Sozialistische Zeitung |
Unternehmen in den USA erwarten mit der kommenden Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation WTO
in Seattle den "größten Handelskongress, der jemals auf US-amerikanischem Boden stattgefunden hat". Eine Superlative
versprechen sich auch die Gegner und Kritiker des Freihandels, die am 30.November die größte Demonstration in den USA seit
den Antikriegsprotesten 1968 in Chicago auf die Beine stellen wollen.
Die 1994 gegründete WTO, die sich den grenzenlosen Handel der
Waren auf ihre Fahnen geschrieben hat, ist aus vielen Gründen zum Stein des Anstoßes geworden. Gewerkschaften fürchten
einen weiteren Abbau von Arbeitsplätzen und schlechtere Arbeitsbedingungen, Umweltorganisationen kritisieren die umwelt- und
artenschädigende Streitschlichtung der WTO, Verbraucherschutzverbände sehen die Rechte der Konsumenten gefährdet,
europäische Bauernverbände bangen um ihre Subventionen und Aktivisten aus der Kampagne gegen das im letzten Jahr gescheiterte
Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) wollen vor allem eine Erweiterung der Handelsrunde um ein neues
Investitionsabkommen in der WTO verhindern.
In der Tat ist die 135 Mitglieder zählende WTO zu einem der
mächtigsten Instrumente neoliberaler Politiker und Wirtschaftsbosse auf internationalem Level geworden. Mit ihrem
Streitschlichtungsmechanismus, dem Dispute Settlement Body (DSB), kann sie Handelssanktionen gegen Mitgliedsstaaten verhängen, wie
jüngst gegen die EU, nachem diese hormonbehandeltes Rindfleisch aus den USA boykottiert hatte. Angesichts der Machtfülle haben
mehr als tausend Organisationen dazu aufgerufen, jegliche Verhandlungen einzustellen und zunächst einmal die Folgen der bisherigen
Liberalisierungsmaßnahmen im Agrar- und Dienstleistungssektor, aber auch beim Handelsabkommen über Patente (TRIPs) zu
evaluieren.
Intensive Lobbyarbeit
Das ist mit Abstand die am breitesten getragene Forderung. Ansonsten
driften die Ansichten über strategische Ziele und Methoden weit auseinander. Während Gruppen mit starkem Basisbezug schon im
Sommer begonnen haben, für "gewaltfreie, spektakuläre Aktionen" zu trainieren und so die Aufmerksamkeit der Medien
auf sich zu ziehen, setzen andere, vor allem Vertreter von finanzkräftigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus dem Norden und
Gewerkschaftsvorstände, auf intensive Lobbyarbeit. Das Direct Action Network will keine Lobbyarbeit, sondern mit seiner
"Mobilisierung gegen Globalisierung" ein "Festival des Widerstands" veranstalten, das über die Medien auf die
öffentliche Meinung einwirkt.
"Mehr als 700 NGO-Vertreter haben eine Akkreditierung
beantragt", freut sich Douglas Worth, Generalsekretär des Wirtschafts- und Industriebeirates der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). "Natürlich wissen sie, dass eine Kakophonie" - Worth meint die
grundsätzliche Gegnerschaft zur WTO und den Freihandelsprinzipien - "nicht produktiv sein kann und das Gegenteil ihres Anliegens
bewirken wird".
Worth ist nicht der einzige, den die "destruktive Natur der Attacken
auf das MAI" beeindruckt hat. Auch der neue Generaldirektor der WTO, Michael Moore, will vorbeugen und die NGOs mit einbeziehen.
Wenige Wochen vor der Konferenz der Handelsminister in Seattle hat die WTO eine Studie zum Thema Handel und Umwelt
veröffentlicht. Darin versucht sie zu belegen, dass Freihandel keinesfalls einer umweltfreundlichen Politik widerspricht, sondern sie
sogar fördert.
Win-win-Szenario
Nach Meinung der WTO lassen sich Handels- und Umweltinteressen
durchaus unter einen Hut bringen: die WTO nennt das "Win-win"-Szenario. Als Beispiel führt sie die der Fischereiwirtschaft
gewährten Subventionen von 54 Milliarden Dollar an. Deren auch aus handelspolitischer Sicht wünschenswerte Aufhebung
würde den bestehenden Überkapazitäten und dem notorischen overfishing ein rasches Ende bereiten. Zudem nehme die
ökologische Abhänigkeit der Staaten in der Welt unabhängig von ihren Handelsverbindungen zu. Nicht der freie Welthandel,
sondern vielmehr anhaltende Armut und falsche nationale Politiken seien Ursache der weltweit wachsenden Umweltprobleme. Freihandel
führe zu Reichtum der Menschheit, aus dem Reichtum entstehe das Bedürfnis nach einer sauberen Umwelt, die dann auch bezahlbar
sei, lautet das neoliberale Credo der WTO.
Das Stichwort "Seattle" wird bezeichnenderweise nirgends
genannt. Die Behauptung, dass die WTO zwar mit ihrer Politik eine "saubere Umwelt" befördere, hindert die Analysten
jedoch nicht daran, ökologisch motivierte Handelsschranken als Beispiel schlechter Umweltpolitik zu geisseln. Das entspricht der
gängigen Praxis der Streitschlichtung in der WTO, in deren Gremien Beamte aus den Handels- und Wirtschaftsministerien, sowie andere
Handelsexperten, sitzen. Sie haben bisher alle Boykottmassnahmen im Zusammenhang mit Umwelt- und Menschenrechtsverletzungen
zurückgewiesen.
International führende Wirtschaftspublikationen wie der Economist
sekundieren den WTO-Ansatz und appellieren an die Umwelt-NGOs, dass die WTO ja nicht die einzige internationale Organisation sei.
Ökologie sei ganz klar ein Fall für eine separate Organisation. Mehr als eine Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel kommt
für den Economist nicht in Frage. Statt Boykottmassnahmen einzelner Regierungen könnten dann Konsumenten entscheiden - die
Freihandelsprinzipien wären gewahrt. Die Empfehlung des Economist für die Verhandlungsrunde: "Kompromisse mit den
Grünen nur so weit, wie sie kein Risiko für die enormen Vorteile des freien Welthandels beinhalten."
Neuer Protektionismus
Nicht nur die Wirtschaftslobby des Nordens hält Umwelt- und
Sozialstandards in der WTO für falsch. Vor allem Regierungen, aber auch soziale Bewegungen, NGOs und Intellektuelle aus den
Ländern der Dritten Welt sprechen sich gegen die Behandlung von sozialen und ökologischen Fragen in der WTO aus. Sie
befürchten einen neuen Protektionismus gegenüber Waren aus der Dritten Welt. Die Befürworter der Sozial- und
Umweltklauseln in der WTO sind nach Meinung von 37 Intellektuellen, die einen Aufruf verfasst haben, in zwei Gruppen aufzuteilen.
Mächtigen Lobbyorganisationen, wie dem Internationalen Bund freier Gewerkschaften (IBFG), der von
Gewerkschaftsdachverbänden aus dem Norden dominiert wird, werfen sie vor, mit ihren Vorstössen für Kernarbeitsrechte
und Umweltstandards vor allem die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im Norden sichern zu wollen, indem die Produktionskosten
für Länder in der Dritten Welt durch soziale und ökologische Kriterien heraufgesetzt würden.
"Uneingeschränkten Beifall" verdienten andererseits die Gruppen, die aus moralischen Motiven diese Forderungen
aufstellten. Allerdings sollte es ihnen bewusst sein, dass die WTO immer unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsfähigkeit entscheide
und sich folglich immer gegen die Interessen der Dritten Welt richte, so der Aufruf.
Die WTO ist so strukturiert, dass die Länder der Dritten Welt keine
Möglichkeit haben, ihre Interessen gegenüber der mächtigen Quad-Gruppe (USA, EU, Japan und Kanada) durchzusetzen.
Vergeltungsmaßnahmen für ein Land, dass ein Schiedsurteil des DSB nicht umsetzt, ist nur für den Kläger
möglich. Die Sanktionsmöglichkeiten eines Landes aus der Dritten Welt haben aber kaum eine abschreckende Wirkung auf die USA
oder die EU. Umgekehrt tragen Handelssanktionen gegen die Dritte Welt nicht dazu bei, dort die Sozial- und Umweltbedingungen zu verbessern,
die vor allem auch Ausdruck einer ökonomisch prekären Situation sind.
Den Gleichheitsgrundsatz, der sich im Prinzip "ein Land - eine
Stimme" der WTO ausdrückt, gibt es nicht. Die hohe Verschuldung der Länder der Dritten Welt, kombiniert mit der
Zinspolitik der reichen Staaten und der Geschäftspraxis von Transnationalen Konzernen aus den G7-Ländern ist ein Teufelskreis,
der durch die WTO gestützt wird.
Einige Regierungen aus den Commonwealth-Staaten haben
angekündigt, das Thema Verschuldung in Seattle auf die Tagesordnung setzen zu wollen. Und Aktivisten des Direct Action Network
haben bereits unterstrichen, dass das Scheitern der WTO-Verhandlungen nur ein Etappenziel sein kann. Das Ziel erscheint einigen wegen der
eklatanten Widersprüche innerhalb der WTO erreichbar. Und wegen des eigenen Mobilisierungspotenzials, zu dem Gruppen aus dem
kirchlichen Umfeld, etablierte Verbraucherverbände, zahlreiche Delegationen aus dem Ausland und Einzelgewerkschaften aus den USA,
die nicht ausschließlich die IBFG-Linie unterstützen, gehören. "Was sollen wir dann tun?", so die rhetorische
Frage eines Sprechers, deren Antwort er gleich hinterherschiebt: "Wir sollten dann bis zum Herz der Bestie vorstoßen, den
Kapitalismus selbst." Den Anfang machten am 16.November mehr als zwei dutzend Aktivisten, die sich während einer
Führung durch das WTO-Hauptquartier in Genf in der Haupthalle anketteten und das Dach besetzten. Ihre Forderung: "Enteignet die
Enteigner!"
Gerhard Klas
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