Sozialistische Zeitung |
Der internationale Handel gilt für den Neoliberalismus als Motor von Wachstum und Fortschritt. Ganz
oben auf der Tagesordnung steht deshalb, die politischen, vor allem sozialen Regulierungen, die dem idealistischen Bild vom
"Freihandel" im Wege stehen zu reduzieren oder ganz abzuschaffen. Damit jedoch keine Missverständnisse aufkommen,
Deregulierung und Liberalisierung des Welthandels bedeutet nicht Freiheit für alle, sondern ist die Regulierung des Handels durch
Unternehmen, Banken und Fonds bzw. die Gestaltung nach ihren Wünschen.
Regional gesehen ist Europa einer der Hauptakteure im Spiel, das unter
dem Markennamen Globalisierung die politische Diskussion der letzten Jahre bestimmt. Mit einem Anteil von ca. 20% an den gesamten
weltweiten Exporten und einem Binnenmarkt mit 320 Millionen Menschen, tritt die EU als ökonomisches Schwergewicht in den Ring.
Gewinner der weltweiten Deregulierung und Liberalisierung waren vor allem europäische Unternehmen. Diese Spitzenposition soll
gesichert, wenn möglich ausgebaut werden. Die europäische Außenwirtschaftspolitik entspricht diesen Anforderungen, so
wie die europäische Sicherheitspolitik der militärischen Absicherung des "eigenen" Reichtums dient.
Dabei gibt es Widersprüche und Konflikte. So steht z.B. die
Agrarlobby der weiteren Marktöffnung ablehnend gegenüber, während es den Banken und Finanzdienstleistern nicht schnell
genug gehen kann. Trotzdem gehört die EU zu den energischsten Befürwortern weiterer Handelsliberalisierungen, wie sie auf der
kommenden WTO-Runde in Seattle beschlossen werden könnten. Nach Ansicht der EU-Kommission, die bereits im Sommer einen
Entwurf für das gemeinsame Verhandlungsmandat vorlegte, sollte eine umfassende, auf drei Jahre angelegte Runde zur weiteren
Liberalisierung und Deregulierung des Welthandels beginnen. EU-Kommissar Lamy ist mit der Verhandlungsführung beauftragt. Seine
Zielrichtung lautet: Die Handelsliberalisierung ist beschlossene Sache. Einige Klauseln zum Schutz kultureller Vielfalt, zum Vorsorgeprinzip
und zum Dialog mit der Internationalen Arbeitsorganisation über soziale Mindeststandards müssen schon sein. Alles wie gehabt:
Freihandel bleibt die Regel, Einschränkungen die Ausnahme.
Wohlstand für die ganze Welt
Das Verhandlungsmandat ist durchdrungen vom Glauben, dass weitere
Liberalisierung für alle Vorteile bringt. Nun funktioniert Kapitalismus aber nicht so. Permanente Exportüberschüsse eines
Landes (oder der EU insgesamt) bedeuten in anderen Ländern und für Konkurrenten häufig Einfuhrüberschüsse
bzw. Niederlagen. Unternehmen werden verdrängt. Weitere Fusionen mit Stellenabbau und Einschränkungen der
Arbeitnehmerrechte, Umverteilung zu Gunsten der Gewinne und eine generelle Wachstumsschwäche bei hohem Rationalisierungsdruck
sind das Ergebnis.
Laut Weltentwicklungsbericht 1999 des UNDP bedient die Gruppe der
Industrieländer 82% der Weltmärkte und vereinigt auf sich 68% der Direktinvestitionen. Der Einkommensunterschied zwischen
dem reichsten und dem ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung wuchs von 30:1 (1960) auf 74:1 (1997). Der Marktanteil der
zehn größten Konzerne betrug 1998 im Bereich Telekommunikation 86%, Pestizide 85%, Computer 70%, Veterinärmedizin
60%, Pharmazie 35% und Saatgut 32%. Daneben hielten Unternehmen in den Industrieländern 97% aller weltweiten Patente.
Nicht nur die ungleiche Verteilung zwischen den Ländern
wächst, sondern auch die zwischen reich und arm in den Ländern selbst. Die Kluft zwischen qualifizierten und unqualifizierten
Beschäftigten nimmt weltweit zu. Die internationale Arbeitsteilung führt zu niedrigeren Löhnen, einer geringeren sozialen
Sicherung und dem Abbau gewerkschaftlicher Rechte. Die Rückflüsse aus Gewinnen und Vermögen explodieren hingegen.
Sack voll Überraschungen
Neben der Weiterverhandlung und Überprüfung alter Aspekte
aus der Uruguay-Runde des GATT sollen trotzdem unbedingt neue Themen verhandelt werden: Wettbewerbsfragen, die Liberalisierung von
Dienstleistung (Gesundheit, Bildung, Kultur, Finanzen), das öffentliche Beschaffungswesen (Ausschreibung und Auftragsvergabe), der
Investitionsschutz, der Umweltschutz (Gen-Food), der Schutz geistigen Eigentums (Patentierung), die Verankerung sozialer- und
gewerkschaftlicher Standards etc. Alles in allem eine lange Wunschliste, die eine kritische Auseinandersetzung erschwert. Nicht nur die
Öffentlichkeit blickt dabei nicht mehr durch, sondern auch in der WTO gibt es damit große Probleme.
So erfordert die hohe Zahl der gleichzeitigen Verhandlungen zu einzelnen
Sachgebieten und deren Komplexität entsprechend gutes Personal und technische Voraussetzungen. Viele Entwicklungsländer
verfügen jedoch nicht darüber. Allein daran wird deutlich, dass die internationale ökonomische Ungleichheit nicht durch die
formale Abstimmungsgleichheit in der WTO aufgehoben werden kann. Selbst die EU-Kommission schreibt, dass das bisherige Tempo der
Liberalisierung viele Länder überfordert hat und dass die Umsetzung der Beschlüsse der Uruguay-Runde noch nicht
abgeschlossen ist. Daneben sind die sozialen, politischen und ökologischen Wirkungen der vergangenen Liberalisierungsrunden bisher
nicht ausreichend behandelt worden. Auch in Europa wird zunehmend darüber diskutiert, wie sich die Globalisierung auf die
Beschäftigung, die Vermögensverteilung, die Entwicklung, die Umwelt, den Gesundheits- und Verbraucherschutz, sowie die
kulturelle Vielfalt auswirkt. Diskutieren kann man ja, Konsequenzen ergeben sich daraus aber nicht. Bezeichnend ist, dass ein erster Bericht zu
diesen Fragen der EU-Kommission erst Ende 1999 vorliegen wird, also nach der Tagung in Seattle.
Ansammlung von Widersprüchen
Als eine Ansammlung von Widersprüchen und einer langen Liste von
Forderungen, könnte man das EU-Mandat auf den ersten Blick bezeichnen. Es müssen eben eine Vielzahl von ökonomischen
Interessen bedient werden. Entscheidend ist aber die Strategie, die damit verbunden ist:
Zum einen haben die jüngsten Krisen in Asien, Russland und
Lateinamerika ihre intellektuellen Spuren hinterlassen. Aus ist der Traum von einem krisenfreien globalen Kapitalismus. Die einfache
Gleichung, durch Deregulierung, Liberalisierung und Exportsteigerung weltweit Wohlstand zu schaffen, die Kluft zwischen Arm und Reich zu
vermindern und Entwicklungsmöglichkeiten für alle Länder zu eröffnen, geht zwar schon lange nicht mehr auf. Aber
erst durch die drohende Weltwirtschaftskrise ist dies ins Bewusstsein der herrschenden politischen Klasse gelangt. Am Ende des
20.Jahrhunderts stößt die Globalisierung an ihre Grenzen. Hierauf wurde reagiert. Neben den üblichen wirtschaftsliberalen
Forderungen steht deshalb die Forderung, nach einer nachhaltigen Entwicklung und dem Aufbau stabiler sozialer und rechtlicher Bedingungen.
Zum anderen sind unterschiedliche ökonomische Interessen zu
berücksichtigen. Man ist auf der einen Seite für Liberalisierung, aber nicht im Agrarbereich. Hier wird die
Multifunktionalität der Landwirtschaft herangezogen, um die Subventionierung beizubehalten. Auch die Dienstleistungsliberalisierung
wird angestrebt, aber in den Bereichen Kultur, Bildung und Gesundheitswesen gibt es Widerstände in der EU. Daneben musste der
kritischen Öffentlichkeit entgegengekommen werden. Aus dem Scheitern des MAI wurde deshalb die Konsequenz gezogen, in die
Diskussion um das EU-Mandat und bei den WTO-Verhandlungen einige Nichtregierungsorganisationen "einzubinden." Das
minimiert grundsätzliche Kritik und dient zur Diskreditierung sozialer Proteste, die außerhalb der normalen Kontaktaufnahme
zwischen Politik und Zivilgesellschaft liegen. Vertrauensbildung und die Vermittlung eines sicheren Gefühls für die interessierte
Öffentlichkeit, dass ihre Belange berücksichtigt werden ist das generelle Ziel. Mit der Forderung nach der Durchsetzung
international gültige sozialer und gewerkschaftlicher Standards und der angestrebten Aufwertung der Internationalen Arbeitsorganisation
sind auch originäre Gewerkschaftsforderungen aufgenommen. Auch von dieser Seite ist deshalb nur wenig Druck zu erwarten.
Verfolgt man das Ringen zwischen den Verhandlungsführern in Genf,
wie denn nun die Tagesordnung in Seattle aussehen soll, so ergeben sich durch die Fülle der Agenda des EU-Mandats strategische
Vorteile. Die EU wird z.B. nicht darum herum kommen, Zugeständnisse in der Landwirtschaft zu machen. Kompensiert werden soll dies
durch die Öffnung der Märkte für Dienstleistungen, vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländer. Andere
Bestandteile, z.B. Sozialstandards sind in der WTO so umstritten, dass sie als Zeichen des guten Willens im richtigen Moment ganz gestrichen
werden können. So wird es wohl den meisten der "fortschrittlichen" Themen gehen. Am Ende kann man wenigstens darauf
pochen, dass man es versucht hat.
Noch ist aber kaum klar, ob es überhaupt eine umfassende
dreijährige Verhandlungsrunde geben wird. Denn die Konflikte zwischen den Wirtschaftsblöcken sind so groß, dass in Genf
noch keine gemeinsame Tagesordnung verabschiedet wurde. Trotzdem kommt man nicht um eine verstärkte Auseinandersetzung mit
weltwirtschaftlichen Fragen herum. Denn das Glaubensbekenntnis des Freihandels bestimmt auch im EU-Mandat die Zielrichtung der
Diskussion über die Weltwirtschaft: "Wie die Finanz- und Wirtschaftskrise gezeigt hat, muss nicht weniger, sondern mehr und
gezielter liberalisiert werden, wenn das Wirtschaftswachstum wieder in Gang gebracht werden soll."
Kritik sollte dabei über die reine Beschäftigung mit der WTO
als Institution hinausgehen. Natürlich ist sie undemokratisch, die Entscheidungen sind intransparent und die ökonomisch Starken
bestimmen die Richtung. Aber selbst wenn es die WTO als Institution nicht mehr geben würde, gebe es weiter die ökonomische
Marginalisierung. Notwendig ist deshalb eine Debatte über die grundsätzliche Alternative zum Kapitalismus und die Funktion des
Handels.
Christian Christen
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