Sozialistische Zeitung |
Auch wenn man 38 Jahre in der Hoechst AG als Angestellter gearbeitet und diese Zeit politisch bewusst
wahrgenommen hat, kennt man immer noch nicht die wirklichen Beweggründe der Mächtigen, die das Geschehen in einem
Unternehmen wie die Hoechst AG bestimmen. Welche Rolle spielte z.B. in der jüngeren Geschichte der Hoechst AG die Tatsache, dass
Ende der 80er Jahre die deutschen Großbanken mit Großinvestoren zusammen einen Fonds bildeten, der sich 10% der Hoechst AG
Aktien sicherte? Dieser Schritt wurde in der Öffentlichkeit mit der Absicht begründet, die Hoechst AG vor einer feindlichen
Übernahme zu schützen. Kurze Zeit nachdem dieses Aktienpaket geschnürt worden war, kam es zur ersten umfassende
Umstrukturierung: Das Unternehmen wurde in mehr als einhundert zur Kostenverantwortung verpflichteten Geschäftseinheiten aufgeteilt.
Der Fonds löste sich in dem Moment auf, als feststand, dass Hoechst und Rhone Poulenc zu Aventis verschmelzen würden.
Nach der Entflechtung der IG Farben durch die Siegermächte machte
sich die Hoechst AG sehr schnell wieder einen großen Namen unter den erfolgreichen weltweit aktiven Chemiemultis. Die
Startbedingungen waren gut. Das zentrale Werk in Frankfurt/Höchst war ohne Zerstörungen durch den Krieg gekommen (ein immer
noch ungeklärtes Geheimnis). Unschädlich für das schnelle Aufblühen der Hoechst AG war auch ihre vormals enge
Verquickung mit dem Faschismus über die IG Farben. Erster Vorsitzender der Hoechst AG wurde Professor Winnacker, ausgewiesenes
ehemaliges Mitglied der NSDAP.
Betrachtet man die ökonomischen Daten der Geschäftsberichte,
so basierte der wachsende Erfolg des Unternehmens auf folgenden Strategien: Wachsende Investitionen in Sachanlagen verbunden mit
wachsender Beschäftigung sorgten für kontinuierlich steigenden Umsatz, unabhängig von den konjunkturell schwankenden
Gewinnen. Die Produktpalette, mit der die Hoechst AG am Markt präsent war, umfasste alles, was mit Chemie zu tun hat. Das beginnt bei
Grundchemikalien wie Chlor und Natronlauge bis hin zu hoch veredelten Endprodukten wie Arzneimittel, Pestizide, Kosmetika,
Nahrungsmittelzusatzstoffe und Autolacke. Natürlich gehören auch Fasern, Folien, Kunststoffe und Kunstdünger dazu.
Industriegase, Schweißelektroden und -technik komplettierten das Warenhaus Hoechst AG.
"Portfoliobereinigung" und "Kerngeschäft"
Der Bruch dieser Entwicklung fand 1974 in direkter Folge der
Ölkrise 1971/72 statt. Die Investitionen in Sachanlagen stagnierten, der Aufbau zusätzlicher Beschäftigung stoppte. Weil der
Umsatz weiter stieg, muss davon ausgegangen werden, dass bei langsam veraltenden Anlagen immer mehr Kapital aus den Beschäftigten
geschlagen wurde.
Anfang der 80er Jahre musste das Management erkennen, dass es mit dem
ihm zur Verfügung stehenden Instrumentarium nicht mehr aus dem Unternehmen herausholen konnte.
Unternehmensberatungsfirmen wurden fester Bestandteil der Hoechst AG.
Es war die Zeit radikal wachsender Arbeitslosenzahlen. Die Unternehmer hatten ihren Propagandaschlachtruf: "Die Gewinne von heute
sind die Investitionen von morgen" in den Ring der politischen Auseinandersetzungen geworfen. Die Gewerkschaften erlagen dieser
Propaganda und beugten sich dem Primat des Kapitals.
Steigende Arbeitslosigkeit vor den Werkstoren der Hoechst AG, verbunden
mit einer Gewerkschaft IG Chemie (heute IG BCE), die sich zur Sozialabteilung des Arbeitgeberverbands reduziert hatte, sowie die
Aktivitäten von Unternehmensberatern sorgten für erste Umstrukturierungen und Schließungen von Betriebsteilen.
Zusätzlich wirkten neue Kräfte auf die Entwicklung der
Hoechst AG ein: Die EDV hielt Einzug in die Produktionen und entfaltete ihre Arbeitsplatz fressende Kraft. Vor und hinter den Toren des
Unternehmens wuchs die Kritik an den Umweltschäden, die aus der Produktionsweise bei Hoechst entstehen. Die
Kunstdüngerproduktion und eine veraltete Chlorproduktion wurden geschlossen.
Unter dem Schlagwort "sozialverträglich" begann die
Jagd auf ältere Beschäftigte. In Teilbereichen des Unternehmens konnte man "freiwillig" (?) mit 59 Jahren gehen.
1989 gab es den oben erwähnten neuen Großaktionär,
der ein Paket von 10% der Aktien hielt. Der Vorstandsvorsitzende verkündete eine neue Unternehmensstrategie. Um die Kosten in den
Griff zu bekommen, wurde das Unternehmen in mehr als einhundert kostenverantwortliche Geschäftseinheiten aufgeteilt. Erstmals traten
Begriffe wie "Portfoliobereinigung" und "Kerngeschäft" auf. Letztlich waren diese organisatorischen
Maßnahmen ein Eingeständnis des Managements, dass ihm die Kontrolle des Unternehmens aus den Händen geglitten war.
Die relevanten Investoren bei der Hoechst AG kamen zur Auffassung, dass die vom Vorstandsvorsitzenden Prof. Hilger ergriffenen strukturellen
Maßnahmen nicht geeignet waren, die Kostensituation im Sinne der Shareholder-Value-Ideologie in den Griff zu bekommen.
Der Rosenmontagsunfall 1993 im Werk Griesheim wurde zum Anlass
genommen, Prof. Hilger abzulösen und durch Jürgen Dormann zu ersetzen. Mit Dormann erreichte erstmals bei der Hoechst AG ein
Kaufmann den Vorstandsthron. Offensichtlich hatte er von den relevanten Großaktionären völlig freie Hand bekommen, den
Konzern in möglichst kurzer Zeit zu einem Unternehmen im Sinne des Shareholder Value umzubauen. Nassforsch wurde die Ideologie des
Kerngeschäfts verkündet, ohne sie klar zu benennen.
Den Tätigkeitsfeldern des Unternehmens wurden Renditeziele von
12% und mehr verordnet. Betriebe, die diese Ziele in den vorgegebenen Zeiträumen nicht erreichen konnten, standen zum Verkauf, zur
Ausgliederung in Joint Ventures, oder wurden geschlossen. Die Spekulanten und die Wirtschaftspresse jubelte: Endlich einer, der die lahme
deutsche Großchemie ordentlich aufmischte.
Eroberung des US-Pharma-Markts
Ob diese Art Unternehmenspolitik geeignet sein würde, wenigstens
mittelfristig erfolgreich zu sein, interessierte niemanden. Der öffentliche Zuspruch verführte Herrn Dormann dazu, den Mund zu
voll zu nehmen. Seine Verkündung, die Hoechst AG zur weltweiten Nummer 1 unter den Chemieunternehmen zu machen, schrumpfte bald
zur Erwartung, unter den Großen mitspielen zu dürfen, und reduzierte sich letztlich auf das Ziel, zu den drei Großen der Life-
Science-Branche (Pharma, Landwirtschaft, Tiergesundheit) zu gehören. Begleitet wurde dieses Spektakel von einer kaum noch zu
durchschauenden Folge von Verkäufen von Unternehmensteilen und Zukäufen von Firmen.
Outsourcing wurde zur Normalität; kostspielige Managementfehler,
z.B. der Einstieg in den Generikamarkt (Nachahmerarzneinen), wurden unter riesigen Verlusten rückgängig gemacht; die
Kosmetikunternehmen und die Autolacke wurden verkauft; die Industrieelektroden wurden als eigene Aktiengesellschaft abgestoßen; der
große Bereich Feinchemikalienfarben wurde gegen eine Aktienbeteiligung von 45% an Clariant abgegeben. Dieser Anteil wurde
später verkauft; der Bereich Landwirtschaft wurde in eine Mehrheitsbeteiligung an der AgreVo, einem Gemeinschaftsunternehmen mit
dem Landwirtschaftsbereich der Firma Schering, umgewandelt.
Die neuen Tochterunternehmen haben längst eine nicht mehr
übersehbare Zahl von Enkel- und Urenkelunternehmen generiert. Am Standort Frankfurt wurde innerhalb von fünf Jahren aus einer
Firma ein Sammelsurium von 36 Firmen, von denen nur einige direkt oder indirekt etwas mit der Hoechst AG zu tun haben. Das
Werksgelände wurde zum "Industriepark".
Das Kaufen und Verkaufen von Firmen hat ein Volumen von mehreren
Zehnmilliarden DM erreicht. Ob und in welcher Höhe bei diesen Verschiebungen Kapital- und Arbeitsplatzverluste entstanden sind,
müsste die Wirtschaftsordnung prüfen. Der betriebliche Beobachter hat in einem solchen Prozess natürlich nicht die
Möglichkeit, den Verlust an konkreten Arbeitsplätzen zu ermitteln. Fest steht, dass die Hoechst AG ihren Personalstand in diesem
Prozess von über 160.000 auf weit unter 100.000 reduziert hat. Mehrere zehntausend Kollegen und Kolleginnen haben zu Lasten der
Sozialkassen Vorruhestandsregelungen und Aufhebungsverträge akzeptiert.
Als einzig durchgängiges, erkennbares strategisches Managementziel
in diesem verwirrenden Prozess blieb letztlich nur, dass die Hoechst AG stärker auf dem größten weltweiten Pharmamarkt
der USA vertreten sein will. Als sich herausstellte, dass dies als Chemiemulti nicht realisierbar ist, beschränkte man sich auf den sog.
Life-Science-Bereich. Der erste Schritt war der Kauf des amerikanischen Pharma-Unternehmens Merryl-Marion-Dow für 11 Milliarden
DM. Der Erfolg blieb aus.
Auch die dann nachfolgende Totalübernahme von Roussel Uclaf
reichte nicht aus, das Ziel zu erreichen. Ob jetzt die Verschmelzung der Hoechst AG mit der französischen Firma Rhone Poulenc zu
Aventis ausreicht, die gewünschte Präsenz am US-Markt zu erreichen, wird von aufmerksamen innerbetrieblichen Beobachtern
bezweifelt. Man erwartet, dass Aventis sich einen weiteren amerikanischen Partner der Pharma-Sparte suchen und die Life-Science-Bereiche
Landwirtschaft und Tiergesundheit abstoßen wird, um sich künftig allein auf den Pharmabereich zu konzentrieren. Das Engagement
dieser Pharmafirma in Deutschland wird wohl sehr gering sein. Schon heute arbeiten von den mehr als 40.000 im Pharmabereich von Aventis
Beschäftigten nur noch 7000 in Deutschland.
Nicht nur der Name Hoechst AG verschwindet, auch der Inhalt, der hinter
diesem Namen steht.
Positiv begleitende Rolle der Gewerkschaft
In der ersten Hälfte der 70er Jahre entschied sich die IG Chemie, den
Weg der Sozialpartnerschaft konsequent zu beschreiten. Die innergewerkschaftliche Linke, die sich anfänglich dieser Entwicklung
entgegenstellte, wurde rigoros aus dem Weg geräumt. Hauptamtliche Funktionäre, die der Sozialpartnerschaft nicht folgen wollten,
mussten entweder die Gewerkschaft wechseln oder die Elastizität ihrer Wirbelsäule erhöhen. Diejenigen, die in den
Betrieben weiter gegen den Strom schwammen, wurden einfach ausgeschlossen.
Die herrschenden Vertreter der Sozialpartnerschaftsideologie verstehen
unter Mitbestimmung offensichtlich nur die Entgegennahme von Aufsichtsratstantiemen und anderen Privilegien. Gegenüber den
Entscheidungen der Hoechst-Manager wurde zu keiner Zeit auch nur Widerstand angedeutet. Selbst als bekannt wurde, dass der Kauf der
amerikanischen Pharmafirma Merryl Marion Dow 8000 Beschäftigten den Arbeitsplatz kosten würde, bezeichneten die
Sozialpartner dies als notwendiges Übel, um die verbleibenden Arbeitsplätze zu sichern.
Die Belegschaft quittierte das Verhalten der Gewerkschaft auf ihre Weise.
Kontinuierlich zerfiel ihre Bereitschaft, sich in der Gewerkschaft zu engagieren oder Mitglied zu werden. Seit 1971 ist am Standort
Höchst die Mitgliedschaft von über 35% auf etwa 20% gesunken. Seit 1981 wächst der Anteil der Belegschaft, der bereit ist,
einer linken oppositionellen Strömung bei Betriebsratswahlen ihre Stimme zu geben. Bei der letzten Betriebsratswahl 1997 im
größten Unternehmen am Standort Höchst erreichten die Listen der IG BCE knapp mehr als ein Drittel der Stimmen.
Als es zum Jahreswechsel 1997/98 wegen der geplanten
Arbeitsplatzvernichtung spontan zu heftigen selbst organisierten Protesten der Belegschaft kam, beteiligte sich die IG BCE nur widerwillig an
der Mobilisierung, um dann den Basisprotest umso sicherer abzuwürgen.
Der durch die Aktion der Belegschaft erzwungene Vertrag zur
Beschäftigungssicherung schützt die Beschäftigten zwar bis zum 31.12.2001 weitgehend vor betriebsbedingten
Kündigungen, aber bis jetzt ist bei der IG BCE keine Aktivität festzustellen, um dem entgegenzutreten, was der Arbeitgeber mit den
dann noch verbleibenden Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen machen wird. Wie bisher wird die IG BCE dem Arbeitgeber positiv
begleitend zur Seite stehen: sozialpartnerschaftlich bis zum letzten Beschäftigten.
Hans Werner Krauss