die Psychologin Simone Lindorfer in ihrem Aufsatz "Wenn die Welt keine Sicherheit mehr bietet" - ist ihre noch nicht
abgeschlossene intellektuelle, emotionale und seelische Entwicklung sowie ihr noch eingeschränktes Sprachvermögen. Dadurch
stehen ihnen auch weniger Möglichkeiten zur Verfügung, das Erlebte in einen bestehenden Lebenszusammenhang zu integrieren. Oft
zeigen sie regressives Verhalten. Vor allem jüngere Kinder werden "sprachlos", sie sprechen nicht mehr oder nur noch selten
und oft weigern sie sich zu essen. Es ist, als ob dies ihr einziger machtvoller Protest gegen eine Welt ist, die ihnen keine Sicherheit und
Geborgenheit bieten kann.
Für die Indígenas bedeutet die Flucht bzw. Vertreibung und
die damit verbundene Zerstörung der Gemeindestrukturen und -beziehungen neben der permanenten Angst, der Traurigkeit und dem
Gefühl der Ohnmacht und Verletzbarkeit auch den Verlust der Identität. In der Indígena-Kultur, so Hidalgo und Castro, ist
die Identität eng mit Erde und Mais als Haupternährungsquelle verbunden, aber auch mit der Rolle und Funktion, die jede(r)
innerhalb der Gemeindestrukturen einnimmt.
Der Verlust dieser identitätsprägenden Elemente bedeutet
für die betroffenen Indigena-Familien eine Bedrohung, deren Ausmaß und Folgen noch nicht untersucht wurden. Klar ist nur, dass
sich in Chiapas, ähnlich wie in anderen Kriegs- und Konfliktgebieten, die erfahrene Gewalt und Aggressionen innerhalb der Familien
widerspiegeln und vielfach auch reproduzieren. Darüber hinaus erschweren die Unsicherheit und Ungewissheit über das, was
kommen wird und der Schmerz über das Verlorene die gemeinsame Aufarbeitung des Erlebten.
Auch in anderen Regionen Mexikos zeigen Kinder, die Zeugen und Opfer
von Gewalt und Vertreibung wurden, ähnliche Symptome wie die chiapanekischen Kinder: Angstzustände, permanentes Weinen,
Schlafstörungen, Nervosität, Apathie, Mißtrauen, Reizbarkeit und Wachstumsstörungen. "Sie weinen viel,
nässen sich ein, spielen nicht mehr, sprechen kaum noch und wachen nachts schreiend und zitternd auf", beschrieb eine Frau das
Verhalten ihrer Kinder.
Für die Kinder und Jugendlichen auf dem Balkan forderte vor kurzem
der Leiter der Flüchtlingsambulanz des Universitätskrankenhauses Eppendorf auf dem Kongress für Kinder- und
Jugendpsychiatrie eine Art "seelischen Marshallplan". Denn, so seine Begründung, "Kinder, die mit ansehen
mußten, wie ihre Eltern gefoltert, wie ihre Verwandten ermordet wurden, die unter den Strapazen der Flucht und der damit verbundenen
Angst leiden mußten - diese Kinder sind durch den Krieg psychisch schwer geschädigt und haben ihr Leben lang mit diesen
Eindrücken zu tun, wenn sie nicht aufgearbeitet werden." Materielle Unterstützung für den Aufbau von
Kindergärten und Schulen reicht nicht aus, denn die Hilfe muss tiefer gehen, muss Psychologie und Psychiatrie mit einschließen.
Auch für die Kinder in Chiapas, Guerrero, Oaxaca und in anderen
militarisierten Konfliktgebieten Mexikos, die nicht im Mittelpunkt der veröffentlichten Meinung stehen, geht es um beides: materielle
Hilfe und Hilfe für die Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse in ihren Dorfgemeinschaften. Doch Simone Lindorfer hat Recht, wenn
sie immer wieder betont: "Traumatisierte Menschen sind nicht krank, sie verhalten sich im Grunde genommen normal in einer abnormalen
Situation. Was krank ist, sind Strukturen, die Traumatisierung verursachen. Wenn sie nicht in Angriff genommen werden, bleibt Traumaarbeit
auf den frustrierenden Aspekt der Oberflächenreparatur ohne Garantieschein beschränkt, weil nicht an den Ursachen gearbeitet
wird."
Jutta Klaß
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